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Literarische Mischpoche (Teil 2)

 

 

 

Faktor 2: Die Lesenden

 

Man habe Leser*innen verloren, die Umsätze sinken! Dieses Gespenst geistert um jede Ecke, seit der deutsche Börsenverein zu Jahresbeginn 2018 seine Studie zum Buchmarkt veröffentlichte. Die Zahl – 6,1 Millionen Buchkäufer weniger – ist ja auf den ersten Blick wirklich erschreckend, selbst wenn sie den Zeitraum 2012 bis 2016 umfasst. Liest man weiter in der Studie, erfährt man, dass sich der existente Käuferschwund nur bedingt auf die Umsätze auswirkte: »[…] was im Umkehrschluss bedeutet, dass weniger Käufer mehr oder teurere Bücher kauften, die Kaufintensität also zugenommen hat.«

Sprich, Literaturaffine lesen wie eh und je; die Zeiten, welche für Chat, Serien, Videos und ähnliche Unterhaltungsmedien aufgewandt wurden, nahmen hingegen eklatant zu, was für manche Altersgruppen wohl keinen, der die Augen im Flanieren durch die Welt offen hielt, überraschen wird. Keineswegs werde ein Leserschwund in Konsequenz der medialen Nutzung die anspruchsvolle Literatur direkt betreffen, ist der Agent Alexander Simon überzeugt:

»Die Verlage, die am meisten unter dem Rückgang leiden, sind die Unterhaltungsverlage. Dieses Publikum verschwindet teilweise zu Netflix, Amazon prime, Sky etc. Oder liest zumindest weniger als vorher. Die Literaturliebhaber, die anspruchsvolle Literatur lesen, haben meist kein Netflix; und auch kein Amazon prime. Insofern glaube ich, dass der Literaturmarkt sehr viel stabiler ist als die Unterhaltung. Es geht einfach um die Ersetzbarkeit. Ob Sie jetzt den fünften Teil einer Reihe von Rosamunde Pilcher oder ich weiß nicht was lesen: Das ist vollkommen austauschbar. Da können Sie genauso gut vor der Glotze sitzen und die nächste Netflix-Serie gucken. Da gibt es ja auch zweifellos gute Sachen. Wenn Sie aber anspruchsvolle Literatur lesen, dann ist das eine andere Geschichte – als Netflix.«

Indirekt, füge ich hinzu, tangiert jedoch ein Schwund der Unterhaltungsliteratur in den großen Häusern sehr wohl mittels Mischkalkulation die anspruchsvolle Literatur – so fern sie dort bislang überhaupt noch einen Platz hatte.

 

Dr. Petra Gropp, S. Fischer Verlag
Dr. Petra Gropp, S. Fischer Verlag

Zu den Großen zählt zum Beispiel der S. Fischer Verlag. Die Lektorin Petra Gropp, charmante Optimistin der Branche, schrieb mir in einer e-Mail am 11.12.2018, »die Zeiten sind eben schwierig, wie sie es immer waren«. Man habe zur Bewerbung eines Titels »immer ausgeklügeltere Mittel und Wege zu finden und sich aus dem Grund zu konzentrieren« – auf einige wenige Literatur-Titel. Insgesamt, so gab der S. Fischer Verlag am 4. April 2019 bekannt, werde man um »ein Viertel weniger« Werke veröffentlichen. Dies betreffe vor allem das Taschenbuch. Eine Konzentration tue not, es sei »ein Dorf um jedes Buch« zu bauen: »Wir müssen uns viel genauer sehr früh überlegen, wie wir die Bücher positionieren, welche die stärksten Argumente sind, welche Leser wir mit welchen Büchern erreichen werden. Wir müssen sehr individuell überlegen, welcher der Erfolgsweg, der Weg des Buches zu den Lesern sein kann.«

 

Mittlerweile ist es in allen größeren Häusern gang und gäbe, dass von Anfang an, Vertriebsleute mit am virtuellen Tisch sitzen. Bevor noch die Vertreter*innen und ihre Reaktion auf das geplante Programm die Stimmung in die eine oder andere Richtung kippen lassen … Sollten die Autor*innen auf Verlagssuche nicht bereits am üblichen ignoranten Schweigen oder dem Formbrief verschieden sein, lauten die Absagen, die heutzutage in die elektronischen Postfächer flattern, jedenfalls durchaus originell: Die Arbeitsprobe sei gut, der Plot durchdacht, die Erzählstimmen überzeugen, doch ›bestsellertauglich‹ sei es leider nicht, sondern ›tatsächliche Literatur‹. Somit falle es in jene Gattung, bei der man sich ›zurückhalten‹ müsse, weshalb man sich zum Nein gezwungen sehe. Die alte Maxime, ein guter Stoff, gekonnt umgesetzt, setze sich auf jeden Fall durch und werde schon seinen Weg ins Buch finden, die noch immer gerne bemüht wird, ist Schnee von gestern, versickerndes Schmelzwasser und eines der Ammenmärchen, die sich die Mischpoche noch immer gerne erzählt. Ich verweise auf das Musil-Experiment und die abschlägigen Urteile zum »Mann ohne Eigenschaften«.

Klaus Wagenbach, dem wir unter anderem die Entdeckung Michel Houellebecqs in deutschsprachiger Übersetzung verdanken, erklärte bereits 2002: »Die Zukunft des Wagenbach Verlages ist gesichert! […] Durch Verlagskonzerne, die immer lauter, deutlicher, und blöder sagen, was sie wollen! Keine Bücher mit einer Auflage unter sechs- bis siebentausend!« Dies war seine Antwort auf die neu ausgerufenen Umsatzrenditen von fünfzehn anstelle der branchenüblichen zwei bis fünf Prozent. «Damit haben sie das Feld des Neuen, Innovativen, Experimentellen freigegeben! Die Zukunft der Bücher ist in die Hände der unabhängigen Verleger übergegangen!«

Und wie sieht es knapp zwanzig Jahre später dort aus? Wenn sich heutzutage gleichfalls zu rechnen hat, was sich noch nie rechnete? 

 

Nina Arrowsmith, Agentur Arrowsmith
Nina Arrowsmith, Agentur Arrowsmith

Die Agentin Nina Arrowsmith bleibt ob des »vermeintlichen Leserschwunds« gelassen. Es sei die pure Angst, dass man derzeit bemüht sei, auf Teufel komm raus marketingorientiert zu denken; »und weniger – wie das ein klassischer Verleger getan hätte – aus dem Bauch: weil ein Werk gut ist, inhaltlich. Das führt auch innerhalb der Verlage zu ziemlichen Reibereien, weil die Marketing- und Vertriebsabteilungen nicht immer die gleiche Sprache wie die Lektorate sprechen.«

Dass manches verabsäumt wurde, insbesondere im Hinblick auf jüngere Leserschichten, ist uns wohl allen bewusst. Nina Arrowsmith betrachtet auch dies zukunftsorientiert: Es wäre an der Zeit, »sich nicht mehr so elitär zu gebärden«, die klassische (und mit Verlaub für alle Beteiligten ungemein langweilige) Wasserglas-Lesung durch neue Formate zu ersetzen, welche den »Event-Charakter der Literatur« nutzen und hierdurch unter anderem das Erlebnis der Lektüre kommunizieren. Letzterem kann ich, Befürworterin des dialogischen Werkgesprächs mit dem Publikum, nur zustimmen. Die frontale Methode der gesenkten Augen, mag zwar durchaus in der Lage sein, dem geschriebenen Wort zum Klangraum im Ohr des Zuhörenden zu verhelfen. De facto aber genügt hierfür eine knappe Passage und diese bitte eher als performativer Akt; ergänzt um eine wohl durchdachte Interpunktion im geschriebenen Wort, die – ähnlich wie bei einer Musikpartitur – eine Lesart implizit vorschlägt. Doch ein direkter Kontakt mit Literat*innen, die eloquent Rede und Antwort stehen und Einblicke gewähren, weil sie zuvor während ihres Schreibprozesses diesen reflektierten und ihnen daher die Situation nicht unangenehm zu sein hat, das kann einzig im Format des Dialogs geleistet werden. 

 

Es ließe sich also die These subsumieren, dass die Programmplätze für Literatur als Kunst in den großen Verlagen seit längerem schon ausgedünnt wurden; lange bevor die mediale Unterhaltungsbranche den ebensolchen Romanen zu Einbrüchen verhalf und die Angst um sich griff; auch in den unabhängigen Verlagen. Wann jedoch war Angst je ein guter Ratgeber? Oder verhält es sich wie in der altbekannten Frage, was zuerst war, Henne oder Ei, und wurde die Mischkalkulation schleichend ad acta gelegt, um einer erträumten Umsatzrendite willen, von der man in den frühen 2000er Jahren zu sprechen begann und welche die überhöhten Erwartungen im Schneller-Mehr-Weiter abbildete, während man ambitioniert dem Markt hinterherlief – bis dieser einen rechts überholte? Ich kann es nicht sagen.

Nur eines scheint sicher zu sein: Alle Welt schreibt. »Ich habe bald das Gefühl, es gibt mehr Menschen, die schreiben – als Menschen die lesen«, subsumiert Anya Schutzbach dieses Phänomen. Ich laufe die Gänge entlang, blicke in die Kojen der Messestände – Unterhaltungsromane reihen sich an Unterhaltungsromane. Ich schaue den Besucher*innen der Buchmesse ins Gesicht: Neben Schüler*innen auf Exkursion fallen vor allem Gesprächswillige ins Auge und ins Ohr. An den Selfpublishing-Ständen herrscht reges Treiben, ein Trubel und Stimmengewirr; verglichen damit ist der Bienenstock ein Bestattungsinstitut. 

 Sind das nun alles passionierte Leser*innen oder tragen sie in ihren Umhängetaschen ihr Manuskript spazieren, versuchen, es mittels ›persönlichen Kontakt‹ an den Mann oder an die Frau zu bringen? Erkunden im Dialog, ob Selfpublishing nicht wider Erwarten ihr Weg sei? Wie viele davon sind Bloggerinnen, Zeitungsfritzen? Wer von ihnen zieht ein Buch vom Regal und schmökert darin? Ich sehe kaum jemanden. 

Daniela Koch, Rotpunktverlag
Daniela Koch, Rotpunktverlag

»Wenn sie nicht mehr lesen, können wir nicht mehr Bücher machen – für wen denn auch, oder?«, murmelt Daniela Koch vom »Rotpunktverlag«. Eine rein rhetorische Frage, ich weiß, doch bitte noch keine Saudade und kein Requiem, wir sind ja erst am Beginn unserer Reflexion und hoffen noch auf die unabhängigen Verlage, oder?

Ich bitte daher Kristine Listau vom »Verbrecher Verlag« um ein Pitching, welches griffig in drei Sätzen die Kernaufgaben ihrer Verlagsarbeit umreiße: »Autoren entdecken, entwickeln. Gesellschaftlich relevante Bücher herstellen. Und … – drei?«, fragt sie nach. Ja, bestätige ich: Drei zentrale Aufgaben. Die Pause dehnt sich. Dann: »Möglichst viele Leserinnen und Leser erreichen, die Gesellschaft sensibilisieren, literarisch wie politisch.« Auf meinen Hinweis, es sei frappierend, dass der Markt für Kristine Listau erst an dritter Stelle komme, lacht sie. Das sei ihr während des Sprechens gar nicht aufgefallen.

 

Dr. Petra Gropp, S. Fischer Verlag
Dr. Petra Gropp, S. Fischer Verlag

 

Faktor 3: Der Buchhandel

 

»Die Entwicklung beschleunigt und forciert sich«, sagt Petra Gropp. »Früher gab es relativ überschaubare Mechanismen zur Bewerbung von Büchern: Man hat Anzeigen geschaltet, hat mit den Buchhändlern zusammengearbeitet, sie haben die Bücher hingelegt, und so haben sich die Bücher verkauft.«

Das tut man auch heute noch, die Bücher auf Tischen stapeln, und wie hinlänglich bekannt, ist für diese Form der Werbung bei Buchhandelsketten ein netter, runder Betrag in schwindelnder Höhe durchaus förderlich, damit alsdann ›Titel des Monats‹ darüber prangen darf. Oder ›Empfohlen von unserer Buchhändlerin XY‹. Der Verlag, der nicht bezahlt, verschwindet hingegen im Regal ›Novitäten‹ auf Nimmerwiedersehen. Und das Werk aus jenem Haus wird danach remittiert. Wann? Zuletzt belief sich die Spanne, die man ihm zur Bewährung gewährt, auf rund einen Monat. Als ich Ende der 1990er Jahren noch im Buchhandel tätig war, waren es zwölf Wochen …

Der Etikettenschwindel auf den Novitätentischen suggeriert jedenfalls Qualität, und manches Publikum will belogen werden; den anderen dreht sich der Magen um. Daniela Koch wird bei einem Blick über die Tische übel: »Ich verstehe, dass man davon nicht angetörnt ist. Da muss die Branche echt aufpassen, nicht am eigenen Ast zu sägen. Es ist kein Luxus, Bücher zu machen, von denen man selbst überzeugt ist. Sondern es ist – für mich – das Rezept für Nachhaltigkeit, um Leser*innen bei der Stange zu halten.«

Ähnlich lautet das Credo des »Verbrecher Verlags«, der 2016 in Frankfurt mit dem Slogan »Bücher nicht Produkte« die Thematik auf den Punkt brachte: »Natürlich sind Bücher auch produktförmig. Wir sind im Kapitalismus, das ist eine Warenwelt, und alles wird zur Ware degradiert. Der Verlag muss notwendigerweise das Buch in eine Ware verwandeln, aber wenn es am Ende, in der Hand des Kunden oder der Kundin wieder zum Kunstwerk wird, dann ist es uns gelungen, mit dem Buch richtig umzugehen.« Jörg Sundermeiers Partnerin Kristine Listau spricht von der Aura des Kunstwerks, von der Wertschätzung der dahintersteckenden Arbeit, die zu bezahlen sei: »Diejenige für den Inhalt – und nicht für den Scheißcontent!« Nur so gelinge es, dass man Zuhause wieder hineinversinke. »Sonst stellt man ein eingeschweißtes Buch in den Schrank und sagt: ›Kann ich ja bei der nächsten Party vielleicht verschenken …‹«

 

Photos: Robert Gampus, Arthof 

 

(FORTSETZUNG TEIL 3: folgt am 16. Juni 2019)