Zwei Uhr fünfundvierzig morgens, der Wecker mahnt zum Aufbruch. Im Halbschlaf in die Klamotten, das Auto wartet seit dem Abend bepackt vor dem Tor. Über Mikulov und Brno geht es Richtung Prag, ich am Beifahrersitz, zu meinen Füßen: Laptop, Aufnahmegerät. Robert Gampus am Steuer, sein sind Kamera und Stativ, die auf der Rückbank ihrem Einsatzort entgegen schaukeln. Es wird ein langer Tag werden. Ich döse ein; schrecke jedes Mal hoch, rucken wir über eine der Kanten der aufgefrorenen Betonplatten der Autobahn.
Neun Uhr dreizehn, das Auto wird am Presse-Parkplatz des Messegeländes abgestellt. Hier herrscht bereits Hochbetrieb. Journalistinnen schleppen an ihrem technischen Equipment, Manga-Fans tummeln sich in phantasievollen Kostümen, Menschen jedweden Alters strömen auf den Haupteingang zu. Wir machen uns auf den Weg, die Photos werden von Begegnungen erzählen, neue und bekannte Gesichter – mich erinnert die Buchmesse in Leipzig immer an ein Familientreffen einer weit verzweigten Mischpoche. Vielleicht weil ich in solch eine hineingeboren wurde; und in eine Welt der Reflexionen, ein Wortkind in beschwiegenen Geheimnissen … In Anya Schutzbachs (»Weissbooks«) Enthusiasmus und Buchliebe werde ich mich wiederfinden, werde Daniela Kochs (»Rotpunktverlag/Edition Blau«) versunkenen Reflexionen folgen, mich in Daniel Mursas (»Agentur Eggers«) Schlafmangel spiegeln, werde Kristine Listaus (»Verbrecher Verlag«) quirligen Charakter ebenso schätzen wie Nina Arrowsmiths (»Agentur Arrowsmith«) durchdachte Überlegungen, mich an Alexander Simons (»Agentur Simon«) pointierten Wortspitzen erfreuen und über Petra Gropps (»S. Fischer«) Optimismus staunen.
Veränderungen im Literarischen Feld
Ausnahmsweise bin ich nicht als ihr Werk präsentierende Literatin nach Leipzig gereist, sondern weil ich das Gespräch suchen will, da mich die Veränderungen, die ich während der letzten zwei, drei Jahre im literarischen Feld wahrnahm, beunruhigen. ›Schlechte Großwetterlage‹, nannte dies die Lektorin Angelika Klammer mir gegenüber. Mir dünkt die Verschiebung von Literatur als Kunst zu Konsumware und Unterhaltung eher eine Apokalypse. Es ist als habe man allüberall beschlossen, die Feinkost durch Fast Food zu ersetzen. Nichts gegen Pommes ab und an. Als einziges Nahrungsmittel jedoch bitte nicht!
Keineswegs neu ist, dass Moden das Geschäft mitbestimmen. Ebenso wenig, dass anspruchsvolle Literatur nicht en vogue ist, vermutlich prägte die Anzahl ihrer Liebhaber*innen wohl noch nie Zahlenschwere. Doch was, wenn Literatur als Kunst zum Luxusgut wird, die sich eine Gesellschaft nicht mehr leisten will? Mit dem Presseausweis um den Hals versuche ich, meine Unruhe und die daraus resultierende These im Fachjargon der Branche zu formulieren: Die Programmplätze für Unterhaltung in der Bandbreite von trivial bis gehoben schwemmen den Markt; wenige sind noch der Literatur als Kunstform vorbehalten, und diese geringe Anzahl wird selbst in den unabhängigen Verlagen überwiegend durch sogenannte Hausautor*innen bestückt, einige wenige renommierte Geschwister beharren noch auf ihren Sitzplätzen in den großen Häusern, manch Jungem gelingt der Eintritt da oder dort via Agentur. Sollten diese ihre Vorschüsse nicht einspielen, sollten sich andere Varianten des Erzählens als lukrativer aufdrängen, droht auch ihnen das Aus.
Kommunizierende Röhren
Bislang hieß Mischkalkulation das Zauberwort im Leben von uns Literat*innen: Preise und Stipendien, journalistische Arbeit und Lehrtätigkeit stützen die Einnahmen durch Lesungen und Buchtantiemen, die nur bei wenigen Verfasser*innen der Hochliteratur jemals genügen würden, um zu überleben. Diese Wirtschaftsform prägte gleichfalls die Verlagsstruktur über Jahrzehnte entscheidend: Bewusst verankerte man Titel der Hochliteratur des Renommees wegen auf den eigenen Programmplätzen, wissend, dass sie vermutlich nicht wie warme Semmeln über die Ladentheke wandern werden. Gestützt durch Unterhaltungsliteratur und (populäres) Sachbuch konnte dennoch die gesamte Mischpoche leben. Was aber, wenn sich im literarischen Feld die Mischung verändert, was, wenn Säulen einbrechen? Der Börsenverein spricht von sinkenden Zahlen der Leser*innen, der Buchhandel stöhnt seit langem, Verlage sparen im Lektorat, in der Presseabteilung ein. Hinzu kommt, dass sich mittlerweile »auch die Literatur unbedingt rechnen« müsse, so Daniel Mursa. In logischer Konsequenz – die jeder denkende Mensch an den Fingern einer Hand abzählen kann – stelle man die Literat*innen folglich früher oder später vor die Alternative ›aufgeben‹ oder ›Mainstream taugliche Ware‹ liefern. In den Rezensionen liest sich die Betrachtung letzterer dann gerne als ›klare Sprache‹, ›nüchtern und nachvollziehbar‹, ›zeitgemäß‹, da ihm oder ihr ›der Spagat gelinge‹ zwischen Literatur und ›leichter Lesbarkeit‹ in der ›unterhaltenden Erzählung‹. ›Narration‹ als Terminus wäre schon zu schwierig; und von Kunst sollten wir lieber schweigen. Die schreckt bloß Lesende ab. Solche Wahrheiten vermögen wir Sprachkünstler*innen durchaus auch schönzufärben: Im Trend sei eine Literatur des Dazwischen, eine Form der gehobenen Unterhaltung.
Faktor 1: Die Autorinnen und Autoren
Während in Foren und Medien noch kein Wort davon zu lesen ist, munkelten in meiner Mischpoche die ›Geschwister‹: Es werden Köpfe rollen, vor allem in der ernsten Literatur – unsere Köpfe, mit Verlaub. Der eine plant daher ›etwas Humorvolles‹, der andere ›die einfache Sprache‹, die dritte schließt die Augen, der vierte sagt, und wenn es vorbei sein sollte, ist es auch gut, er müsse nichts mehr beweisen. Ich hörte ihnen zu und schwieg, während es in mir tobt: Wie soll man leben – ohne die Literatur? Wenn sie alles ist, was einem von Wert scheint, wenn sie das innerste Sein ist?
Ich beobachtete Festivalankündigungen, Verlagsprogramme und stellte in Österreich einen signifikanten Anstieg der ebenda vertretenen männlichen Kollegen fest. Sind es also zuerst die weiblichen Gesichter, die entfernt werden? Mein optimistisches Ich hofft auf Zufall, nichts als Zufall, womöglich sind alles nur Unkenrufe und Kassandra-Stimmen ohne Substanz, die gesamte Mischpoche neigt ja bekanntlich zu Gejammer und zur Panik. Ich sehe mich in den Messehallen um, hoffe, an diesem Ort, an dem sich alle vom Bruder bis zur Großtante versammeln, Antworten zu finden; im besten Fall. Zumindest jedoch differenzierte Sichtweisen, um meine These zu prüfen, sie entweder zu untermauern oder sie als Branchengesumse ad acta legen zu dürfen, um danach konzentriert weiterarbeiten zu können.
Als erstes treffe ich Anya Schutzbach von »Weissbooks«. Sie wird sich nicht um klare Worte drücken und meine Ausgangsbeobachtung leider bestätigen: »In der Tat! Die Programmplätze für die ernste Literatur, für die gehobene Belletristik, für die Feuilletonliteratur sind gesunken. Ich höre auch von größeren Verlagshäusern, die diese Programmsparten eher reduzieren.«
Und wen zum Teufel kümmert’s?
Geschäftiges Treiben rundum. Die Branche feiert sich selbst. Ich frage mich, wer macht sich außer mir Sorgen? Die Agenturen sind offenbar eher aufgrund der Buchhändler und ihres Sterbens bekümmert, die Verlagsleute sorgen sich um die schwindenden Leser und die Selfpublishing-Anbieter um ihr Portefeuille. Nur um die Autor*innen scheint sich keiner Gedanken zu machen. Eindeutig sind sie das ersetzbare Glied in der Kette. Schließlich stehen hinter jeder einzelnen von uns hunderte andere, die gleichfalls glauben, sie hätten das Zeug dazu, sie möchten ihr Glück versuchen, ihr Leben sei ihr Buch in ihrer Tasche oder – und das sind die Wenigsten unter ihnen: Sie müssten schreiben, denn nur so können sie in der Welt sein, ihr Werk entstehe aus tiefer Notwendigkeit. Dann sei es gut, schrieb Rainer Maria Rilke und fuhr fort: »In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes.« Würden wir Rilke zu unserem Gespräch in diese Hallen bitten, sähe er wohl ganz schön alt aus, und seiner gefurchten Stirn wäre vermutlich ähnliche Skepsis abzulesen wie mein Gesicht sie zeigt; doch ist er ein alter Hut – und die Branche? Liebt ›neue Stimmen‹.
»Ich hoffe, dass man sich in der Verlagsarbeit eine Offenheit für neue Autoren bewahrt. In der Schweiz ist die Literaturszene eine kleine, da wird sehr neugierig auf neue Stimmen geschaut«, sagt die Verlegerin Daniela Koch. »Ich habe das Gefühl, diese werden erst einmal ein bisschen aufgesogen, man gefällt sich im Entdecken. Neue Stimmen erhalten wahnsinnig viele Vorschusslorbeeren. Deshalb finde ich es viel schwieriger, Autoren bei der Stange zu halten, die ein viertes, fünftes Buch publizieren, ohne den ganz großen Durchbruch zu erleben. Die zu motivieren, dass sie dranbleiben, dass sie nicht den Mut verlieren, weil sie in meinen Augen tolle Bücher schreiben! Tatsächlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Autoren mit weniger Neugier rezipiert werden als die Jungen, die sich möglicherweise auch besser vermarkten können.«
Wie in unserer Gesellschaft bricht die Mitte weg. Ich weiß nicht, ob sich Vermarktungsfähigkeit oder der Wille dazu an das geringere Alter koppeln lassen, Fakt ist, manche der Jungen haben bereits Agenturverträge, bevor sie noch ihr Debüt erlebt haben, buchen Seminare zur Einkommenssteuererklärung ehe sie die Grenze des Freibetrags überschreiten. Gleich geblieben ist hingegen eines: Debütant*innen glauben, die Welt stünde still, erblicke ihr Werk das Licht der Welt, und jeder Kritiker wolle sie feiern. Nun, wir waren kaum anders. Bloß weniger gut informiert und ohne Agenturen an unserer Seite. Brauchen wir alten Hasen deshalb besonders die Treue jener Verlage, welche sich noch Literatur als eine Gattung der Kunst leisten wollen, die nicht von ›Texten‹ sprechen, wenn sie Narration meinen und keinen ›Content einkaufen‹ wollen, sondern ein Werk, welches sich tunlichst noch in der Backlist über Jahrzehnte bewährt?
Unter den bekannten Gesichtern treffe ich Moderatoren und Journalistinnen, die mich mitten am Gang und in den Kojen befragen, wie es sein könne, dass ich heuer hier keinen Titel präsentiere. Man habe sich schon gefragt, was mit mir los sei und – wie bitte? Erst in diesem Herbst erscheine das nächste Werk? Ich bin versucht zu kommentieren, das letzte sei doch gerade erst Winter 2017 erschienen, da wäre Oktober 2019 ja nicht ›so fern‹.
Bloß weil es »Requiem« hieß, brauche man nicht die Totenglocken zu läuten. Trotzdem rührt ihre Sorge mich, ja, diese spricht aus den Worten jener mir liebenswerte Cousins und Cousinen in der Mischpoche, denen gleichfalls der Presseausweis die Brust ziert und die sinkende Zahl der Feuilletonseiten aufs Gemüt drückt: Ob die Unfallreihe im letzten Sommer hoffentlich passé sei, wie es um meine Gesundheit stünde, dass man sich auf mein Buch im Herbst freue, man bitte um Informationen. Die verspreche ich gerne, verabschiede mich mit herzlicher Umarmung. Ziehe mich in eine Ecke zurück, um darüber nachzudenken, wie Leserschwund und Verpflichtung auf den Markt beizukommen sei, wenn schon Programmplätze schwinden.
Erschienen in: Die Presse, Spectrum, 1. Juni 2019
Photos: Robert Gampus, Arthof
(FORTSETZUNG TEIL 2: folgt am 9. Juni)