»Immer wieder werden wir mit der Ansicht bombardiert, wonach die Welt, die wir einst kannten, am 11. September 2001 ihr Ende fand«, schrieb Wole Soyinka in »Klima der Angst«; und wir sollten uns erinnern: Wer Angst sät, will Macht ernten.
… nein, die Welt, die wir kennen, fand kein Ende. Nicht 2001, auch nicht 2015. Und auch nicht, wenn Frankreich nach Artikel 15 die Menschenrechtskonvention aussetzt, weil ›das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht‹ ist. Daran ändert auch kein weltweiter ›Travel Alert‹ für US-Bürger etwas; keine Türkei-Reisewarnung für Russen. Die uns bekannte Welt endet nicht durch höchste Terrorwarnstufen in Brüssel, Ausnahmezustände in Tunis, in Frankreich. Die Welt, wie wir sie kennen und wollen, findet kein Ende; terroristische Akte gab’s und gibt es. Wer noch zweifelt, ziehe Camus’ »Der Mensch in der Revolte« heran.
Der Fanatismus ist ein kalter Krieg, und wie einst ist der Mensch voller Angst. Sie steigt hoch, verdichtet sich – wird zum alles beherrschenden Lebensgefühl, wird sie einem instrumentalisiert. Die Angst, nicht die Furcht. Das zu differenzieren ist nicht Haarspalterei. Furcht meint die Reaktion auf ein konkretes Ereignis. Angst hingegen bleibt diffus, wie der flüchtige Gestank einer Flatulenz. Dabei haben beide, Furcht wie Angst, mit Adrenalin zu tun, wobei dieser Botenstoff Flucht auslösen sollte. Heute führt er meist nur noch zur Hyperventilation. Was auch den Reden der Politiker anzumerken ist: Kurzatmung, ohne eine andere Botschaft denn demjenigen Muskelspiel der Angstmache.
Barack Obama sagte nach den Anschlägen von Paris: ›Wir sind nicht ängstlich.‹, und meinte damit, wir mögen keine Angst haben – er persönlich braucht es sicher nicht, dafür sorgen Security und Bataillone. Weltweit bitte er um dieses Signal: Es sei absolut wichtig, dass jedes Land signalisiere, die Bösartigkeit einer Handvoll Mörder halte die Welt nicht davon ab, wichtigen Geschäften nachzugehen.
Wenige Stunden später folgte seitens des U.S. State Departements ein ›Travel Alert‹, gleichfalls weltweit; wenn auch mit Ablaufdatum.
Divergierende Botschaften sind wahrhaftig ausgezeichnete Schürhaken der Angst; und ›Travel Alerts‹ sind keine Reisewarnungen, sondern der dezidierte Aufruf zur Wachsamkeit:
Man blicke argwöhnisch um sich, halte Ausschau nach dem Bösen und sich selbst fern im Angesicht unbekannter Menschen, während man wichtigen Geschäften der Tagesordnung nachgeht: Die Wirtschaft ist heilig; worin die Gewinnspanne und nachwachsender Bedarf am höchsten ist, wird investiert, schließlich muss jede Nation von etwas leben: Die einen vom Öl, die anderen vom Panzerkleid … Um sicherzugehen werden wir ein wenig belauscht – aber keine Angst! das geschieht gewiss nur zu unserer eigenen Sicherheit.
Das ist zutiefst amerikanisch, und was die Amis sagen, muss richtig, recht und rechts sein, wenn konservative Demokraten dort schon als Linke gelten, im home of the brave. Und Europa trottet, brave Herde, hinterdrein, ohne Aufschrei oder Haltung.
Eine Begegnung mit der Welt, sagt man uns nun, sollte gemieden werden. Misstrauen gegenüber allem und allen. Damit lässt sich im Laufe der Zeit vieles legitimieren. Weitaus mehr als nur Festungsbauten, Eiserne Vorhänge, rasiermesserscharfer NATO-Draht. Wer wird dahinter Taktik vermuten, außer ein paar ›böse‹ Russen? Wer ein System, außer vielleicht einer Literatin?
Lieber halten wir uns an proklamierte Devisen: Die werden’s schon wissen. Und schließen hastig unsere Türen. Verbarrikadiert in vier Wänden: Dank sei der selbstlosen militärischen Familie, welche die Welt sichert, – uns klappert ohnedies nur der Kiefer … –
»Und der Haifisch, der hat Zähne / und die trägt er im Gesicht / und Macheath, der hat ein Messer, / doch das Messer sieht man nicht. // Ach, es sind des Haifischs Flossen / Rot, wenn dieser Blut vergiesst! / Mackie Messer trägt 'nen Handschuh / Drauf man keine Untat liest.«
–… und während die einen mit blutigroten Handschuhen als Siegestrophäen winken, wechseln andere den befleckten in stetiger Scheinheiligkeit gegen einen neuen aus. Derweilen zeigt die Exekutive die geforderte Stehpräsenz, breitbeinig wird gestiefelt, mancherorts mit automatischen Schnellfeuerwaffen, damit die Herde sich in Sicherheit wiege. Die jedoch fürchtet viel mehr nur eines: den mahnenden Schnappbiss der Hunde, weiter als bis zu deren starrer Rute reicht der Herdenblick nicht.
Und Geschürte Angst in unsicheren Zeiten wird gerne Furcht:
»Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.«, schreibt Elias Canetti als ersten Satz in »Masse und Macht«. ›Fürchten‹, nicht ›ängstigen‹, weil es darin um eine akute Konfrontation geht. Dahinter aber steht die geschürte Angst schon bereit. Lange vor der Berührung. Es ist die Angst vor einem Angriff durch Fremde, der nur zu entgehen ist, wenn man sich einfügt, in die Masse, in der alle gleich sind. Dafür gibt man gerne alle individuelle Persönlichkeit auf, Verbote und Normen sind plötzlich wunderbar zu legitimieren: Alles dient ja nur dem Schutz. Und die Macht will Dauer. Die Macht will dauerhafte Angst. Eingeschworen auf die Angst lässt sich die Masse herrlich lenken. Sie denkt nicht mehr, sie fragt nicht mehr, sie ist eine Herde Schafe, die brav blökt. Und währenddessen ziehen die Herrchen Raubvögelbahnen, in allen Köpfen ist Ruh …
Nein, wir müssen uns nicht ängstigen. Wir werden auch kaum benutzt. Wir werden nur ein klein wenig für dumm verkauft, und der Stuss in Foren und Medien, Schwarz auf Weiß, ist tausendprozentig wahr: Jede Schlagzeile, jedes Bild, jeder Beweis – für wessen Sache auch immer. Und Politiker/innen waren niemals Gauner. Kann doch bittschön nicht ihre Verantwortlichkeit sein, dass Angst so gerne kumuliert, eine metastasierende, unscharfe Geschwulst. Das lässt sich erstklassig zum zwanghaften Verengen aller Blickrichtungen nutzen: Angst, sagt man uns, verliere nur, wer sich einfüge, in die Herdenmasse, sonst drohe vielleicht dies oder das, lieber lammfromm, lieber zahm, wer wisse schon, wer kenne schon die Konsequenz für selber denken …
War da nicht eine Zeile, die hieß ›der Kopf ist nicht so groß, damit der Hut passt‹? War da nicht eine Zeile, die hieß ›wer Angst sät, will Macht ernten‹?