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Immer wieder am Anfang oder die Kunst des Scheiterns

Ich wurde ersucht, im Rahmen eines Vortrages meine Poetik, mein Werk und meine persönliche Vision literarischer Schöpfung darzulegen. Auf den ersten Blick dünkt es, nichts sei leichter als das. Auf den zweiten hingegen zerfranst sich der rote Faden, den ich in der Hand zu halten meinte, zerfasert sich in einzelne Stränge, die nunmehr nebeneinander am Tisch liegen, sie ziehen Schleifen, ufern aus und führen doch alle wieder zurück, verharren in einer Parallele bevor sie erneut aufbrechen …

Acht Romane, zwei Bände mit Erzählungen, drei Sachbücher, eines davon spezifisch zum Thema literarischer Werdegang, die anderen zur HerStory, vier herausgegebene Anthologien, zahllose Kurzgeschichten und Essays verstreut in nationalen und internationalen Medien – zwanzig Jahre Arbeit,  siebzehn davon als freiberufliche Literatin, siebzehn als Dozentin für Literarisches Schreiben. Ich vermerke dies nicht, um Sie zu beeindrucken, ja, nicht einmal um mich Ihnen vorzustellen, denn ich nehme an, da Sie hier sitzen, haben Sie sich vorab informiert, ob dieser Vortrag denn Ihr Interesse lohne oder nicht. Nein, ich notiere es mir selbst, um mich zu überzeugen, dass diese Publikationsliste ein Sprechen über meine Poetik legitimiert – erstens; zweitens bedarf es einer allmählichen Annäherung an den hierfür erforderlichen rückwärts gewandten Blick; drittens eine Idee zur Lösung des Problems wie zwanzig Jahre und die Frage, was bewegte und entstand während dieser Zeit, irgend unter einen Hut zu bringen sein könnte, die den zeitlichen Rahmen nicht sprengt.

 

… »was bitte machen Sie hier?«…

 

Vor vielen Jahren, 2003 um genau zu sein, freute ich mich, zur Teilnahme an der sogenannten ›Häschenschule‹ ausgewählt worden zu sein. Diese findet in Form von Tutoriumsgesprächen im Vorfeld des wichtigsten österreichischen Literaturpreises, der »Tage der deutschsprachigen Literatur«, vulgo nach wie vor »Bachmannpreis« in Klagenfurt, also im südlichsten Bundesland Österreichs, statt.  Aus alljährlich einigen hundert Einsendungen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz werden eine Handvoll hoffnungsfroher Kandidat/innen ausgewählt, denen man zutraut, dass sie fürderhin in der Literaturszene reüssieren könnten. Teil dieser Auszeichnung ist auch ein kostenfreier Besuch des Duells der ›Großen‹ vor Publikum, tausendfach vervielfältigt durch das Auge der Fernsehkameras. Mein erstes Tutoriumsgespräch: Ich betrat den Raum, setzte mich, meinen Text zur Besprechung hastig auf der Tischplatte ablegend, auf dass die mir gegenübersitzende Autorin nicht bemerke, dass mir die Hand zittere. Sie blätterte in ihrer Kopie, gleichsam auf dem Tisch liegend, schloss ihr Exemplar mit Nachdruck, sah hoch, mich an und sagte:  »Marlen Schachinger, Sie sind eine etablierte Literatin – was bitte machen Sie hier? Unter all den Anfängern, in der ›Häschenschule‹?« 

Abends gab ich diese Losung am Telephon nach Hause durch, bei meiner Rückkehr hatten meine Freunde sie mir über den Schreibtisch gepinnt, auf dass ich nie mehr vergessen solle, wie mein Innen- vom Außenblick differiere. Doch nicht nur diese Stütze meiner Wirbel gab mir jene Literatin mit auf den Weg. Als ich sie, allen Mut zusammennehmend und durchaus mit Chuzpe fragte, Gesetz des Falles, es sei so, und man könne mich ›etabliert‹ nennen, würde sie denn solches über sich selbst sagen? Und Eleonore Frey, denn just jene Schweizer Kollegin saß mir gegenüber, hatte die innere Größe zu antworten: Nein, auch sie selbst müsse sich stets aufs Neue ermahnen, ihr Schreiben so zu sehen, jenseits aller inneren Zweifel und Konflikte.

Warum ich Ihnen dies erzähle?

Einerseits weil es ein Flutlicht auf unsere Arbeit wirft, es zudem in unserer Lebenssituation innerhalb der Gesellschaft sowie der Literaturszene – insbesondere als Frau – begründet liegt, durchaus auch mit dementsprechenden beruflichen wie privaten Konsequenzen, und es andererseits auch mit der Schreibmotivation zusammenhängt, es zudem … – nein, alles der Reihe nach:

 

… immer wieder anfangen …

 

Mir ist jedes Werk das erste. Nicht nur weil jeder Roman neu begonnen zu werden hat, sein eigenes Erzähluniversum etabliert werden muss, sein Klangraum, sein Ton gesucht, sein Figureninventar gefunden, sondern auch weil jeder mit  einer Emotion beginnt: Leidenschaft. Aus dem Ideenkeim, der geprüft wird, entwickelt sich allmählich das Faszinosum; im Stillen, im Schweigen, im Notieren und Beobachten, Wahrnehmen und Recherchieren das jeweilige Erzähluniversum: meine Welt. Im Buch der Bücher steht, Gott erschuf die Welt in sieben Tagen. Ich brauche etwas länger. Ist sie jedoch gefunden, diese Welt, und hält sie, was sie im ersten Betreten versprach, geschieht Erstaunliches. Lassen Sie es mich Ihnen anhand von »Albors Asche« illustrieren: Das Antiquariat, welches ich aufsuche, um Regen zu entfliehen, beschert meinem absichtslosen Stöbern just eine bizarre Chronik; in der Straßenbahn liefern mir zwei Fremde einen Baustein, der mich zu Heraklit führt:  »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.«; in Krumlov erzählt mir einer von der Umwidmung eines Sakralbaus auf der gegenüberliegenden Seite der Moldau in Wohnungen und ebenda hält meine Tochter versonnen einen Vortrag über den außerordentlichen Vorzug von Fensterbänken; ein Bekannter bringt mir von einer Reise Zimtrinde mit und erzählt von einer Kirche, die er besuchte, und die gänzlich aus Holz errichtet wurde; zufällig arbeite ich mit einer Kollegin zusammen, deren Hauptberuf sich der Schmetterlingsforschung widmet. Baustein fügt sich auf Baustein, und der Roman rund um Valerian, der seit 21 Jahren, drei Monaten und sechs Tagen sein Zimmer nicht verlassen hat, da er nicht verhindern konnte, dass drei Söhne mächtiger Männer seine Freundin aufgrund ihrer sexuellen Verweigerung ermordeten, nimmt Gestalt an. Von der Fensterbank beobachtet Valerian seither alles Geschehen in der Kleinstadt und hält in seiner Chronik fest, was geschieht. So bemerkt er auch die Ankunft Pastoras, einer Frau mit bodenlangem roten Haar, die aus dem Fluss kommt und in die leerstehende Kirche am Hauptplatz einzieht. Doch in Albor wird Andersartigkeit nicht geschätzt, bald schon nimmt man ihr in einem Tribunal das Haar, fordert sie zur Eingliederung auf oder es werde ihr ergehen wie jener Frau, die über Nacht verschwand …

Dieses Phänomen, dass plötzlich die gesamte Umgebung unaufgefordert zum entstehenden Werk beiträgt, ein Faktum, das absonderlich klingt und dennoch nichts Auffallendes ist, nennen wir Wahrnehmungsfokussierung. Setzt diese ein, nährt sie das Faszinosum, und die ersten 40–50 Seiten wachsen aus sich selbst heraus auf dem Bildschirm meines Laptops. Ich beginne mit den Figuren zu leben, stehe als Valerian am Fenster, schlendere als Luca durch die Stadt, stapfe als Mona in den Garten, murmle in ihren Stimmen vor mich hin: Ich inkorporiere, bin während des Schreibaktes nicht mehr ich, sondern sie. Bis es bröselt, vielleicht sogar stockt. Dann ist ein Innehalten gefordert. Ein In-Frage-stellen: Kenne ich meine Protagonist/innen gut genug? Sind sie mir vertraut? Ist der Ton, der Klangraum stimmig? Mit welchen Strukturelementen stelle ich dar – wäre nicht eine andere perspektivische Ausgestaltung sinnvoller? Wo sind Wechsel anzusetzen? Benötige ich chinesische Kästchen, kommunizierende Röhren, welche Rolle spielen Erzählräume,? Die fiktiv-realen Orte, kann ich sie sehen? Und welche Figur erhält wie viel Spielraum? Wie verhält es sich mit der Zeit? Will ich diese Geschichte wirklich achronologisch erzählen?, oder doch chronologisch? – weil just jene Ausgestaltung der zeit das Erzähluniversum besser stützen würde. Wo bedarf es der Rückblenden, der Vorgriffe und wie sollen diese ausgestaltet werden? Als gemütliches Zurücklehnen im Erzählsessel? Als hastig geschlungene Schlinge, die den Atem nimmt? Welch tausende Varianten ließen sich noch erdenken? Hält der Spannungsbogen, tragen die Figuren …? 

All diese Überlegungen, Skizzen, Photos, Querverweise, Zitate und Figurenporträts wandern auf ein riesiges Plakat: der Bauplan entwickelt sich. Er wird Halt geben, während der nächsten Wochen und Monate, wird sicherstellen, dass auch eine längere erzwungene Schreibpause mich nicht aus dem Takt werfen kann, weil ein Blick nach links vom Schreibtisch auf diese Fläche mich wieder orientiert: Dies ist das nächste Kapitel, so und so geht es weiter. Dass alle Pläne und Regeln dazu da sind, möglicherweise – und begründet – auch über den Haufen geworfen zu werden, sei hier nur ergänzend erwähnt. 

Während des Schreibens schweigt alle Angst. Ich schreibe fließend. Wörter, Klangräume, die nicht stimmig sind, Fragen, die entstehen, werden sich lösen. Irgendwann, danach. Ich weiß das. Ich weiß es, wenn ich im Fluss bin. Diese Stunde sind nur dem Fabulieren gewidmet; fern des Schreibraums ›Arbeitstisch‹ halten – leise, dennoch gleichwohl – Reflexionen bereits Einzug. Sie kommen während des Kochens, der Gartenarbeit, während meiner Spaziergänge, inmitten von Menschen, irgendwo – das Notizbuch (zur Not auch mein Mobiltelephon) wird zum geliebten und wertvollen Begleiter.

Die Korrekturen hingegen, in Begleitung der inneren Kritikerin und ihrer ewig nörgelnden, mahnenden, strengen Stimme, kommen erst zu anderen Zeiten und an anderen Orten; nicht am Schreibtisch. Nicht mit Blick auf den Bildschirm. Sie bedürfen des Ausdrucks, der Füllfeder, und situieren sich an allen anderen Lokalitäten, sei es Zuhause, im Zug oder im Café. Nichts fließt dann, Langsamkeit wird eingemahnt, der genaue Blick.

 

Und dieses Mal: schöner scheitern als je zuvor …

 

Mit jedem Werk wieder am Anfang, die Angst des Scheiterns im Nacken, die Erzählwelt ausgestalten, eine vorläufige Erstfassung erarbeiten, sie ruhen lassen. Anderes schreiben. Um zurückzukehren: bearbeiten, reflektieren, umformulieren, neu schreiben, wieder prüfen, korrigieren – tausendmal, laut lesend, es auf Tonband sprechend, die Aufnahme abhörend, jeden Missklang beseitigen, die Spannung prüfen, das Figureninventar durchleuchten, das erste Kapitel zum siebten Mal verfassen … – ja, der Feinschliff braucht Zeit. Meistens mehr als heutige Verlagsverträge einräumen. Famos, hat man eine Lektorin an seiner Seite, mit der es sich währenddessen herrlich streiten lässt; die auch dann, wenn alle eigene Kraft schon beinahe verflossen, aufgebraucht, noch fordert und den Ärger über die ›Zumutung‹, die sie in Persona darstellt, stoisch erträgt, die Verzweiflung besänftigt, um im nächsten Atemzug die Reitpeitsche erneut zu schwingen. 

Oh, würde ich doch in Verhältnissen leben, wo es mir gestattet wäre, mein Leben lang am Feinschliff eines Mammutwerkes in Ruhe zu feilen. Der deutsche Schriftsteller Otto Ludwig schrieb sein Leben lang an einem Stoff (»Agnes Bernauerin«), ebenso sein portugiesischer Kollege Fernando Pessoa, Tolstoi schrieb seine Romane zumindest vier bis fünf Mal komplett um. Diese Zeiten sind leider vorbei. Schon wird seitens des Verlegers auf Abgabe gedrängt, der freigehaltene Zeitraum in der Druckerei naht – und jede Trennung schmerzt.

Irgendwann einmal werde ich eine Ausstellung anregen: die Leseexemplare der Literat/innen mit ihren tausend Hinweisen, mit Bleistift im gedruckten Buch vorgenommen, zur Lesart im Vortrag, zu nachträglich noch eingefügten Korrekturen, hier ein Wort gestrichen, dort eines ergänzt – nein, die Arbeit am Text würde mir nie enden. Wegen meines Perfektionismuses? Nicht nur. Es hat auch noch einen anderen Grund; der liegt nicht in der Angst vor Kritik. Meine Angst keimt im Wissen, dass zwischen dem inneren Bild und dem letztlich realisierten Werk ein Riss klafft; und darin liegt zugleich ein Trost. Und die Motivation ein weiteres Erzählwerk zu gestalten, schon beginnt es, sich zu formen, angeregt durch ein Bild, das ich auf einer Plakatfläche sah, einen Satz, den ich in der Beschreibung eines technischen Gerätes las oder durch jenen Teilaspekt der philosophischen Fragestellung, der im vorherigen Roman letztlich doch keinen Platz fand, er mahnt sich nun ein, will ausgestaltet werden – erzählen könnte dies ein Mann namens Bertram, Kunsttischler, sein erster Satz sollte bereits einem Sprung ins Thema gleichkommen, könnte sich jedoch perspektivisch noch maskieren … mal sehen, einen Versuch ist es wert … Schon fliegen die Finger über die Buchstabenklaviatur, streicheln manchmal sanft die Tasten, liebkosen im Nachsinnen verharrend, auf der Leertaste gewichtslos ruhend, bevor sie erneut ihr Stakkato beginnen, sich zu Wörtern und Sätzen fügen, Wasser will fließen, in Kaskaden, in Strömen bis jener Punkt erreicht werden wird, an dem es langsam nur noch plätschert. Stockt. Innehalten. Einen Bauplan erstellen … – und alles beginnt von Neuem: Man steigt wahrlich nie zweimal in den gleichen Fluss … Ja, es ist ein anderes Erzähluniversum, in welches einen dieses Abenteuer führen wird: Trägt der Boden, halten die Figuren ihr Versprechen … Selbst als etablierte Literatin verliert sich die Sorge nicht, sie ist nicht panisch, eine ruhige Reflexion vielmehr, denn im Hintergrund das Wissen: Du hast immer geschrieben, du wirst auch jetzt nicht scheitern, du wirst Ideen haben, wirst gestalten, darstellen, du würdest dir ohnedies keine Schreibblockade leisten können.