Oder: Weshalb man sich mancher Werke bloß mit dem Adjektiv ›nett‹ erinnert, während James Joyce, Thomas Mann und Virginia Woolf im Gedächtnis bleiben
Sie sind mal wieder en vogue, die Herren, die schreiben wollen, meist nicht können oder zumindest kein Ende ihrer Erzählungen finden; sie tummeln und lümmeln sich auf der Kinoleinwand und in Buchseiten. Besonders der amerikanische Film entdeckte in diesem Jahrzehnt erneut den Literaten als Figur, die ordnungsgemäß dramatisch mit sich zu ringen hat.
Weniger häufig: die mit sich kämpfende Literatin. Dafür um so empfehlenswerter: Emma Thompson als misanthropische und bis zur Selbstaufgabe ihre Figuren inkorporierende Autorin in »Stranger than Fiction« unter der Regie von Marc Forster.
Schwer vorstellbar, sie wäre ein Er.
Ebenso wenig dünkt ein Rollenumtausch in »Mother!« möglich, in welchem – unter der Regie von Darren Aronofsky, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete – Javier Bardem den zwischen Publikumsansprüchen und Schreibwunsch zerrissenen Schriftsteller und Jennifer Lawrence seine Ehefrau mimt – in Wahrheit jedoch verbirgt sich hinter jener Frau an seiner Seite weitaus mehr: die Allegorie der Muse, des Ideenkeims, der in der umgebenden ›mütterlich-nährenden Natur‹ liegt und gehütet zu werden hat …
Doch beginnen wir unsere Geschichte am Anfang zu erzählen:
Der Künstlerroman, als eine spezielle Form des Bildungsromans, hat seinen Ursprung in der Frühromantik, was jede/n, der oder die sich mit jener Epoche je beschäftigte, nicht verwundern sollte, bedenkt man, es ist die Erste, in der die Idee gehegt wird, Literat/innen schaffen ihr Werk, weil sie Genies seien – ja, das ist etwas lapidar heruntergebrochen, aber darauf läuft es hinaus: auf den Geniegedanken. Und auch das Genie, davon gingen die Romantiker aus, benötigt Bildungszeit, im Sinne eines Werdens, braucht Lehrjahre, um alsdann eben genial zu sein.
Diese Spanne des Werdens vor dem allerersten Werk – beziehungsweise vor einem besonders relevanten Meilenstein –, das Umfeld, aus welchem der Künstler erwächst und die Einflüsse, die auf ihn wirken, das allmähliche Gedeihen seiner Kunst in ihm: All das wird im Künstlerroman thematisiert. Seit der Epoche der Moderne kam obendrein noch die Abwendung hinzu, das Sich-Entfernen von allem, was gemeinhin als Norm menschlichen Seins begriffen wird.
James Joyce »Portrait of the Artist as a Young Man« (1901–1906 verfasst, 1916 erstmals in den USA publiziert) fällt einem in diesem Kontext sogleich ein. Es ist per se eine Geschichte des Ringens mit jener Welt, aus der man stammt: mit elterlichen Erwartungen, den Mutmaßungen anderer erwachsener Bezugspersonen (Priester, Pater und Präfekten) über das heranwachsende Kind, ihren Ansichten zu Politik und (vor allem) zu Religion – wir befinden uns schließlich in Irland.
Für Joyces Protagonisten Stephen Dedalus sind es diese Begrenzungen im Denken, welche hinter sich gelassen werden müssen, um schöpferisch tätig zu sein. Was den anderen ein grandioses Gedicht, kann ihm nicht genügen; und seine eigenen literarischen Heroen haben am Heldenhügel der Umgebung (noch) nichts verloren. Das knapp gehaltene »Portrait«, welches auf Basis der Einflüsse den Weg zu einer eigenen ästhetischen Wertung nachzeichnet, zeigt des Weiteren gewisse durchaus vertraut klingende Wegschritte auf: das Empfinden der eigenen Andersartigkeit als Makel, eine Vorliebe für Wortspiele, stundenlanges Sinnieren über kleine Beobachtungen, um diese – ebenso wie die Psyche belastende Vorfälle – ins Erzählen zu kleiden. Untiefen wollen ausgelotet werden, indem man sich in gemeinhin ›Verbotenes‹ oder ›Verruchtes‹ nach herkömmlicher Norm begibt, um zu empfinden, wie das eigene Sein sich alsdann anfühle … Und selbst wenn andere die Berufsbezeichnung ›Künstler‹ einem selbst gegenüber noch voll Häme und Spott benutzen – man weiß, man ist. Man ahnt es nicht. Man weiß es.
Stephen Dedalus deutschsprachigem Zeitgenossen Tonio Kröger, den wir Thomas Mann verdanken, geht es da nicht viel anders; obendrein in etwa zur gleichen Zeit entstanden – doch bereits 1903 publiziert. Ähnliche Wegmarkierungen des Werdens finden sich darin; etwas weniger Religion, schließlich ist Norddeutschland der Spielort, wo allen klar zu sein hat, welcher Glaube richtig, welcher falsch. Außerdem etwas weniger allgemeine Politik in den erzählerischen Ingredienzien – dafür ein eindeutiges Mehr an zu Überwindendem im Feld der ›Bourgeoisie‹.
Beide Protagonisten, Stephen wie Tonio, thematisieren zudem den Aspekt der engen Bindung an einen gleichaltrigen Jungen. Doch wo Joyce auf maskuline Freundschaft setzt, die durchaus die Sorge um schwelende Konflikte kennt, wird bei Thomas Mann ein erotisch verbrämtes Anhimmeln daraus: Sollte der in seinem Wesen und Aussehen derart konträre ›Freund‹ ihn eines Blickes würdigen, siebzehn Schritte an seiner Seite gehen, so wäre jener Tage gerettet und heilig. Oder so. Naturgemäß geht es hierbei im Subtext unter anderem auch um die Fähigkeit der Empathie, des Sich-Hineinversetzen in wesensfremde Charaktere und in den Versuch mit dem eigenen Makel des Andersseins umzugehen, denn beide werden gehänselt und verspottet – beginnend beim fremdartigen Namen, endend: nie.
Sie wissen um ihr und leiden unter ihrem Außenseitertum, bis sich daraus Stärke bildet; als (beinahe) Erwachsene. Glauben Sie mir, auf diese Jahre des Mals auf der Stirn, auf den Ausschluss, der im Alter – falls das Besteigen des künstlerischen Olymps gelang – so gern als Vorbote späterer Größe von Biograph/innen glorifiziert wird, verzichtet ein jeder und eine jede gerne.
Auch Sie.
Das hat nichts Romantisches an sich.
Vom gleichgeschlechtlichen Gegenüber wenden sich beide Protagonisten ab und einem Mädchen zu, einer jungen Frau vielleicht sogar – Stephen besingt sie und schmachtet nun, wagt dennoch kaum ein gesprochenes Wort an die Ferne zu richten. Und Tonio? Er himmelt nach blondem Jüngling mit frohem Gemüt nun eben ein blondundblauäugiges deutsches Prachtmädel erster Güteklasse an; und bemerkt nicht die dunkelhaarige, tollpatschige, ewig Verlegene, deren Lektüre mit seiner korrespondiert, die sich für seine Welt interessiert.
Doch besteht ein relevanter Unterschied zwischen diesen beiden Erzählungen künstlerischen Werdens: Während die Frau und damit das Sexuelle bei Joyce nur zwischen Heiliger und Hure in Extremen changiert, sie als die verführerische Macht schlechthin etabliert wird, die den Mann zum literarischen Schaffen anregt und inspiriert – vergleiche auch die einleitende Musen-»Mother!«, ein sprechender Titel nebenher bemerkt! –, entwickelt Thomas Mann in seinem »Tonio« einen doppelten Boden, und es wäre wahrhaftig interessant zu wissen, welche Erzählung entstanden wäre, wenn er die dunkelhaarige, literaturbegeisterte Außenseiterin als weibliches Pendant skizziert hätte …
Undenkbar?
Theoretisch sicher nicht; praktisch vermutlich dennoch. Thomas Mann schuf zwar dem erwachsenen Tonio ein feminines Pendant, wählte dafür aber die andere Disziplin der Bildenden Kunst. Und ähnlich wie die Dunkelhaarige bleibt auch sie, Lisaweta genannt, im Schatten (des Mannes), wiewohl sie mehr Raum erhält als ihre jugendliche, ewig-verlegene Vorgängerin; sie darf (wie jene) Tonios Dozieren lauschen – um alsdann mit ihren pointierten Contras spitze Nadeln in seinen selbstgefälligen Ballon zu stechen, woraufhin er verduftet, Tonio wohlgemerkt, für einige Zeit, die er rückblickend in seinem Brief an sie wie folgt paraphrasiert: Er sei in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, um zu erkennen, dass all seine Werke vor diesem Tag ihm schal schmecken, nun aber werde er schaffen, Besseres, und das sei ein Versprechen:
»Ich schaue in eine ungeborene und schemenhafte Welt hinein, die geordnet und gebildet sein will, ich sehe in ein Gewimmel menschlicher Gestalten, die mir winken, daß ich sie banne und erlöse: tragische und lächerliche und solche, die beides zugleich sind, – und diesen bin ich sehr zugetan.«
Noch immer aber sehne er sich mit schwermütigem Neid »und ein klein wenig Verachtung« nach »den Blonden und Blauäugigen, den hellen Lebendigen, den Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen.« Lisaweta möge ihn deswegen bitte nicht schelten …
Was Thomas Mann in diesen winzigen Szenen über das Kainsmal des Andersseins skizziert, die Wurzellosigkeit des Dichters, ist grandiose Literatur. Nicht nur, dass man sich als Literatin in diesen Erzählelementen wiederfindet, weil einem sogleich eigene Lebenspendants einfallen, sie geben zusätzlich Aufschluss über die Empfindungswelt eines heranwachsenden Autors, über die einander widerstrebenden Gefühle dem Lesepublikum gegenüber. Es findet sich im Lisaweta-Dialog das Erleben der Aufmerksamkeitsfokussierung, ist man mit einem Werk beschäftigt und strömt einem zeitgleich zahlloses Material wie durch Zufall zu (ist es nicht, ist es nie); und die Frage wird obendrein gestreift, ob Kunst ein Beruf sein könne und – weit aus intensiver als bei Joyce – was gute Kunst ausmache:
»[…] was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material, aus dem das ästhetische Gebilde in spielender und gelassener Überlegenheit zusammenzusetzen ist. Liegt ihnen zu viel an dem, was Sie zu sagen haben, schlägt Ihr Herz zu warm dafür, so können Sie eines vollständigen Fiaskos sicher sein. Sie werden pathetisch, Sie werden sentimental, etwas Schwerfälliges, Täppisch-Ernstes, Unbeherrschtes, Unironisches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales entsteht unter Ihren Händen, und nichts als Gleichgültigkeit bei den Leuten, nichts als Enttäuschung und Jammer bei Ihnen selbst ist das Ende … […] Es ist nötig, daß man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus.«
Das mag ebenso wenig jedem schmecken wie Thomas Manns Zeilen darüber, dass es ein Fluch sei, nichts als ein Fluch, Künstler/in zu sein, und dennoch und gerade deshalb empfehle ich diesen schmalen Band einem jeden und einer jeden, der oder die je daran dachte, er oder sie könne doch: schreiben. Einen Roman. Nämlich. (Weshalb denkt eigentlich keine/r von sich aus an das Erproben in der kleinen Form der Kurzgeschichte, räumt sich die Zeit ein, zur Erzählung heranzuwachsen, um sich dann erst am Roman zu versuchen? Sonderbar … Wie so vieles Menschliche.)
Wie simpel und wenig inspiriert wirkt verglichen damit Wilhelm Genazinos »Eine Frau, eine Wohnung und ein Roman«, 2003 erschienen, in welchem die ersteren Beiden als Grundbedingung für den dritten Traum genannt werden. Die Frau an der Seite als Zuhörende und Muse, als Versorgende in allen Alltagsdingen und zur Erfüllung der bürgerlichen Erwartungskette; die eigene Wohnung, zweitrangig auf der Liste und mittels gemeinsamem Sparbuch während keuscher Jahre herbeigefüttert, um Rückzug zu gewähren, wirkt da schon bei weitem vernünftiger. Und erinnert hierin an Virginia Woolf. Bei Genazino stellt es sich als Trugschluss heraus, zumindest was die Entstehung des Ideenkeims betrifft, welcher der Außenwelt bedarf, da seinen Helden die Leere der eigenen vier Wände zuerst einmal erdrückt – ein Zimmer samt ruhigen Nachtstunden hatte er zuvor ja schon für sich, keiner fragte, was er triebe …
Aber kann »A Room of One’s Own« als Pendant gelesen werden kann – zu Thomas Mann und James Joyce? Es sei ein Vortrag und keine Erzählung, mag man einwenden, in welchem die Literatin gleich zu Beginn ihr bekanntes Fazit zieht:
»[…] eine Frau muß Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Fiction schreiben will […].«
Sozialhistorisch liegt in diesem Satz auch die Begründung, weshalb wir kein »Portrait of the Artist as a Young Woman« aus der Zeit der beginnenden Moderne kennen: Erstens hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Gymnasium besucht, von einer Universität ganz zu schweigen – erinnert sei hier zudem an Jane Austens Zeilen, über die Schwierigkeiten des Schreibens, fehle es beim erlernten Wissen an allen Ecken und Enden, sei das Erzähluniversum hierdurch von vornherein auf das Familiäre und Bekannte im sozialen Umfeld begrenzt. Als ›Young Women‹ wären die Zeitgenossinnen Joyces und Manns kaum je durch erwachsene männliche Vorbilder an die Diskussion über Politik herangeführt worden, und kaum einer in ihrem Familienkreis hätte Jahr für Jahr Mutmaßungen angestellt, was denn in ihnen stecke, von wackeligen Kleinkindbeinen an bis zu langen Hosen ihnen eine Biographie vorskizziert. Es wäre niemandem von Interesse gewesen, weil es ohnedies klar war: Ehefrau, Hausfrau, Mutter.
Exakt in jener Reihenfolge bitte, sonst wäre die Keule der Hure zum Einsatz gekommen, und unsere vermeintliche Dichterin wäre wie eine Schnitzlersche Protagonistin auf ihr Ende zugewankt. Dass nichts in einem vermutet wird – und diese Einschätzung kann auch als eine Chance für Freiräume gelesen werden! –, bedeutet ja keinesfalls, dass nichts in einem stecke – was eigenes Geld und ein Zimmer, dessen Tür zu schließen einem gestattet wird nicht zum Vorschein brächten. (Hier symbolisch zu lesen für: ›Akzeptanz, dass literarische Arbeit konzentrierter Ruhe bedarf‹.)
Die von Virginia Woolf gewählte Form des Vortrags vermag uns darüberhinaus zu erzählen, dass jenes Darstellen der Lehrjahre, welches in einer Erzählung unaufgefordert und von sich aus geschieht zu Beginn der Moderne offenbar maskulin war, das Sprechen über Poetik – und damit auch die ›Anmaßung‹, das eigene Schaffen sei Kunst und keine Plauderei, die doch jede/r beherrsche – erst dann von einer Frau gewagt wurde, fand es sich von außen in Form einer Bitte an sie herangetragen. Doch nicht nur das: Virginia Woolf kaschierte ihr Schreiben über sich und ihre Schreiberfahrung, indem sie – aufgefordert – über andere wie Jane Austen, George Eliot, die Brontës, Mrs. Gaskell oder die fiktive Schwester Shakespeares schreibt.
Nein, sozialgeschichtlich betrachtet ist es keinesfalls ein Wunder, dass ein Mann »Portrait of the Artist as a Young Man« schrieb – und eine Frau »A Room of One’s Own«. Thomas Manns »Tonio Kröger« als deutschsprachiges Beispiel eines Künstlerromans zu Beginn der Moderne findet bedauerlicherweise kein feminines Pendant. Ich jedoch frage mich, wie es ausgesehen hätte, wäre ein solches – von mir aus auch als Vortrag – aus der Sicht Else Lasker-Schülers oder Anna Seghers entstanden? Oder in späteren Jahren: Wie würde Ingeborg Bachmann und ihr Blick auf die Anfänge klingen, wie ein Porträt der Lehrjahre aus der Schreibmaschine Marlen Haushofer in erzählender Prosa? Optimistischer als deren Zeilen, die gleichsam ihr literarisches Testament wurden (Vielleicht auch nur, weil sie dies am 26. Februar 1970 verfasste?):
»Mach Dir keine Sorgen - alles wird vergebens gewesen sein - wie bei allen Menschen vor Dir. Eine völlig normale Geschichte.«
Damit sind wir wieder am Beginn: der von Javier Bardem in »Mother!« verkörperte Schriftsteller ist als Schriftstellerin nicht denkbar; wir haben keine Ehefrauen, die allegorische Musen und Hüter unseres Schreibens sind; und derartige Ehemänner haben leider eben solchen Seltenheitswert wie Aye-Aye-Männchen, die nur noch im Regenwald Madagaskars zu finden sind. Da könnten wir auch an Einhörner glauben. Wer jedoch aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz dieses seltene Exemplar an eigener Seite weiß, hüte es mehr als den Augapfel – der ließe sich nämlich durchaus ersetzen, schließlich gibt es Glasaugen, Diktierprogramme und arbeitslose Buchhändler, die gerne für Literat/innen zu Sekretären werden.
Und die bei jedem Außenkontakt zitternde, im Schreibprozess fast manisch wahnhafte Schriftstellerin, die sich in Auflösung befindet, aufgrund ihres Versuchs, ihre Protagonisten zu verstehen und ihnen erzählerische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Sie wäre – als Mann – zumindest ein völlig anderer Mensch. Was per se keiner Wertung gleichkommt.
Und ich?
Ich hätte eigentlich über Wilhelm Genazinos Roman »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« zu schreiben gehabt, der jedoch war mir nach der Lektüre eines Nachmittags bereits drei Wochen später bloß noch als ›nett‹ erinnerlich.
Warum?
Weil diese Erzählung über weite Strecken lapidar ist, zu wenig Tiefgang, kaum Leerstellen, sprachlich zu begrenzt, um nachhaltig ein Echo zu evozieren. Das Entlangschrammen an der Bürgerlichkeit der anderen, samt Blessuren und Narben – gelingt Joyce sowie Mann besser. Das Ausgeschlossen-Sein – ebenso. Allein durch sonderbare Lederhosen wird keine ›Kugel‹ daraus, die final ›tötet‹; ganz zu schweigen davon, dass sie geladen wäre!
Ähnlich verhält es sich mit zwei weiteren Motiven, welche in allen drei Werken vorkommen:
Die Erwartungen der Eltern an eine ordentliche schulische und/oder berufliche Laufbahn können nicht erfüllt werden – bitte lesen Sie hierzu vor allem Thomas Bernhard! Sexualität als Triebfeder des Gestaltens – daraus wird bei Genazino schneller Sex des Nächtens im Werkbus (›die Hure‹) und Befingern, um das mangelnde Verstehen der Frau für hochfliegende literarische Gedanken zu befrieden (›die Heilige‹) – alles im Nebenher, ohne Dichte, weshalb es nicht im Gedächtnis haftet; ein Lercherlschas also, verglichen mit Joyces streng katholischer Welt aus der Stephen zu den Nutten ausbricht, um folglich an sich selbst zu verzweifeln, ob ihm zuvor eingetrichterter Schlechtigkeit solcher Unternehmungen … Oder soll das einzig der dazwischen vergangenen Zeit – rund 60 Jahre – geschuldet sein?
Was hingegen Wilhelm Genazino wahrlich gelungen ist: Das sich wiederholende Motiv, wie seinem Ich-Erzähler einzelne Wörter zum Rettungsanker werden, sei es in peinlichen oder von Langeweile dominierten Situationen, die er dadurch bewältigt, dass er sein Sprachspiel treibt. Im Gegensatz zu Joyce und Mann, wo ›Dichter‹ keineswegs als erstrebenswerter Beruf gilt, ganz sicher jedenfalls nicht als ehrbarer, finden sich bei Genazino einhundert Jahre später das gesamte Potpourri des durchaus erheiternden Gefasels aller Möchtegerns, die ihr Leben lang davon quatschen, auch sie wären die geborenen Literaten, hätten in ihren Schubladen, im Hinterkopf oder wo auch immer ›ganze Romane‹, und fänden sie bloß Zeit, würden sie mit Sicherheit schreiben und – noch viel wichtiger: – reüssieren …
Stellen wir doch zwei längere Passagen einander gegenüber, so viel Raum muss sein:
»Er arbeitete nicht wie Jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will, als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im Übrigen grau und unauffällig umhergeht, wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat. Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar und voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich waren, wild und abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten Luxus trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu leben bedacht waren, unwissend darüber, daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein.«
Und zum Kontrast:
»Am Rand eines kleinen Platzes betrat ich ein Terrassen-Café. Ich setzte mich an einen freien Tisch und bestellte ein Kännchen Kaffee und zwei Plunderhörnchen. Zwei Frauen am Nebentisch empörten sich leise über amerikanische Touristen, die Coca-Cola aus Rotweingläsern tranken. Vor meinen Augen trug ein Kind einen großen, runden Laib Brot vorüber. Das Kind drückte sich das Brot mit beiden Händen gegen die Brust. Beim Verlassen des Bürgersteigs stürzte das Kind. Im Sturz ließ es das Brot nicht los. Das Kind fiel nach vorne, aber es gelang ihm, eine Berührung des Brotes mit dem Straßenschmutz zu vermeiden. Rasch erhob sich das Kind und untersuchte zuerst das Brot und dann sich selbst. […] Das Kind entdeckte seine Betrachter und sah sie kurz nacheinander an. […] Das Kind sonnte sich in der Huldigung seiner Betrachter und hob das Brot kurz in die Höhe, dann verschwand es. Ich zweifelte nicht, daß ich mich in einem ungeschriebenen Roman bewegte. Ich sah auf mein Frühstück herunter und wartete auf das Aufzucken des ersten Wortes.«
Ei, noch Fragen?
Quellen:
Genazino, Wilhelm: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. München: dtv 2005.
Joyce, James: Portrait of the Artist as a Young Man. Ware: Wordsworth Editions Limited 1992.
Mann, Thomas: Tonio Kröger. Mario und der Zauberer. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2016.
Woolf, Virginia: Ein Zimmer für sich allein. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989.