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Nooteboom »Allerseelen«. Oder: Von allen Seelen und ihrem Wirken. Oder über die Bedeutung einer Winternacht.

 Bloß ›ein halber Feiertag‹ ist der 2. November, ein daher stolpernder-holpernder also, einer, der es nicht schaffte, in die Liste der wahrhaftigen Ruhetage aufgenommen zu werden, die zum Innehalten und Nachsinnen vorgesehen sind. So relevant dünken uns Seelen eben nicht. Dass sie Ruhe bräuchten, damit danach das Leben erneut zielgerichtet voranschreiten möge … 

Während die evangelische Kirche diesen Tag als Festtag aller Verstorbenen, tituliert als Buß- und Bettag, bei den Lebenden ansetzt, soll das Gedenken in der Katholischen Kirche lieber denjenigen dienen, die im Fegefeuer gefangen sind: 

»Die Lehre vom sogenannten Fegefeuer ist Eigengut der katholischen Kirche. Orthodoxe und evangelische Kirche kennen diese Glaubenslehre nicht. […] Wer als Sünder stirbt, muss von Sünde gereinigt werden, um in den Himmel eingehen zu können. Nach alter Überzeugung ist der betende Beistand der Lebenden dabei eine Hilfe für die Verstorbenen.« 

Damit ist in gewisser Weise auch Arthur Daane, der Hauptprotagonist, in Cees Nootebooms Roman »Allerseelen« beschäftigt: mit Reinigung. Vor allem jedoch mit dem Wie des Weiterlebens. Nicht jedoch mit Beten oder Fegefeuer. Nach dem Unfalltod von Frau und Kind, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, ist der holländische Dokumentarfilmer im soeben wiedervereinigten Berlin gestrandet. In der erzählerischen Gegenwart des Romans treibt er durch die winterlichen Nächte jener Großstadt, trifft seine Freunde, begegnet einer jungen Frau namens Elik – und verliebt sich in sie. Möglicherweise weil diese vollkommen anders ist als Arthurs erste Ehefrau. Bindungsunfähig aufgrund von Kindheitstraumata, so könnte man ihr Wesen charakterisieren; oder auch fokussiert auf ihre eigene Arbeit, ein Dissertationsvorhaben, dass die spanische Königin Urraca ins Zentrum rückt. Mehr noch: Sie mit ihren ›Funkelaugen‹ kommt und schleicht durch Arthurs Nächte wie eine Katze, nimmt sich, was sie will und verschwindet danach erneut. Nicht spurlos, darauf legt Elik offenbar Wert, sodass Arthur ihr bis nach Madrid folgen kann. Dort erfährt er nicht nur, dass sie schwanger gewesen war, sondern auch, dass Elik das gemeinsame Kind abgetrieben habe, damit es kein ›Ersatz‹ für seinen verstorbenen Sohn werde. Arthur reagiert wie ein Mann auf Ausgeschlossenheit sowie Verlust und betrinkt sich erst einmal ordentlich. Als er ins Hotel zurücktorkelt, wird er überfallen, vehement verteidigt er gegen ebenjene Angreifer seine Kamera, sodass  er schwerst verletzt für längere Zeit ins Krankenhaus muss. Seine Freunde aus Berlin kommen, um ihn zu besuchen, ermuntern und ermutigen, denn das Leben habe gelebt zu werden. Auch teilt man Arthur mit, dass eine junge Frau an sein Krankenbett gekommen sei, die alsdann nach Santiago weitergereist wäre. Elik, wer sonst. Kaum entlassen, macht Arthur sich auf den Weg, fährt jedoch an jenem Wegweiser vorbei und zurück in den Norden. »Und wir? Ach wir …« – ein letzter Seufzer. Damit endet der Roman. Und unsere Diskussion dieses Werks kann beginnen … 

Drei Ebenen gliedern die Struktur, auf der primäres Augenmerk liegen soll:

Da ist zum einen Arthur Daanes eher regloses Leben vor der Begegnung mit Elik; und danach: ein turbulentes. Die Erzählung jener Zeitspanne vor-Elik zu Beginn des Romans wird vor allem durch angehaltene Zeit, die danach durch Zeitsprünge dominiert. Im angehaltenen Modus kann eine einzige Nacht schon mal auf gut einhundert Seiten ausgebreitet werden. Wiederholt wird über Arthur gesagt, seines sei die Sprache nicht, er brauche lange, um Geschehenes zu verdauen, alsdann erst könne er Ereignisse in Worte fassen. Im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich in Dialogen ausufernd über Kultur und Kulturgeschichte, Vergangenheit und Zukunft ausbreiten. Arthurs Welt hingegen sind die Bilder:

»Du denkst mit den Augen«, sagt seine Freundin Erna über ihn (S. 365).

Jene Gedankenbilder hält er filmisch fest – u.a. über das durch seine Historie verwundete Berlin zu Beginn der 1990er Jahre, welches Arthur als Flaneur erkundet. Diese (aussterbende) Figur definierte Cees Nooteboom in einem Essay folgendermaßen:

»Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, […] sie sind das Auge, das Protokoll, die Erinnerung, das Urteil und das Archiv, im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewußt.«

Arthurs Bildwelten kulminieren in einem einzigen eventuell zukünftigen Filmprojekt, für welches er erst Material sammelt, und das man vielleicht »Das Vergehen der Zeit in aller Stille« nennen könnte. Es sind minutenlange Aufnahmen gehender Füße, fallender Schneeflocken, sich im Wind bewegenden Grashalme … Ob daraus irgendwann einmal mehr entstehen mag, weiß Arthur selbst noch nicht zu sagen, sehr wohl jedoch dass dieser Film vermutlich unverkäuflich sein wird, und nur wenige Menschen je etwas bedeuten werde. Kunst ist ihm dieses Projekt, im Gegensatz zu den anderen Streifen, für die man ihn von heute auf morgen als Kameramann engagiert und die ihm nichts anderes bedeuten als Broterwerb, irrelevant, höchstens eine Ablenkung von seiner durch Verluste dominierten Gegenwart, an der sich durch Elik ja auch nichts ändern wird: 

»Vielleicht lief ja irgendwo ein netter Krieg. Für die anonyme Welt [privater Beziehungen] war es jetzt gerade nicht die richtige Zeit.« (S. 418) 

Für jenen Kunstfilm gibt es noch kein Konzept, nur eine vage Idee, aus jenem Material könne irgendwann sein Vermächtnis an die Welt entstehen; und diese Idee zu nähren, ihr die Langsamkeit des Wachsens zuzugestehen, ist Arthurs Absicht – und Nootebooms Verständnis für künstlerische Prozesse …

Als Interferenz in Arthurs Geschichte ist eine dritte Ebene tätig, ein Wir, welches sich des öfteren in die Erzählhandlung einmischt:

»Wir wieder. Immer nachts, so scheint es. Der Chor bei Sophokles hat eine Meinung. Wir nicht. Der Chor bei Heinrich V. bittet um ein Urteil. Tun wir auch nicht. Wir suchen uns die Nacht aus, weil ihr euch dann nicht rührt. Es ist die Zeit der Gedanken, des Resümierens oder einfach des Schlafs, bei dem ihr am ehesten Toten gleicht und es doch nicht seid.« (S. 299) 

Dieses Wir, das kommentiert, ordnet ab und an die Erzählfäden, gewährt uns einen Überblick über die Aktivitäten des gesamten Figureninventars oder behält sich die letzten Worte des Romans vor, beeindruckt in seinem Zusammenspiel mit der Haupthandlung.Mit ihrem reziproken Gestus steht diese Erzählperspektive (auch) für die Vergangenheit, die ewig in unsere Gegenwart flutet und kein Sein fern davon zu gestatten bereit ist. Eine Philosophie, die sich einerseits auf der primären Handlungsebene widerspiegelt: Eliks Kindheit als Tochter einer Alkoholikerin und eines maghrebinischen Vaters, der bald schon verschwand, die erfahrene Gewalt als kleines Mädchen vernarbte nicht nur ihre eine Gesichtshälfte, sondern gestaltet auch ihr gegenwärtiges Leben und all ihre Entscheidungen eindeutig mit; ebenso prägt Arthurs nicht verwundener Verlust von Frau und Sohn sein Verhalten. Die Dialoge der Freunde, welche sie des Nächtens in ihren Stammkneipen führen, kreisen gleichfalls um jene Thematik, die auch im Filmprojekt Arthurs wiederkehrt. Ein durchkomponierter Roman also, ein Stimmungsbild, so könnte man ihn gleichfalls bezeichnen, in dem es gegen Ende nochmals auf den Punkt gebracht wird:

»Manche Entscheidungen über das eigene Leben wurden in anderen Leben getroffen, und das nicht jetzt, sondern vor zehn oder zwanzig Jahren, in irgendeiner vorgeschichtlichen Zeit, an der man nicht beteiligt war. Etwas hatte dort geschlummert, war mitgetragen worden, bis es an einen anderen weitergegeben werden konnte, so gab es Formen des Bösen, die nicht aus der Welt wollten, die ihr verborgenes Leben führten, unsichtbare Wunden, Krankheitskeime, die auf ihre Chance warteten. Mit Schuld hatte das alles nichts zu tun […].« (S. 418) 

Man könnte, würde man – wie ich – nicht an Nootebooms Begriff eines Schicksals glauben wollen, das uns unentrinnbar übergestülpt wird, jedoch auch sagen, jenes Fegefeuer, mit dem wir zu kämpfen haben, lebenslang, sind uns einzig die anderen – und die Spuren, die sie in unserem Sein hinterlassen.    

 

 

Quellen:

Nooteboom, Cees: Allerseelen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1999. 

http://religionv1.orf.at/projekt03/religionen/christentum/Feste/ch_fe_allerseelen_fr.htm

Nooteboom, Cees: Die Sohlen der Erinnerung. Vgl.: https://www.zeit.de/1995/49/Die_Sohlen_der_Erinnerung/komplettansicht