Kiew – von Legenden, Lesenden und der Literatur

Für Lesereisen ins Ausland, diese geniale Möglichkeit auch ein wenig zumindest die Welt zu erkunden, werden wir öfters beneidet. Nicht ganz zu Unrecht, doch gilt es zu bedenken, dass solch ein Aufenthalt kaum mit einer Urlaubsreise zu vergleichen ist. Ein Termin jagt den nächsten, und es bleibt meist wenig Muse, die Orte wahrhaftig zu erkunden. Ab und an – wie dieses Mal in Kiew wird uns zumindest ein kleiner Einblick möglich. Am Ankunftstag, hurtig die Rezeption frequentieren, denn schon geht es los: Der Stadtrundgang, der für uns organisiert wurde, hätte bereits beginnen sollen. Lesung folgt auf Vortrag, Workshop auf Werkstattgespräch, und dazwischen reihen sich Begegnungen. Im Falle dieser Lesereise mit LektorInnen, den BibliothekarInnen der Österreich Bibliotheken in der Ukraine, mit ÜbersetzerInnen und – vor allem – mit LeserInnen. Insbesondere diese Begegnungen möchte ich nicht missen. Sie bereichern – mich in meiner Persönlichkeit und darüber hinausgehend mein Schreiben, verleihen ihm nicht nur Welthaltigkeit, sondern inspirieren oftmals zu eigenen Erzählungen. Zudem verschaffen sie Einblicke in eine manchmal gänzlich andere literarische und/oder universitäre Kultur, ermöglichen im Gespräch mit diesen Menschen Eindrücke ihres Alltagslebens … 

 

Vier Tage durfte ich in Kiew einerseits österreichische AuslandslektorInnen sowie die Bibliothekare der Österreich Bibliotheken in der Ukraine begleiten, konnte die ethnische Minderheit der Ukrainer mit deutschen oder österreichischen Wurzeln treffen, kam ins Gespräch mit einem Übersetzer aus Czernowitz, der dort vor allem auch im Bereich einer Gedenkkultur für die deutschsprachigen Czernowitzer LiteratInnen des 20. Jahrhunderts tätig ist, also Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisiger oder Rose Ausländer, um nur drei VertreterInnen zu nennen, nicht nur ins Ukrainische überträgt, sondern sich auch für ein Erinnern an sie mittels Gedenktafeln, die einen Rundgang ermöglichen, engagiert. Ich lernte den Universitätsprofessor Ivan  Megela kennen, der voller Elan und Engagement seit zahlreichen Jahren für seinen Fachbereich tätig war und ist, und sich nunmehr mit dem Gedanken trägt, österreichischen zeitgenössischen LiteratInnen mittels Übersetzung und/oder zweisprachiger Publikation ein Forum in der Ukraine zu verschaffen. Vor allem jedoch begegnete ich überaus herzlichen Menschen, die sich für Literatur begeistern – aber beginnen wir am Anfang, bekanntlich macht dies ja durchaus Sinn:

 

Kommt man vom Flughafen Boryspil nach Kiew, begrüßt einen sogleich die Statue »Mutter Heimat« des Architekten E. Wutschetisch; oder kehrt einem bei dieser Stadteinfahrt den Rücken …  In ihrem 40 Meter hohen Sockel ist das Nationale Museum der Geschichte des 2. WKs untergebracht. Mit ihren weiteren 62m thront sie weithin sichtbar und hebt ihr überlanges Schwert (16m) monumental – sie soll an den Sieg der Roten Armee im 2. WK erinnern.

 

Die ersten Eindrücke der Stadt selbst, überraschen wenig: Graue Plattenbauten säumen die Ränder, ein Anblick der auch aus anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion durchaus vertraut ist. Ergänzt wird diese Skyline durch zahlreiche neue Hochhäuser, in deren ebenerdigen Räumen die Nahversorgung untergebracht ist. Man erzählte mir, Kiew platze aus allen Nähten. Zahlreich seien diejenigen, die aus den anderen Regionen des Landes hierher zögen, oftmals ohne sich je anzumelden, wodurch die Einwohnerzahl zwischen erhobenen Daten und vermutetem Faktum um mehrere Millionen differiere.

… unsere beiden wunderbaren Stadtführerinnen, zwei junge StudentInnen der Germanistik, die uns außerdem freundlichst auf all unsere neugierigen Fragen Rede und Antwort stehen, bevor sie am nächsten Tag zu meiner Lesung kommen, um nun ihrerseits mehr zu erfahren, wissbegierig und charmant!

Bildung, diesen Eindruck gewinne ich nicht nur mittels der affichierten Weiterbildungsaufforderungen, ist für UkrainerInnen ein höchst relevantes Gut.

Die U-Bahn, mit der wir – verspätet – unseren Stadtrundgang von Legende zu Legende beginnen, liegt enorm tief, endlos führt einen die Rolltreppe hinab – um alsdann einem weitläufigen Mittelgang Freiraum zu gewähren. Diese Untergrundarchitektur wurde derart angelegt, um im Falle eines Bombardements der Bevölkerung der Stadt ausreichend Schutz bieten zu können, wie mir der Übersetzer beim Frühstück erzählte. Die Stationen selbst kennen keine einheitliche Architektur wie diese Wiens U-Bahn-Netzwerk prägt, sondern jede Haltestelle hat ihr eigenes Gestaltungskonzept, mal bezaubern Jugendstil- oder Art Deco-Leuchter, mal byzantinische Fliesenmosaike. Erstaunlich für unseren Blick sind auch die an den beiden Enden des Tunnels gesetzten Kabinen, in denen aufmerksame Augen noch sichtbar ihren Dienst tun: Die Aufseherinnen behalten die Rolltreppe im Blick, ermahnen mit Worten, die ähnlich wie ›Shalomi Passageri‹ klingen, was man mir mit ›Sehr geehrte Passagiere‹ übersetzte, ihre Fahrgäste, sich in der U-Bahn bloß nicht gegen die Türen der Waggons zu lehnen.

Weit liegen in diesem unterirdischen Netz die einzelnen Stationen auseinander, manchmal rast der Zug minutenlang durch die Tunnel … Dicht gedrängt gilt es darin zu stehen, Scharen strömen zu den Ausgängen – nicht bloß zu den Stoßzeiten.  

 

Auf die Sophienkathedrale war ich besonders gespannt. Nicht unbedingt des Bauwerks wegen, welches sicher auch beeindruckt, sondern weil ich vor Antritt meiner Lesereise bereits recherchiert hatte, es habe dort eine Bibliothek gegeben, deren Grundstein Jaroslaw dem Weisen zugeschrieben werde, eine umfangreiche Sammlung von Handschriften also genau genommen, diese jedoch gilt als verschollen. Unter der Kathedrale soll es ein bislang unentdecktes Höhlensystem geben, darin wird sie vermutet. Zwar grub man 1916 Stollen auf der Suche nach etwaigen unterirdischen Gängen oder Räumen, hatte dieses Vorhaben jedoch aufgrund der politischen Entwicklungen aufzugeben. Erneut aufgenommen wurden die Grabungen in den folgenden 100+ Jahren gleichfalls nicht mehr. Auch unsere beiden Führerinnen durch die Stadt bestätigen ebenjene Legende, die naturgemäß nicht nur die Phantasie einer Literatin nährt. Auch sie hätten im Rahmen einer universitären Lehrveranstaltung von dieser gehört, eine Fortbildung besucht, bei der sie zu FremdenführerInnen ausgebildet wurden besucht und neugierige Fragen dazu gestellt, denen man jedoch mit Abwinken begegnete. Weitaus mehr Raum sei dem Bildnis der Betenden Madonna gegeben worden, die – wie durch ein Wunder – allen Zerstörungsversuchen der Kathedrale bislang widerstand, was sich einerseits durch die geschwungene Architektur erklärt, die Geschosse zurückwarf, andererseits jedoch zur Legendenbildung beitrug: Solange die Madonna betend ihre Hände falte, werde Kiew bestehen … 

Im Zentrum der Stadt fällt einem eine Vorliebe für Bonbonfarben an den Fassade auf, die sich durchaus harmonisch zueinander fügen: kräftiges Ziegelrot, sehr häufig auch Blauvarianten, Grüntöne, flankiert von Gelbnuancen. Mehr als einmal dachte ich an ein Malerunternehmen meiner Heimatregion, dem in punkto Farbpalette und Harmonielehre durchaus eine Exkursion nach Kiew zu empfehlen wäre.

Die Ukrainer sind stolz auf ihre Natur, die Kiewer auf ihre grüne Stadt – und so sollte es einen nicht wundern, dass sie sogar ein Verzeichnis der ältesten Bäume angelegt haben. Diese Linde hier, ein Geschenk der Studierenden an ihren Professor, gilt als die älteste! Wen die weiß gekalkte untere Stammhälfte wundert, dem sei mitgeteilt, diese Schutzmaßnahme gegen eine zu frühe Blüte, welche bei einem nächtlichen Frosteinbruch im Frühling die Bäume schädigen würde, findet sich an beinahe allen Bäumen der Stadt.

Die alte Linde steht übrigens gegenüber von Zehn Kirchen, einem Gebäudekomplex, der einst eine Art Schutzraum für hilfsbedürftige Menschen war und von dem man daher zu sagen pflegte, solange die Kiewer Sophie und die Desjatinna-Kirche stehen, ist um Kiew nicht zu bangen.

Heute sind von Zehn-Kirchen nur noch die Grundfesten über, was unsere beiden Studentinnen lakonisch kommentierten: Offenbar genüge die Betende Gottesmutter in der Sophia-Kathedrale …

Schon waren wir mitten in einem Gespräch über Religion, und die beiden betonten, Religion sei – ihrer persönlichen Ansicht nach Privatsache, mehr noch: Was habe es zu sagen, sei eine/r mosaische oder ukrainisch-orthodox. Klingt im ersten Moment recht nachvollziehbar, nicht wahr? Doch verweist der Hintergrund dieser Aussage auf eine mittlerweile politische Frage, da manche Kirchen heutzutage mit einem roten Kreuz markiert seien, um ihre Gläubigen darüber zu informieren, dass sie dem Kiewer und nicht dem Moskauer Patriarchat zugehören. Auch dies wie der Zuzug eine Auswirkung des Kriegs.

Des öfteren erblicke ich während unseres Rundgangs Frauen in frühlingshaften Kleidern, die mit einem Blumenstrauß im Arm, das eine Bein obligat angewinkelt, um schlank auf der Zehenspitze zu balancieren, Modell stehen. Mehrheitlich posieren sie als engagiert telefonierende und fröhlich lachende Dame-von-Welt, als seien sie gerade einem Werbeplakat für einen Film ›Die reichen Zehntausend‹ entstiegen. Danach hat das geschossene Bild natürlich kritisch geprüft zu werden …

 

Als ich mich ob der auffallenden Häufigkeit dieser Inszenierung bei unseren beiden Studentinnen erkundige, was es damit auf sich habe, erläutern sie, es handle sich dabei um ein Geburtstagszeremoniell: Man halte das Leben fest. Die Burschikose rümpft die Nase, während die andere hinzufügt: Solche Moden interessieren sie nicht, sie habe dies noch nie gemacht.

 

Die Andreas-Kirche wurde auf Befehl der Zarin Elisabeth erbaut; die Wahl des Ortes fußt auf der Legende, der Apostel Andreas der Erstberufene habe auf jenem Hügel ein Holzkreuz eigenhändig errichtet. 

Bis heute gilt diese Kirche als beliebter Ort für Hochzeiten – oder deren photographische Dokumentation. 

Rund um die Andreas-Kirche befindet sich die sogenannte Kunstmeile; von Ölbildern über bestickten Blusen über Matroschkas bis hin zu hölzernen Keulen und ›Souvenirs‹ zum 2. WK ist hier alles zu finden. Dort findet sich übrigens auch ein Statuen-Duo, welches auf eine hier sehr berühmte Filmkomödie Bezug nimmt, die den Titel trägt »Zwei Hasen zu jagen«. Vielleicht aber auch »Mit einer Klappe zwei Fliegen«, und alsdann wäre es ein Theaterstück von M. Starizki.

Wie auch bei anderen Statuen fallen an ihnen sogleich durch nachhaltige Berührungen blank geriebene Körperteile auf; das solle Glück bringe. Weshalb dieser Wunschsehnsucht in der Ukraine just eine optisch deutlich zu erkennende Vorliebe für die Nase gleichkommt, kann mir keiner schlüssig erläutern. Die Nase passe gut in eine Hand, sagt man mir schließlich etwas hilflos.

Am Andreasabhang sitzt Bulgakov, der in dieser Straße seine Jugendjahre verbrachte. Wenige Meter weiter ist ein Haus, welches der Schriftsteller Nekrassow als »Schloß Richard Löwenherz« betitelte, ein Bau, indem es angeblich spuke, weil der Bauherr einst seine Arbeiter mäßig bezahlte. Und sie sich, wie die Studentinnen andeuten, rächten, indem sie gluckernde Rohre und knarzende Zwischendecken schufen. Jedenfalls störte es die darin und darum herum lebenden KünstlerInnen nicht. Weder den Dirigenten und Komponisten O. Koschitz noch den Prosaschriftsteller O. Tjutjunnik. Ich jedenfalls habe während dieser Lesereise beschlossen, meine Kenntnisse der ukrainischen Literatur seien dringend aufzubessern! Tolstoi rettete mich im Dialog mit ukrainischen LeserInnen nur bedingt mit seinem »Krieg und Frieden«, seiner »Anna Karenina«.

Der Ort meiner ersten Lesung in dieser Stadt: Die Österreich Bibliothek ist in diesem Teil der Nationalbibliothek untergebracht. Hier, wie auch an der Universität, hat man der Security den eigenen – vorangemeldeten! – Namen zu diktieren, der auf einer Liste abgehakt wird, um die Räumlichkeiten zu betreten. Wachhabendes Personal und dienstbare Geister, sie sitzen, stehen, warten allerorts, müde auf den Boden oder die Wand starrend. Wirken wie Relikte einer früheren Zeit. Meist sind sie etwas älter, oft tun sie zu zweit oder zu dritt ihren Dienst …  Einen skeptisch bis grimmig anblicken, das können sie gut. 

Die Lesung, welcher ich als roten Faden die Frage nach der Inspiration literarischen Schaffens gegeben hatte, wurde ein Spaziergang durch fünf Werke, um die Verwobenheit von akustischer, haptischer, visueller Anregung und entstehendem Ideenkeim zu illustrieren. Man hätte es auch ›Auf der Suche nach den 17,5% autobiographischem Anteil an Erzähluniversen‹ nennen können. Oder eine Studie über jene Verfremdung, welche die ursprüngliche Anregung im Erzählakt erfährt. 

Bedauerlicherweise teilte man mir nicht mit, dass die Bibliothek um Punkt 18:00 ihre Pforten zu schließen habe, weshalb das Ende ein wenig abrupt erfolgte. Hintergrund dieser Bibliothekspolitik ist die Tatsache, dass man gezwungen ist, die Stromkosten sowie im Winter diejenigen der Heizung unbedingt zu senken, um die Türen weiterhin geöffnet halten zu können.

Originell ist der zweite Veranstaltungsraum, im wahrsten Sinn des Wortes! Im obersten Stock der Universität hatte man ein Unterrichtszimmer à la 1900 restauriert,  um daran zu erinnern, dass in diesem Gebäude das erste Kiewer Buben-Gymnasium beihmatet war – bis es später ein Mädchen-Gymnasium wurde … Der Unterricht im frontal orientierten Raum, strukturiert durch alte Schreibpulte und Sitzbänke in Konfrontation mit einem Rednerpult und einem Katheder reizte die Deutsch-LektorInnen, die während meines Workshops auf die ihnen mittlerweile doch eher unvertraute Seite der teilnehmenden Lernenden schlüpfen durften, zu schülerischem Unfug jedweder Art: Briefchen schreiben, Flieger falten, kichern und tuscheln … Dass just das »Lexikon deutscher Partikel« seinen Weg unter den Beamer fand, um diesen zu stützen und anzuheben, fand wiederum ich komisch! 

 

Frauen und Männer, das ist hier sowieso ein eigenes Thema. Als ich einem jungen Sprachlehrer zur Begrüßung die Hand hinstrecke, sieht er bestürzt darauf hinab, lacht plötzlich, entschuldigt sich alsdann und meint, er sei zwar Deutscher, aus Brandenburg, lebe jedoch schon so lange in Kiew, dass er deren Angewohnheit übernommen habe, als Mann keinesfalls eine Frau mit Händedruck zu begrüßen …

Die alte Courtoisie ist in der Ukraine gleichfalls noch auffallend präsent: Man(n) überreicht Blumen, lässt den Vortritt … Ebenso wie die Gastfreundschaft – zum Essen und Trinken freundlichst genötigt, und nach drei, vier Sätzen gehört man quasi bereits ›zur Familie‹. So ergeht es mir in der Sprachschule »Widerstrahl«, eine Begegnungsstätte der deutschsprachigen Minderheit der Ukraine, wo die zweite Lesung stattfindet.    

Just während meiner Tage in Kiew fand in deren Kiewer Zentrum ein Seminar für ihre Mitglieder statt, bei dem sie sich auf die Zertifikatsprüfung in Deutsch vorbereiteten. 

Das Angebot der Sprachschule »Widerstrahl« umfasst neben zahlreichen Deutschseminaren für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren auch Konversationskurse. Ein weiteres Unterfangen ist die Dokumentation und Archivierung diverser Materialien der deutschsprachigen Familien; Ausweise, Briefe, Stammbäume und Photos werden ebenso ausgestellt wie Publikationen zum Thema. Heutzutage, so erzählt man Andreas Karabaczek, Leiter des Österreichischen Kulturforums in Kiew, und mir, habe sich diese Rechercheaufgabe grundlegend geändert. Eine Anfrage an die zuständigen Ämter bringe in kurzer Zeit die gewünschten Unterlagen; früher hingegen habe man sich nicht danach zu erkundigen gewagt, deutschsprachige familiäre Wurzeln tunlichst verschwiegen. Insbesondere die stalinistischen ›Säuberungen‹, die Ermordung der Intelligenzija, habe zahlreiche der deutschsprachigen Familien betroffen, die oft als Ärzte oder Wissenschafter tätig gewesen waren.

    

Die Art und Weise, mit welchem Interesse und mit welcher Aufmerksamkeit man mir in diesem Zentrum begegnet, berührt. Lachend weist man mich auf das »Österreich Kammerl« hin: eine Vitrine, in der auch Bände des werten Herrn von Goethe stehen. Heute Abend jedenfalls dürfe ich im »Österreich Kammerl« sitzen – schon wird das Schild entnommen und auf meinem Lesungstisch platziert. »Aber bitte, essen Sie doch! Oder möchten Sie noch gerne eine rauchen, bevor …?« Liebevoll wurde ein Buffet vorbereitet, bis hin zum selbstgekelterten Wein steht alles bereit.

Und der Saal – die mir zuerst zu optimistisch dünkte, mit all seinen Stuhlreihen – füllt sich nach und nach. Es ist ein Raum dominiert von herzlicher Freundlichkeit, und den Anwesenden ist die Vorfreude auf diese Veranstaltung anzumerken.

Ich habe – den unsicheren und inhomogenen Kenntnissen deutscher Sprache, die zwischen B1 und C2 divergieren, einige kürzere Lesungspassagen ausgewählt. Nach dem ersten Lesungsabschnitt bitte ich mein Publikum von den vorbereiteten Zettelchen und Stiften, die auf ihren Sitzplätzen lagen Gebrauch zu machen, um darauf zu notieren, was sie eine Literatin schon immer fragen wollten … Es dauert kaum drei, vier Sekunden, schon schreiben die ersten, reichen ihre Fragen an den Rand der Sitzreihe hindurch. Final ein ganz schöner Stapel, und ich darf froh sein, dass manche Gleiches oder Ähnliches zu wissen begehrten: Die Inspiration, die Frage mach meinen Anfängen, doch auch was ich jungen LiteratInnen raten würde, sind die Kernthemen, flankiert von Lieblingswerken der Weltliteratur und biographisch-persönlichen Erkundigungen; oder auch philosophischer Natur … Ich versuche Antworten zu geben, und die gespitzten Ohren und aufmerksamen Augen meines Publikums machen es mir leicht! – Am nächsten Morgen überrascht mich, als ich, Morgenmuffel vor dem ersten Kaffee, noch verschlafen den Speisesaal des Hotels betrete, ein bezaubernd-fröhlichen »Guten Morgen, Marlen!« im Chor durch den Frühstücksraum gerufen, strahlende Gesichter – wie soll ein Tag, der so beginnt, nicht gut werden?

 

Ja, es sind solche Begegnungen mit Menschen, denen das eigene literarische Werk etwas bedeutet, die sich darauf einlassen, die meinem Tun Sinn geben! Sie geben mir die Kraft weiterzuarbeiten, sie inspirieren, und ihre Herzlichkeit ist – gerade auch ob der vorzugsweise neidisch-distanzierten Eiseskälte deutschsprachiger Literaturlandschaft – eine Wohltat. Selbst am Frühstückstisch will man noch kurz diese oder jene Frage, die über Nacht gor, beantwortet wissen. An mir ist es jedenfalls ihnen allen für die heutigen Prüfungen alles Gute zu wünschen!

 

Ja, ich bin überzeugt, Literatur bedarf der LeserInnen, in denen die Lektüre nachhallt. Ohne diese RezipientInnen bleibt alles Erzählen nur eine Geschichte, die sich eine/r ausdachte. Zum Leben erweckt – einem eigenständigen obendrein – wird sie erst durch diejenigen Menschen, die diese Erzähluniversen in sich aufnehmen, den Geschichten so Heimat geben!

 

 

 

 

 

Final ist es an mir zu danken: Arnulf Knafl vom OeAD, den ich vor Jahren in Bratislava kennenlernte, als ich im dortigen Kulturforum las; Andreas Karabaczek, vom Österreichischen Kulturforum in Kiew, der mich zur Sprachschule »Widerstrahl« brachte und so die Abschlusslesung initiierte. Beide Herren kümmerten sich rührend um die gesamte Truppe, tatkräftig unterstützt von der Lektorin Nina Hawrylow in der geduldigen Organisation vor Ort. Den österreichischen LektorInnen sei gedankt, die sich an diversen Universitäten in der Ukraine, in Armenien, Aserbaidschan und Russland ihre Brötchen verdienen und zu diesem Austausch und Workshop nach Kiew reisten. Den Österreich Bibliotheken und ihren BibliothekarInnen sei ebenso gedankt wie der Universität und der Nationalbibliothek Kiew als auch der österreichischen Botschafterin Hermine Poppeller, die uns bei sich empfing.