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Anna Enquist »Die Betäubung«. Oder: Von der »Erbschaft des Herrn de Leon« bis zu diesem Tag

Eine geniale Idee, mit Verlaub, die in dieser Projektreihe anklingt; nicht nur zur Förderung der Welthaltigkeit der Literatur, sondern auch der heilenden Kraft der Literatur wegen. Ich persönlich glaube nach wie vor an sie, da mich Lektüre doch durch manch elende Lebenskrise trug, von Kindheit an bis heute: Der Zauber der Lyrik beruhigte mich und vermittelte meiner klaustrophobischen Seele Weite als ich meinen Schädel in ›die Röhre‹ zu stecken hatte, Romane gaben mir die Kraft Wochen, Monate im Krankenhaus zu überstehen, und das Eintauchen in die Gedankenwelten Gleichgesinnter in Essays und Belletristik verhindern, dass ich am Zustand der Welt um mich verzweifle. 

Vielleicht neige ich auch daher seit vielen Jahren dazu, von geschätzten Kolleg*innen alles Erhältliche zu lesen. Als mir 1997 der bei Luchterhand erschienene Roman »Die Erbschaft des Herrn de Leon« der Niederländerin Anna Enquist in die Finger kam, las ich: »Der in der Luft baumelnde Flügel zeichnete sich wie ein verbranntes Kotelett gegen die schneebedeckten Bergspitzen ab.« Mit diesem Satz beginnt Enquists grandioser Roman, der mich nicht bloß des Inhalts wegen begeisterte, sondern vor allem aufgrund der verwobenen Erzählkunst und der ungemein dichten Figurengestaltung. Fünfzehn Jahre später und von der gleichen Übersetzerin – Hanni Ehlers – ins Deutsche übertragen, lautet der erste Satz in Enquists »Betäubung«, der im Rahmen jenes Projekts »Literatur & Heilkunde« entstand: »Drik de Jong wartet.« 

 

 

Was bitte ist dazwischen geschehen? 

 

 

Knappe Sätze finden sich durchaus auch in der »Erbschaft«. Dort werden sie zum Stakkato genutzt, um die Hast oder auch die Besorgtheit zu zeigen, die Angst einer Figur, der keine Zeit bleibt, um wohlformuliert einen Gedanken zu äußern. Die Knappheit dient folglich stets einem bestimmten Zweck und fügt sich dadurch ausgezeichnet in die allgemeine Erzählsprache der jeweiligen Figuren ein. Hiermit ist bereits ein wichtiges Stichwort gefallen: In der »Erbschaft« ebenso wie in seinem Vorgänger »Das Meisterstück« darf jede Figur ihrem eigenen Duktus folgen, unterschiedliche Sprachstile der einzelnen Figuren werden zu einem Gesamtkunstwerk kombiniert. 

 

Anders verhält es sich in der »Betäubung«: Dieses Werk ist  klassisch aufgebaut, es wird chronologisch erzählt, abwechselnd fungieren der Bruder Drik und seine Schwester Suzan als personale Erzähler. Doch spricht Drik wie Suzan. Es bestimmen nicht mehr die Figuren ihre eigene Sprache, sondern ein anderes Element kommt zum Tragen … – und ja, da es mir während der vergangen Jahre so oft um die Ohren geknallt wurde, scheint mir als wäre es ›der Markt‹. Dieses ominöse Etwas, auf den es seit einigen Jahren ›unbedingt‹ Rücksicht zu nehmen gilt: ›Der Markt‹ verlangt einfache Sprache, ›der Markt‹ verordnet kurze Sätze, ›der Markt‹ fordert konsumfähige Geschichten. Mit Verlaub: Ich kann es nicht mehr hören! Wir sind doch keine Marketingagent*innen, die mit einem möglichst schreienden, schrill-knackigen Slogan um zehn Sekunden Aufmerksamkeit kämpfen, welche um jeden Preis erzielt zu werden hat, damit ordentlich gekauft wird. Wir produzieren doch bitte keine Konsumartikel, die man mal rasch im Zwischendurch in sich hineinstopft, sofort wieder vergisst und damit hat es sich. Auch das Argument, Sprache verändere sich eben, unsere heutige Welt käme gut und gerne mit ihrem von Jahr zu Jahr begrenzteren Vokabular aus, das jedoch prägnanter geworden sei, ein Terminus ersetze eben zwanzig Synonyme, halleluja, man finde sich damit ab. Solch Wortarmut mag zwar für Alltagsdialoge genügen, die oft eher dazu dienen, einem Du zu signalisieren, es werde eh nicht in seiner Existenz ignoriert, denn einer wirklichen Kommunikation. Doch bitte nicht für die Kunst! Und selbst auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, sei an dieser Stelle der Nobelpreisträger für Literatur Joseph Brodsky zitiert: »Nur wenn man davon überzeugt ist, daß die Entwicklung des homo sapiens zum Stillstand kommen sollte, muß die Literatur die Sprache des Volkes sprechen. Andernfalls sollte das Volk die Sprache der Literatur sprechen« (SD. S. 65)   

 

 

Erzählt mir, stellt dar – aber, bitte, erklärt mir doch nicht die Welt!

 

Ein Effekt jener Kürze und Einfachheit der Sprache, die Kritiker*innen heutzutage gerne als ›nüchtern‹ und ›klar‹ bejubeln, ist neben einer tödlichen Langeweile ob eines Einheitstons in der Erzählsprache nämlich das Phänomen der Erläuterung. Ohne die geht es dann kaum. Meist beginnt sie in simplen Anhängseln an die Verba dicendi ihr Unwesen zu treiben: Da wird nach erfolgter direkter Rede erneut betont, dass ›ernst‹ oder ›enttäuscht‹, ja, ›feierlich‹ gar gesprochen wurde. Das hätte sich auch in der direkten Rede selbst verdeutlichen lassen! Naturgemäß sind alsdann Reaktionen auf den zuvor erfolgten Sprechakt ebenso zu erläutern: Die Blicke werden ›erstarrt, ›frostig‹ oder ›erwartungsvoll‹. Und häufig wird in Enquists »Betäubung« ›gebrummt‹. Das ist bitte sehr die Ausbeute meiner Analyse auf fünf Seiten – die Hälfte von Drik, die Hälfte von Suzan. Ich frage mich, was transportieren dann noch die direkten Reden, wenn sie offenbar einer Erläuterung bedürfen? Nichts Relevantes wohl. Und der Duktus des Sprechaktes selbst, ob ›feierlich‹ oder ›enttäuscht‹, kennt keinen Unterschied mehr, denn wir Lesende sind ja wohl in fünfzehn Jahren nicht derartig verblödet, dass es uns nicht zuzutrauen wäre, aus einem Redebeitrag einen eigenen Schluss zu ziehen, ob da jemandem nun feierlich zumute sei oder sie enttäuscht wäre!

(Oder doch?)

 

Das Telling ist eine Ödnis,

eine düstere Ebene, leblos  

 

 

 

Beigefügte Erläuterungen ziehen sich naturgemäß in weiterer Folge ebenso in die Erzählabschnitte: Es werden keine Szenen mehr kreiert, was mehr Zeit und Denkleistung des Schreibenden wie des Lesenden in Anspruch nehmen würde, sondern bloße Behauptungen werden Schwarz auf Weiß ins Buch gesetzt. Das liest sich dann zum Beispiel so:

»Abends schlägt er in der Mitgliederliste der International Psychoanalytik Association die Telefonnummer einer schwedischen Kollegin nach, mit der er seit Jahren zusammen essen geht, wenn sie sich auf einem Kongress treffen. In der Zeit zwischen den Kongressen haben sie nie Kontakt zueinander, aber wenn sie sich dann sehen, ist die Atmosphäre angenehm und vertraut. Sie ist in seinem Alter, sie arbeitet an der Universität, und sie kann gut zuhören. Drik ruft sie an. Sie ist zu Hause und hat Zeit. Sie hört zu.« (B., S. 264)

Nüchtern? Klar? Oder schlicht ein protokollarisches Elend an Sprachlosigkeit? Ein berichtender Stil, der ausgezeichnet in Synopsis und Treatment passt, aber als dominante Form der Narration befremdet. Da dünkt mich ja jede Betriebsanleitung, die mit automatischem Übersetzungsprogramm vom Koreanischen ins Deutsche ihre skurrilen Wortgebilde manövrierte phantasievoller und amüsanter als solch ein beschreibender Abschnitt, welchen die Literaturwissenschaft den Modus des Telling nennt. Nach Henry James uralter Maxime: »Show, don’t tell!« Oder um es mit Virginia Woolf zu sagen: »Courage & patience: Take each scene quietly: Compose!«  

Im Zusammenspiel mit komponierten Szenen mag Telling durchaus eine spannende Erzählhaltung sein, des belebenden Wechsels wegen. Dominiert sie jedoch oder ist sie der einzige Erzählmodus, wird die Sache zäh. In »Betäubung« zum Beispiel passt der Sprachstil des Telling genial zu jenen Abschnitten im Operationssaal, wo der Fokus der Szene auf der Arbeit der einzelnen Ärzt*innen, ihr steter, konzentrierter Blick auf Patient*innen im Vordergrund steht und die sprachlichen Äußerungen schlicht dem Informationsaustausch dienen. Ein Satz wie ›Würden Sie so freundlich sein und mir bitte die Tupfer reichen?‹ wäre in jenem Setting vermutlich eher eine auffallende Ausnahme – und würde eine Menge über die sprechende Figur, die Interaktion und die Gesamtsituation erzählen. In der »Betäubung« heißt es mehrheitlich bloß »Tupfer!«. Und gut so. Was aber, wenn dieser Erzählmodus auch in alle andern Lebensbereiche der Figuren sich ausweitet, ihr Privatleben infiziert? Dann denken sie dem Lesenden Dinge vor, die als Gedanke nicht überzeugen, weil die Figur aus sich heraus keine Notwendigkeit hat, darüber nachzudenken. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Ein Beispiel: Drik, der Therapeut:

»Er wartet in seinem eigenen Wartezimmer, das eigentlich kein Zimmer ist, sondern eine Nische unter der Treppe, in die nur ein einziger Sessel passt.« (B., S. 7) Weshalb bitte sollte Drik das und auf diese Art denken, warum sollte er sich genötigt fühlen dies zu erzählen – außer damit der Leser einen Eindruck der örtlichen Verhältnisse gewinne. Dieser Grund ist aber keiner. Er reicht nicht aus. Er geht an der Figur und ihrem Sein vorbei, nimmt sie nicht ernst. Deshalb wirken solche Telling-Passagen, die ihre Begründung nicht in sich tragen, häufig wie eine faule Lösung, die nicht überzeugt.

 

Ein Verhängnis oder

mit einem Lamborghini gegen die Wand

 

 

Abgesehen von der Sprache ist auch der Inhalt der »Betäubung« nicht ganz geglückt. Es wird zumindest ein Zufall zu viel bemüht, um glaubwürdig zu scheinen: Der Psychotherapeut Drik übernimmt als neuen Patienten just jenen jungen Mann, der für seine berufliche Laufbahn eine Lehranalyse benötigt und der im Krankenhaus Driks Schwester Suzan als Supervisorin unterstellt ist, die ebenda als Anästhesistin arbeitet. Während ruhiger Nachtdienste schieben Suzan und ihr Schützling auch schon mal ein Nümmerchen. Oder knutschen unter dem Operationstisch, weil eh gerade ein Sauerstoffschlauch gefunden werden will, der abgeklemmt ist. All dem noch nicht genug, vögelt zufällig der junge Mann außerdem mit einer jungen Frau – weshalb auch nicht? Weil es sich bei jener Studentin – zufällig! – um  Suzans Tochter und Driks Nichte handelt … Mal ganz abgesehen von mindestens einem Zufall zu viel: Seit im Jahr 1991 Josephine Hart den Roman »Verführung« schrieb und David Hare ein Drehbuch dazu verfasste, welches Louis Malle  1992 unter dem Titel »Damage« verfilmte, sollte man sich für den Konflikt, dass sich ein Kind und ein Elternteil ein erotisches Objekt teilen, tunlichst eine vernünftige Story einfallen lassen, will man mit dem eigenen Plot nicht mit 350 km/h gegen die Wand klatschen.

 

In der »Betäubung« mangelt es also nicht nur an der sprachlichen sowie szenischen Ausgestaltung, sondern auch am Plot allgemein. Als bereichernde Lektüreerfahrung sind andererseits die wirklich interessanten Einblicke in zwei Berufsfelder zu nennen, die man während der Lektüre gewinnen kann: die Anästhesiologie und die Psychotherapie.

 

Wie leben mit all dem Schmerz,

den uns dies Leben beschert?

 

Gelungen ist auch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Frage, die im Titel bereits mitschwingt und die den gesamten Subtext des Werkes dominiert: Wie soll man mit der Erfahrung überwältigenden Schmerzes umgehen? Betäubt man ihn? Flieht man seiner, weil eine Auseinandersetzung damit, kaum etwas am Moment ändert? Oder bemüht man den Verstand, seziert man den Schmerz und hofft daraus einen Handlungsspielraum zu generieren, der alsdann ein Weiterleben ermöglicht?

In »Betäubung« führen beide denkbare Wege am Ende zu gar nichts. Drik, der Analytiker, begegnet zuerst noch dem Tod seiner Frau an einer ›ernstlichen‹ Krankheit (B. S.8) durch Erkennen, Benennen, Annehmen. Nach dem innerfamiliären Eklat rund um jenes Dreieck, gibt er seinen Beruf auf, hockt in einem heruntergekommenen Bauernhof, hat Analyse gegen Whiskyflasche getauscht und als einziges Zukunftsprojekt nur die Errichtung eines Zaunes um seinen Hof im Sinn: Damit ja kein Spaziergänger an seine Tür klopfe … Auch das erinnert an »Verhängnis«.

Suzan, die als Anästhesistin schon von Berufs wegen betäubt, wählte sich von Anfang an das Handeln. Diese Form des Umgangs mit dem Verlust der Schwägerin, die zugleich ihre engste Freundin war, hielt Suzan im Alltagsgeschehen aufrecht und verankerte sie scheinbar. Doch was im beruflichen Alltag eingeübt wurde, diese Aufrechterhaltung einer inneren Distanz, muss im privaten Kontext nicht unbedingt gelingen. Suzan funktioniert – bis sie in jene Affäre flieht und final alles verliert:  Mann, Tochter, Bruder. Der berufliche Alltag ist die einzige Konstante ihres Lebens, die danach noch bleibt. Es scheint, als wolle Enquist sagen, werde der Schmerz zu groß, bleibe nur die Betäubung – zumindest zeitweise. Eine spannende Aussage, insbesondere wenn man bedenkt, dass Anna Enquist selbst als Therapeutin tätig ist.

Zusätzlich wird im Nebenerzählstrang des Romans auch ein Forschungsvorhaben fokussiert, an dem Suzan arbeitet: Können sich Patient*innen wirklich an Ereignisse erinnern, die während ihrer Betäubung geschahen? An den Schmerz, der ihnen während der Operation zugefügt wird, an die Unfähigkeit sich zu bewegen, sich zu artikulieren, an Kommentare anderer im Saal? Nein, so lautet der vorläufige Befund Suzans. Woran sich Patient*innen zu erinnern glauben, sind viel mehr Elemente aus dem Davor und Danach, die sich ähnlich einem Traumgebilde zusammengefügen – solange während der Narkose selbst keine Panne eintritt. Für das Hauptthema des Werkes ließe sich daher folgender Schluss ziehen: Auch in Zeiten der Betäubung existiert das Empfinden des Schmerzes. Er wird nur beiseite geschoben. Der Schmerz verzerrt das Davor und das Danach. Am Erleben des Schmerzes selbst führt folglich kein Weg vorbei. Nur seine Dosierung steuern wir; und das oft unbewusst und nicht immer zu unserem Besten.

 

Quellen:

Brodsky, Joseph: Der sterbliche Dichter. Essays. Frankfurt a. M.: Fischer 2000. (SD)

Enquist, Anna: Die Betäubung. München: btb 2014. (B.)

Enquist, Anna: Die Erbschaft des Herrn de Leon. Luchterhand 1997.