»Qu'est-ce qu'un best-seller?«, fragt sich Lylette Lacôte-Gabrysiak am Tag der Arbeit im »Nouvel Observateur«. Mir fiel sogleich Sartres Essay ein, »Qu'est-ce que la littérature?«, den ich als Jugendliche verschlang, auf der Suche nach Antworten zu Fragen, die mich beschäftigten. Damals meinte ich, sie gefunden zu haben. Heute überwiegen die Fragen – mal wieder. Beunruhigend? Auch. Bereichernd? Sicherlich.
Lacôte-Gabrysiak räumt in ihrer Betrachtung jedenfalls gleich zu Beginn das Vorurteil aus, es handle sich bei Bestsellern um Romane. Mitnichten: Es sind Comics wie Asterix und cross-over-literature wie »Harry Potter«. Der Roman als Gattung stellt höchstens 50% der überaus erfolgreichen Werke. Und alsdann sind es meist überzeugte und treue Fans, die ›ihrem‹ Autor von Arbeit zu Arbeit folgen und ihm oder ihr so diesen Erfolg verschaffen: LiteratInnen wie Mary Higgins Clark, Harlan Coben, Fred Vargas führen allen anderen voran … – das Genre des Thrills und des Mordes dominiert also; wenig überraschend. Doch: »[…] il faut ajouter tous les autres romanciers, à la parution certes moins régulière, qui ont, au fil du temps, également occupé les listes des meilleures ventes : Régine Desforges et la Bicyclette bleue, Paul-Loup Sulitzer, Alexandre Jardin, Jeanne Bourrin, Katherine Pancol, Paulo Coehlo, Anna Gavalda, Jean d’Ormesson, Michel Houellbecq, Héléna Ferrante, Anna Todd parmi tant d’autres. Ils sont nombreux et leur diversité même prouve que les bonnes ventes d’un livre transcendent les jugements sur la qualité littéraire de celui-ci.«
Ein wenig skurril mutet das vorgeschlagene ›Rezept‹ für einen Bestseller an, betrachtet man es mit den Augen einer Literatin: Man nehme ›un auteur déjà connu pour écrire des best-sellers (le nouveau Musso), une suite (le dernier tome de L’Amie Prodigieuse, d’Harry Potter, du Le Seigneur des Anneaux, de Twilight, de 50 nuances), une adaptation cinématographique qui fait du bruit (Les liaisons dangereuses qui ont relancé les ventes du roman de Choderlos de Laclos, l’attribution du prix Nobel de littérature à un auteur français ou du prix Goncourt, la mort de l’auteur (Stephen Hawking récemment).‹ Oder – um die Ironie auf die Spitze zu treiben –: alles zur gleichen Zeit. Man sei bereits erfolgreich, schreibe die Fortsetzung, inszeniere zeitgleich die Verfilmung und sterbe tunlichst zum Erscheinungstermin. Das hilft!
Denn unkalkulierbar sei der Erfolg, wäre Literatin, Literat oder das gewählte Sujet ›bloß‹ auffallend medial präsent; auch der Skandal funktioniere kaum noch als Vehikel. [Von literarischer Qualität schweigen wir gleich einmal, die ist ohnedies eher hinderlich.] Dass sich ein Geheimtipp zum Verkaufsschlager entwickle, geschehe jedenfalls höchst selten – doch Ausnahmen wie Anna Gavalda existieren. Und verblüffen, weil sie nicht zu erklären sind.
Weniger erstaunlich hingegen ist der internationale Siegeszug des ›feel good‹-Romans, eine mE wenig griffige Bezeichnung, denn mir stellt sich die Frage, weshalb man sich einzig aufgrund eines unbedingt positiven Endes märchenhaften Stils alsdann ›besser‹ fühlen solle? Die französischsprachige Bezeichnung als ›romans de développement personnel‹ scheint mir stimmiger, liegt darin der Fokus doch auch auf einem zweiten Teilaspekt des Genres. Nicht nur das positive Ende ist ein Muss, es hat auch eine persönliche Weiterentwicklung anvisiert und dargestellt zu werden.
Erlaubt sei mir an dieser Stelle die ketzerische Zwischenfrage: In welchem Roman gibt es diese ›persönliche Weiterentwicklung‹ nicht? Schließlich sind die Ingredienzien Wunsch, Hindernis, Überwindung dieses Hindernisses, Weiterentwicklung das A und O eines jeden Romans … Ach ja … Das unbedingt positive Ende! Der leichte Ton! Die einfache Sprache! Eine nett erzählte kleine Geschichte darüber, wie eine/r die Vereinsamung, die uns alle plagt, überwindet oder der Neubeginn eines Lebens nach gescheiterter Liebesbeziehung doch gelingen kann, und man währenddessen auch noch über sich selbst hinauswächst … Die sind neu! Und divergieren vom altbekannten Entwicklungsroman, denn in dem durfte man auch final noch scheitern, hatte schlicht eine Spur weiser geworden zu sein – welch schöne Welt! Heute hat man zu siegen, unbedingt. Zumindest annähernd.
Was mich zu der Frage bringt, auf die ich noch nie eine Antwort fand: Warum gelten manche LiteratInnen als ›schwer‹? Was soll dieses Etikett bedeuten? Dass man während der Lektüre auch mal ein bisschen nachdenken muss, weil einem nicht alles vorgekaut wird? Ist das wahrlich bereits zum Negativum geworden? Zur Zumutung? Sind wir bereits derart an Berieselung gewöhnt, dass uns alles andere eine Last geworden ist? Auch das eigenständige Denken? Weshalb macht es uns offenbar solche Angst, zwischen zwei Sätzen oder sieben Zeilen uns mit eigenem Nachsinnen zu beschäftigen? Dünkt es uns nicht effizient genug? Sind wir bereits derart daran gewöhnt, dass für uns gedacht wird, dass uns jeder implizite Erzählmodus überfordert, weil dieser nicht jede einzelne Regung einer Figur explizit ausspricht, uns die Aufgabe auferlegt wird, aus der Kombination aus Verhalten, Handlungsmodus, Dialogsequenz und kleineren Einblicken in Innenwelten selbst(bewusst) Schlüsse zu ziehen? Oder ist der Alltag, den wir uns eigenständig auferlegen, wahrhaftig bereits so ermattend geworden, dass wir uns nur noch nach einem sehnen: eine schön märchenhafte Geschichte, um im Glauben daran, dass zumindest zwischen zwei Buchdeckeln und am Ende einer Filmhandlung sicherlich ›alles gut‹ werden wird, die Augen zu schließen und sanft zu entschlummern?
Ja, vielleicht sollte es einen, betrachtet man die Welt, die uns umgibt, nicht verwundern, dass diese ›feel good‹-Romane mittlerweile in Frankreich alle anderen Genres bereits überholten: »Aujourd’hui, on se console avec des histoires d’amour qui finissent bien et on cherche le bonheur dans des romans de développement personnel…« Ich frage mich nur, wo besteht da der Unterschied zum althergebrachten Groschenroman? Wäre nicht ein neu zu kreierendes Genre ›feel better, denn du hast nachgedacht und dich dabei außerdem bei langsamer Lektüre erholt‹ weitaus wünschenswerter? Weshalb nehmen wir uns nicht für die Langsamkeit Zeit? Sie bekäme uns besser!