Bereits die inhaltlichen Ingredienzien mögen manchem genügen, um zu dieser Lektüre zu greifen: Schließlich ist Freud ein Versprechen, nicht wahr?
Franz & der ›Deppendoktor‹
Franz, ein junger Bursche, wird 1937 von der alleinerziehenden Mutter nach dem Tod ihres Liebhabers, der ihren Alltag co-finanzierte, aus dem Salzkammergut nach Wien zu einem Verflossenen verfrachtet. Er beginnt bei ebenjenem Otto Trsnjek eine Trafikantenlehre, die vor allem auch das tägliche Studium der Zeitungen beinhaltet, erlebt Anschluss und erste Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, deren dämonische Kraft Franz früh durchschaut, kostet sie Otto doch das Leben, zwingt sie seinen Bekannten, den ›Deppendoktor‹ Sigmund Freud, mit dem sich Franz anfreundete, zur Migration. Die Böhmin Anezka hingegen, in die Franz sich verliebte, wählt sich die vermeintlich sichere Seite und zieht einen Liebhaber aus den Reihen der SS dem Heiratsantrag samt Fluchtplan, den Franz mehr stammelt als anbietet, vor. Sie wird – im Gegensatz zu Franz – überleben; doch auch das ist bloß wahrscheinlich, wird mit dem finalen Datum des 12. März 1945 nur angedeutet.
Der Nimbus eines Namens
Inhaltlich lässt sich zu diesem Werk wenig kommentieren. Freud wirkt mehr durch den Nimbus seines Namens, denn durch verblüffende oder die Handlung vorantreibende Dialogbeiträge. Dass er zu jener Zeit nicht nur betagt, sondern bereits im physischen Verfall begriffen ist, kann als impliziter Verweis auf den drohenden Untergang Österreichs gelesen werden: Die Intelligenz hat in solchen Zeiten zu fliehen – und ist dem Tod geweiht. Freud fungiert folglich im Roman eher als Symbol, denn dass seine einst revolutionären Ideen in ihrer Tiefe behandelt würden. Dies mag manche Lesenden enttäuschen. Stimmig bleibt es im Gesamtkontext trotzdem. Ähnlich verhält es sich mit dem Angebot der Liebesgeschichten zwischen Franz und Anezka, die keine ist, und dennoch das Verlangen nach dieser Ingredienz für diejenigen, die jenen Roman auf dieser Ebene lesen wollen, ausreichend bedient. Gleiches gilt für die historisch-politische Dimension. Das Erzählkonstrukt lässt sich nicht anders zusammenfassen als mit den Worten: Klug gewählt ist der Plot, der jedem etwas für seine Tasse Tee anbietet. Klingt in dieser verknappten Form nach Verriss, und soll es dennoch nicht sein, ganz im Gegenteil! Denn auch für denjenigen, der über Erzähluniversen gerne nachsinnt und kein Freund der Instantliteratur ist, bietet dieser Roman aufgrund seiner impliziten Erzählweise ausreichend Stoff durch sein Figureninventar. Unter impliziter Erzählweise ist die Kunst der Andeutung zu verstehen, das Spiel der doppelten Böden, und so nimmt es wenig Wunder, dass »Der Trafikant« gerne für Lesezirkel und Schulklassen zur Lektüre gewählt wird, lässt sich über Protagonist*innen wie Anezka oder Otto, die Rolle des Roten Egon oder die Bedeutung der Krücken Ottos, der ein Bein im ersten Weltkrieg ließ, doch stundenlang parlieren, wenn man ein wenig gesprächig ist.
… unaufgeregtes Erzählen …
Zudem fließt Seethalers Sprache leise und unaufgeregt dahin, sammelt sich in Bildern. So wird Szene um Szene wird montiert. Dazwischen klaffende Zeitfenster, die füllen wir Lesende ohne Probleme aufgrund unserer Erfahrung der filmischen Montagetechnik. Komische Sequenzen, die erfreulicherweise ohne jeden Brachialhumor auskommen, wie jene des Anezka-Dialogs zwischen Franz und Freud (S. 130) runden den Roman atmosphärisch ab, fluten manchmal eher in das Wehmütige – wie das Affichieren der Traumsequenzen an der Eingangstür der Trafik –, oder lassen uns die herb-zärtliche Figur der Mutter begreifen.
Die Kunst der Andeutung
Neben der szenischen Montagetechnik nutzt Seethaler außerdem die Kunst der Andeutungen, die sich – innerhalb der darauf folgenden Sätze – sogleich entschlüsseln, es bedarf keiner Geduld, keines im-Blick-Behaltens, wie bei der komplexen Verwobenheit der Motive, bei der sich erst im Nachhinein der Lektüre das Bildnis wahrhaftig enthüllt. Gut lässt sich diese Technik anhand des folgenden Abschnittbeginns erläutern: »Einmal pro Woche, nicht mehr und nicht weniger, das war die Abmachung [Welche Abmachung? In Bezug auf was?]. ›Franzl‹, hatte die Mutter am Abend vor seiner Abreise gesagt und ihm dabei mit dem Rücken ihres Zeigefingers leicht über die Wange gestrichen, ›du schreibst mir jede Woche eine Postkarte, weil eine Mutter muss wissen, wie es ihrem Kind geht!‹« (S. 33) Und schon ist man im Bilde …
Ratten überleben immer
Ein klug konstruierter Roman, eine berührende Leseerfahrung, die man nicht missen möchte, insbesondere auch ob der Darstellung des Eintauchen des Landeis Franz in die ›stinkende‹ Stadt; sprachlich ohne eckende Holprigkeiten oder allzu platte Erklärungen zur Figurenpsychologie, ausgebreitet in einem unaufgeregt fließenden Erzählmodus. Dieser bewirkt zwar auch kein staunendes »Wow!« über verblüffende Erzählhaltungen, neuartige Kunstgriffe oder famose Sprachbilder, was mich final doch ein wenig mit Bedauern die letzte Seite wenden ließ. Lassen Sie es mich am letzten Auftauchen Anezkas erläutern: Es tat nicht not. Dass die Ratten überleben werden, hätten wir auch so gewusst … Folglich lässt es sich nur als Zugeständnis an den Geschmack des Mainstream-Publikums lesen, was schade ist, aber der Lebensdauer, die gewährt wird, sicherlich zuträglich ist.
Quelle:
Seethaler, Robert: Der Trafikant. Zürich, Berlin: Kein & Aber 2012.