Thomas Bernhard (Teil 7) oder das Ärgernis des vermaledeiten Henry James in »Frost«

Was zuvor geschah …:

Das Ich vergisst in Thomas Bernhards Debütroman »Frost« in Schwarzach das medizinische Fachbuch über Gehirnkrankheiten, verfasst von einem gewissen (fiktiven) Koltz (den Klotz am Bein?), den es sich zur Bettlektüre in Weng vornahm (ThB: F. S. 13). Eine sonderbare Wahl, selbst für einen Famulanten; außer man ruft sich in Erinnerung, dass der den Auftrag erteilende Chirurg vermutete, sein Bruder, der Maler, leide an einer Form der Gehirnkrankheit. Das Ich ›vergisst‹ also ein Werk, welches seine Aufgabe sehr wohl begleiten könnte, wendet zudem den Rücken der Wissenschaft anderer zu und stellt mit diesem Akt obendrein sich selbst (Vorliebe für Fiktion) und seine Wahrnehmungsfähigkeit ins Zentrum. Ob es sich dabei um wirkliches Vergessen oder nicht vielleicht eher um ein unbewusstes Vergessen-Wollen handelt, bleibt offen, doch wird angedeutet, dass dieses Fehlverhalten das Ich keineswegs verärgert, im Gegenteil: Es scheint darüber fast erleichtert zu sein, was auch auf seine kontroverse Einstellung zur Medizin und seine Bedenken ob eigener Eignung für diesen Beruf verweist.

 

Auf Fiktion wird nicht vergessen, sie ist Trost und Ablenkung – bis die Gegenwart der anderen allzu mächtig wird

 

Auf die Mitnahme eines literarischen Werks, welches von unglücklichen Menschen erzählt, wie es in »Frost« heißt, hat das Ich hingegen nicht vergessen: Folglich die Fiktion eines Unglücks anstelle einer Analyse des Untergangs, des geistigen Zerfalls, der Zerstörung an der Krankheit ›Leben‹? Denn im Gegensatz zum gelesenen Leid, welches sich einfach mit dem Argument, es sei ja bloß fiktiv, abrücken lässt, ist das Leid des Malers an der Krankheit ›Leben‹ ja kaum zu ignorieren. Der Maler ist das »[…] Inbild des Künstlers als Außenseiter […], der Ausgestoßene, der Wahnsinnige, der Verfolgte und Ausgesetzte […]« (HH). Das Ich selbst weist zumindest eine ähnliche innere Konstituierung auf, sonst würde es am Ende nicht eine Gefährdung eigener Gesundheit feststellen, die ihm aus dem Arbeitsauftrag des Chirurgen erwächst. Dieser lässt sich auch als Sprachauftrag verstehen: 

»[…] es ist die Aufmerksamkeit für die Sprache, für das Sprechen, für das Zeichensystem der Krankheit im Roman, das sich noch in den kleinsten Gebärden zeigt; es ist die dramatische szenische Verwandlung der Errungenschaften der Moderne, die in Frost zur Erzählsprache wird – die Wittgenstein'sche Analyse der Sprache als ›Lebensform‹, die Freud'sche Analyse für die verborgenen Ich-Katastrophen: ›Etwas Unerforschliches zu erforschen. Es bis zu einem erstaunlichen Grad von Möglichkeiten aufzudecken‹, lautet der Beobachtungsauftrag […].« (HH)

Sprache und Psyche stehen in Verbindung, weshalb auch der Hinweis auf das nicht-vergessene Sprachkunstwerk umso bedeutsamer erscheint, selbst wenn Thomas Bernhard dessen Titel in »Frost« infamer Weise nie verrät.

 

These 1: ein*e namentlich genannte*r Autor*in hat etwas auszusagen … (oder es bleibt bloße Hirnwichserei)

 

Mit dieser Kombination aus rätselhaften Protagonisten und zugeschriebener Lektüreauswahl eröffnet Bernhard daher ein perfides Suchspiel: Um welches Werk Henry James handelt es sich? Oder sollte das Ich gar mit ›einem Henry James‹ eine Gesamtausgabe meinen? Eher unwahrscheinlich!

 

Der Hinweis, der kein Hinweis ist – oder wie entschlüsselt sich ein Schloss, zu dem wir keinen Schlüssel haben?

 

Die Nutzung von weiteren Werken als Referenzrahmen einer Figur ist eine gängige Form der Charakterisierung, womöglich auch weil Leben und Denken von Autor*innen meist eher um die Literatur kreisen statt um Automarken oder andere Lifestyle-Symbole, wie Houellebecq sie zum Beispiel zur Figurendarstellung nutzt, weniger häufig jedoch findet sich der Verweis auf ein gesamtes Oeuvre – zu vielfältig, um nützlich zu sein. Denn durch den Referenzrahmen für Klarheit zu sorgen, das wäre für die meisten Literat*innen der Beweggrund, ein Werk in das eigene Werk einzufügen; um verstanden zu werden. Nicht so Bernhard, der uns einzig den Autor – Henry James – in aller Deutlichkeit nennt, doch keinen Werktitel.

 

These 2: Ist nicht ein bestimmtes Werk gemeint, steht der oder die genannte Autor*in für literaturgeschichtliche oder biographische Assoziationen

 

Gäbe er uns außerdem keine Hinweise auf den Inhalt des nicht-vergessenen Werks, wir könnten möglicherweise annehmen, Henry James als Erneurer der Erzählform sei der relevante Referenzrahmen, was durchaus Sinn macht, wie eine Betrachtung der Literaturgeschichte und der erzählperspektivischen Ausgestaltung bei James belegt:

Henry James gilt als Wegbereiter für Woolf und Joyce, die angloamerikanischen Pendants zu Arthur Schnitzler und José Lezama Lima hinsichtlich einer modernen Form der Perspektive. Ausgehend von Gustave Flauberts Ansatz des ›kommentarlosen Erzählens‹ führte Henry James in seinen Romanen und Erzählungen einen ›imagined observer‹ ein. 

 

Henry James als Faktor der Literaturgeschichte

 

Dieser imaginierte Beobachter fungiert einzig im Hintergrund; manchmal nimmt er auch als ›historian‹ die Form einer »figürlich nicht inkarnierten Textinstanz« (G., S. 79) an; sprich, die Erzählinstanz tritt persönlich nicht in Erscheinung, sondern dokumentiert einzig, wie Geschehenes erlebt wurde.

Bernhard – das ist bekannt – ließ sich von dieser James’schen Erzählperspektive inspirieren, versah den imaginierten Beobachter mit einer Physis, nannte ihn ›Ich‹ und stattete dieses Ich – wenn auch ungemein verhaltenen – mit einigen wenigen Persönlichkeitsmerkmalen aus, selbst wenn nur sein wahrnehmender Blick ins Handlungsgeschehen involviert ist: junger Mann, Student, Famulant; in gewissem Sinne durchaus ehrgeizig, wenn auch nicht übermäßig; unsicher, ob seiner Berufswahl; einer Mutter verbunden, an die er wenigstens ab und an unter der Prämisse der Pflichterfüllung denkt: Er solle doch einen Brief schreiben, sagen, wie es um ihn stehe – selbst wenn er diesen Gedanken in seinem Phlegma nicht in die Tat umsetzt (ThB: F. S. 189).

 

@ These 2: Bezug zur Literaturgeschichte: Bestätigt!

 

Den Kern der Henry James’schen Erneuerung der Perspektive behält Thomas Bernhard folglich bei: die Rolle des Wahrnehmenden, um uns aus dessen Sicht [!] zu erzählen, was geschieht. Es ist eine durch subjektive Wahrnehmung eingefärbte Darstellung der umgebenden Personen und Geschehnisse, die sich jedoch alle Mühe gibt, uns Unparteilichkeit vorzuspielen. Der Lesende erlebt alles einzig durch das Bewusstsein dieses imaginierten Beobachters. Was jener nicht bemerkt oder nicht bemerken will, entgeht auch uns. So verschiebt sich der Fokus von der Frage »WAS geschah?« zu »WIE erlebt(e) es der Held, der es dem Beobachter erzählt, der es uns wiedergibt?«; eine Haltung, die Bernhard in seinem Setting übernimmt.

Wiewohl es für die Interpretation des Bernhardschen »Frost« auf den ersten Blick eher irrelevant dünkt, soll der Vollständigkeit halber angemerkt werden, dass Henry James außerdem für den Blick der Neuen Welt auf die Alte steht, für ein Ausloten und Wahrnehmen der Differenzen zwischen den USA und dem Europa seiner Zeit. Wobei ›Europa‹ in diesem Kontext mehrheitlichEngland und Frankreich bedeutet, ergänzt durch marginale Ausblicke Richtung Italien. Auf Bernhards Szenario übertragen, hieße dies, Schwarzach (die Wissenschaft, noch nicht ganz düster) beobachtet Weng (bäuerlich, proletarisch, finster, dunkel). Schlüssig, im Sinne der Ausgestaltung von »Frost« in Gegensatzpaaren, aber hinsichtlich des Henry James’ führt es uns nirgendwo hin. 

 

These 3: Wer nicht nur auf einen Namen (samt Literaturgeschichte), sondern obendrein auf Werkinhalte verweist, will uns damit etwas über die eigenen Figuren sagen. (Oder auch nicht?)

 

Außerdem genügte eine dezente Verankerung in der Literaturgeschichte (Neue Welt auf Alte, ›imagined observer‹) Thomas Bernhard offenbar nicht, um sein Ich zu charakterisieren, weshalb er eben obendrein Kommentare zu Handlungssprenkel einstreute, verwoben mit den wenigen Dialogen zwischen Maler und Ich sowie an den noch selteneren Stellen, da das Ich von sich selbst erzählt. Nicht jedoch in des Malers Monologe. 

 

Die expliziten Hinweise in »Frost« sorgen keineswegs für Klarheit!

 

Ein infames, vermaledeites Suchspiel beginnt, denn natürlich macht Bernhard mit diesem geworfenen Fehdehandschuh jeder Literaturwissenschafterin den Mund wässrig, und lacht sich ob unserer verzweifelten Bemühungen noch als Gerippe schief! In der Henry James Lektüre des Ichs kommen nämlich angeblich vor: Frauen, die einem Sarg folgen; ein Eisenbahnzug, eine Stadt, zerstört, irgendwo in England (ThB: F. S. 189). Hätte Bernhard wenigstens ›die ihrem Sarg folgen‹ geschrieben! Man könnte sich in die Behauptung retten, der sei sicherlich bloß figurativ gemeint! Von mir aus könnten ihm auch Männer wie bei James folgen, aber nein, Frauen sind es; und die Menschen in diesem Erzähluniversum allesamt unglücklich (ThB: F. S. 239). – Bitte, Henry James’ Narrationen sind voll mit wahrhaftig unglücklichen Wesen menschlicher Natur – von der ersten bis zur letzten Zeile, die er schrieb! Ebenso häufen sich die ›Särge‹ im übertragenen Sinn; auch Sargnägel werden in unglückselige Seelen gehämmert, damit die leidigen Erinnerungen endlich begraben seien. Es finden sich außerdem Urnen und frühere Begräbnisse, die vor der jeweiligen erzählerischen Gegenwart stattfanden – aber an all diesen Stellen im James’schen Oeuvre ist keine Rede von einer Eisenbahn. Und bei den zwei Zugszenerien (»Wunderbrunnen« und »Ivan Turgénieff«): wird keinem Sarg im wortwörtlichen Sinn ›gefolgt‹. Was also wollte Bernhard damit, außer seinen Schabernack treiben, uns echauffieren? Meinte er doch den Sarg im figurativen Sinn? Oder kannte Bernhard, als Henry-James-Liebhaber eine Erzählung, die in keiner der gängigen Publikationen erschienen ist? Denn ich habe mittlerweile 91 durchforstet – und nichts gefunden.

 

These 4: … und wenn kein Werk zu finden ist? Denke man an das Sprachspiel, drehe Wörter – und suche weiter!

 

Die erwähnten beiden Ausnahmen – »Wunderbrunnen« und »Ivan Turgénieff« – bedürfen mindestens dreier Krücken, um halbwegs aufrecht ins Ziel zu torkeln. Er lässt sich ebenso viel für sie ins Feld führen, wie gegen sie, sollte man sich nicht zu der Sichtweise entschließen können, dass Thomas Bernhard uns schlicht und ergreifend infam eine lange Nase dreht.

 

»Frost« als Spiegel der angeblichen James’schen Handlungselemente

 

Ein berechtigter Verdacht, der sich auch durch die Doppelungen, die Bernhard vornimmt, erhärtet: Alle für den James behaupteten Erzählelemente spiegeln sich nämlich in »Frost«:  Vom Gestank der Armut ist die Rede, von der Zerstörung der Landschaft, obendrein kommt zu Beginn das Ich mit der Bahn, und im anfänglichen Abschnitt rund um die ›krankmachenden Erinnerungen‹ heißt es, dass eine davon die Erinnerung sei, wie Männer (!) einem Frauensarg folgen – keine Frauen. Der Plothinweis ›England‹ hingegen fügt sich nur knirschend in Form von Bernhards Hinweisen auf die Gewerkschaften ein, von denen der Ingenieur spricht. Wollte er wirklich, dass wir solche Reflexionen an den Haaren herbeiziehen? Und was hat er sich bloß dabei gedacht, dieser vermaledeite Kollege, uns die Karotte vor die Nase zu hängen, außerdem durch fortwährende Wiederholungen mit ihr zu wedeln, um uns die ach so bedeutsame Rolle dieses James regelrecht einzubläuen, wenn uns alsdann nichts anderes erwartet, als dumm zu sterben, weil Bernhard nicht für eine mögliche Entschlüsselung sorgte? Ist ja phantastisch, dass der Maler, jene dem Ich unverständliche Passage aus ›dem Henry James‹ so grandios verstehen und auf »wunderbare Weise« (ThB: F. S. 200) interpretieren könne: Wir haben weder eine Ahnung, wieso sie ›unverständlich‹ sein soll, noch was sich dadurch und deswegen danach erläutert, finden wir nicht den Referenzrahmen dazu! 

 

Assoziation: Unverständlichkeit

 

Wir verstehen es schlicht und ergreifend nicht – das aber weckt erneut die Assoziation an das James’sche Werk »Der Wunderbrunnen«! Es ist das einzige mir bekannte Werk des Amerikaners, welches gleichfalls skurril-unverständliche Passagen aufweist, ja, man könnte sogar sagen: Der gesamte »Wunderbrunnen«-Roman ist mit analytischer Logik kaum zu verstehen, er bedarf einer längeren Reflexion (wie »Frost«), will man hinter die Oberfläche blicken. Weshalb der »Wunderbrunnen« gemeinhin als das sperrigste und schwierigste Werk des Henry James’ gilt. Jeder, der es zum ersten Mal liest, wird dieses Urteil gerne unterschreiben!

Sollen sich darin – auf gut Österreichisch – zwei gefunden haben? Im Ärger darüber kommt mir die Aussage Bernhards in den Sinn, es gäbe jene großen Kollegen, an denen man sich jahrelang reibe und abarbeite, die einem im eigenen Schreiben Gefahr und Lähmung und Elend zugleich seien, bis man sie mit dem Vermerk ›Überwunden!‹ hinter sich lassen könne; von Paul Valérys »Monsieur Teste« – derart zerfleddert, dass er es mehrfach nachzukaufen hatte – erzählte Bernhard, bevor er explizit Henry James erwähnte – kein Einzelwerk, sondern das gesamte Oeuvre durch Nennung des Autorennamens beziehungsweise seine literaturgeschichtliche Leistung.

 

These 5: Vielleicht meint ›Sarg‹ eher die Aufbahrung?

 

Will Bernhard seinen James in »Frost« ›aufbahren‹, weil er dessen Werke studierte, um an ihnen und durch sie zu lernen?

 

Kreierte Atmosphäre in »Frost«

rund um die James’ Verweise

 

Bevor wir in den »Wunderbrunnen« selbst hinabsteigen, sollten wir noch einen Blick auf das Setting der Romanerwähnungen in »Frost« werfen, auf die Atmosphäre, die Bernhard um diese Buchauswahl des Ichs kreiert:

Der Maler lehnt nicht bloß die Lektüre jedweder Fiktion ab (vgl.: ThB: F. S. 186), er würdigt sie auch mit Kommentaren wie »Ach ja, Ihren Henry James.« (ThB: F. S. 186) herab. Pascals »Gedanken«, die er dem Ich stattdessen offeriert, finden hingegen beim Ich keinen Anklang, und nach der Frage des Malers aus heiterem Himmel »Haben Sie an Gedichten Interesse?« (ThB: F. S. 186) findet sich ein nachgeschobenes Erzählerkommentar, welches man allzu leicht überliest: »Wie aufgebahrt liegt er.« (ThB: F. S. 186). Die Logik sagt uns, der Satz bezieht sich auf den Maler, der fußmarod im Bett liegt, was wir wenige Zeilen davor erfahren haben. Somit würde doch höchstens Pascal ›aufgebahrt‹ … Verwoben mit dem vorherigen Dialog über Henry James, setzt man es intuitiv auch mit diesem Autor in Bezug: Aufgebahrt wird, wer verstorben ist, damit Abschied genommen werden könne … Weil der Maler keine Fiktion (mehr) lesen will? Daraus nährt sich jedoch außerdem der Verdacht, dass abgesehen von einem realen Sarg womöglich auch bei James die Liegehaltung in Betracht zu ziehen wäre, das Aufgebahrt-Sein im Sinne einer Hinfälligkeit, Bettlägrigkeit. Dann aber suchen wir nicht mehr bloß die Nadel im Heuhaufen, sondern das Atom!

 

These 6: Die Ablenkung schafft Erzählraum, implizit

 

Zur Atmosphäre, die Bernhard rund um die Lektüre des James’schen Werk schafft, gehört auch die Aussage, dieses Buch lenke das Ich fein ab (u.a. auf ThB: F. S. 236): Was dem Werk schon in Schwarzach glückte, sei daher auch in Weng zu erwarten. Diese Prämisse wird selbst dann nicht korrigiert, als das Ich ob eindringlicher Gegenwart des Malers einräumen muss, es lese heute ganze Seiten und wisse danach absolut nicht zu sagen, was es gelesen habe, bloß, dass es »schön« (ThB: F. S. 239) gewesen sei. Am Rand sei angemerkt: Ein höchst zutreffender Kommentar für den »Wunderbrunnen«: Sprachlich eine Herrlichkeit, aber eine unmögliche Lektüre, wenn einen auch nur ein kleines Unbehagen aus eigener Gegenwart für eine Sekunde ablenken sollte, denn im »Wunderbrunnen« palavern über gut 20 Seiten zwei Figuren miteinander, einer kreist um den anderen im Dialog, und bald hat man keinen Schimmer mehr, wer da spricht oder wozu …  Ein Verwirrspiel, welches zu Beginn des Romans aufgrund eines sehr klaren Settings mit wenigen Protagonisten nicht deutlich wird, im Gegenteil, der Einstieg hat Sogwirkung. Und mehr als den Anfang kennt das Ich in »Frost« zu Beginn ja auch nicht, es will sich mit Lesegenuss vom erhaltenen Auftrag sowie von Weng ablenken – d.h.: vom Maler; und führt in weiterer Folge diritissima und dreifach zu jenem zurück: Der Maler versteht, was das Ich unverständlich findet, aufgebahrt liegt er, und alles aus der Lektüre spiegelt sich in der umgebenden Gegenwart in Weng. 

 

Lektürekel oder der Gestank des Unglücks,

des Untergangs, des Todes, des Wahnsinns?

 

Als der Maler seines Pascals »Gedanken« mit den Worten lobpreist, es gehe darin immer »um das ganze Unglück« (ThB: F. S. 296), kann das Ich nur recht ohnmächtig wüten: »[…] wie er mit seinem Pascal alles zu beweisen versucht und weiß, daß nichts zu beweisen ist.« (ThB: F. S. 287) Weshalb kommt er ihm nicht mit Henry James’ Darstellung unglücklicher Menschen? Die können ja keineswegs in einem ›halben Unglück‹ stecken, oder doch? Wenn es – wie im »Wunderbrunnen« – ein hausgemachtes wäre, abgefedert außerdem durch die Gesellschaftsschicht – Landadel, vermögendes Bürgertum? Sei es wie es sei, das Ich jedenfalls argumentiert nicht. Vielmehr flieht es regelrecht aus dem Raum, greift zu seinem Henry James, als wäre der ein Rettungsanker, legt sich auf das Bett, blättert, 

»[…] ohne einen Gedanken an diesen Dichter. Stand auf. Ging hin und her. Legte mich wieder hin. Ich verabscheute die Schamlosigkeit [sic] eines Satzes, der vor mir mitten in diesem Buch stand. Ich warf das Buch auf den  Boden. Alles ist übelriechend, dachte ich. Plötzlich war alles nur mehr Gestank […]« (ThB: F. S. 297) 

Eine höchst sonderbare Wortwahl, nicht wahr? Die Schamlosigkeit eines Satzes, das mag ja noch angehen – aber der Gestank, der aus Worten dringt? Wer über diese Stelle assoziativ nachdenkt und den »Frost«-Roman dabei befragt, landet unweigerlich bei jener Passage, in der es heißt, der Kommunismus gedeihe aus dem Elend heraus vorzüglich: »Der Kommunismus ist etwas, das auf dem Schmutz und dem Gestank, auf den ungeheuren Kontrasten gedeiht. Der Kommunismus kommt, da können sie alle kopfstehen!« (ThB: F. S. 224) 

Nach dem Lektüre-Ekel fügt Thomas Bernhard relativ überraschende eine Passage über eine Jagdgesellschaft des Landadels ein: Das Ich sei zum Mahl gegangen, der Maler habe mit solchem Appetit gegessen, dass es das Ich erneut zu sehr ekelte, um mehr als einen Happen zu sich zu nehmen, während in angrenzender Küche Wirtin und Wasenmeister über ›die reichen Leute und ihre Jagdgesellschaft‹ debattierten, weshalb sich das Ich daran erinnert, dass diese vom Maler als ›die Fürstlichen‹ (ThB: F. S. 297) betitelt worden waren, die noch immer nach Weng kämen, eine Reminiszenz, die alsdann in eine positive Jugenderinnerung des Ichs flutet: Auch sein Vater habe die Jagd geschätzt, es sei »[…] der einzige Zustand zwischen den Weltmächten […] ohne Schadenfreude […]« (ThB: F. S. 298). Der miese Geruch wird also als gesellschaftliches Schwelen definiert, der ignorante Adel, der seine Jagdgesellschaft feiert, steht im Kontrast dazu, das Erschießen des Wildes auf beiden Seiten der Gesellschaft neidlos. Dm aber wird ein Fragezeichen hinzugefügt, denn der Wasenmeister verschafft der Wirtin verendete Tiere, die gemeinhin nicht zum Verzehr bestimmt, welche die Wirtin danach den Gästen kredenzt, und Wilderer erschlagen eine Kuh, sodass der Bach sich blutrot färbt, beides erzählt der Maler dem Ich. 

 

»Wunderbrunnen« – der Plot

 

Und der Zusammenhang mit Henry James? Schlachten wir das erste Versuchskaninchen, »Der Wunderbrunnen«, es beginnt ja mit einer Eisenbahnfahrt – Heureka!

 

Eisenbahn? 

  • ja!

 

Der beobachtende Ich-Erzähler, namenlos, macht sich mit einer Gruppe Freunde per Bahn auf den Weg zu einem längeren Landaufenthalt in einem großen, feudalen Herrenhaus in Newmarch, durch dessen Gänge, Räume und Parkanlagen sie alsdann schlendern werden, als wäre jenes Haus ein Universum für sich, abgeschlossen von aller restlichen Welt.

 

England?

  • ja!

 

Während der Zugfahrt stellt das Ich auf Anregung einer gewissen Grace Brissenden fest, dass Menschen sich aufgrund der Beziehungen, die sie eingehen, verändern: Einer profitiere, einer erleide Verluste. Nicht bloß im Inneren, darum geht es primär nicht, sondern auch rein äußerlich. So altere ›der arme Briss‹ (Guy Brissenden), verheiratet mit einer wesentlich älteren Frau, an ihrer Seite eklatant, erinnere schon beinahe an eine Mumie, wiewohl er höchstens knapp über dreißig sei, während seine Gattin von Tag zu Tag jünger, in der Kommunikation brillanter und geistreicher werden. So sehr, dass der Ich-Erzähler sie am Beginn der Geschichte am Bahnsteig gar nicht erkannte! Denn hässlich sei sie doch immer gewesen, nun aber, eine Schönheit (HJ: W. S. 9) – oder wenigstens hübsch (HJ: W. S. 10). Doch nicht nur sie hat sich in den vergangenen fünf Jahren gewandelt, auch Gilbert Long, der einst zwar schon ein Adonis war, aber außerdem ein ewiger Langweiler, ist plötzlich geistreich, witzig und charmant, wie er auf der gemeinsamen Eisenbahnfahrt beweist – aber er sei doch noch immer Single, nicht wahr?  Es bedarf kaum einer Sekunde, um von jener Aussage zu dem Schluss zu gelangen, die Frau, mit der Long im Geheimen liiert sei, müsse verheiratet sein. Wieso sonst sollte er die Beziehung, die ihn nähre, geheim halten? Deshalb lautet bald schon die These, in einer Beziehung sei stets einer der oder die Gebende, damit der andere strahle, und nehme eigenes Verglühen dafür in Kauf. Eingangs ist dieses Gedankenkonstrukt kaum mehr als eine amüsante Beschäftigung während einer langweiligen Zugfahrt, doch entwickelt sich aus jenem Zeitvertreib während eines längeren Wochenendes auf dem Land bald schon eine detektivische Suche, derer sich mehrere Personen widmen, da der Ich-Erzähler ob der aufflammenden Obsession für seine Idee nicht darüber schweigen kann und andere mittels seiner Befragungen in sein Gedankenspiel einbindet, welches ihm gestattet, im Leben aller zu stochern, doch gleichzeitig keinem nahezukommen. Oder sich selbst davor zu hüten, dass ihm jemand jemals nahekomme. Unter anderem hält er damit Grace Brissenden auf Trapp und steckt den Maler Ford Obert mit seiner Neugierde an. Beide beteiligen sich in Folge auf sehr unterschiedliche Art an diesem detektivischen Spiel ›Wer mit wem?‹. Der Verdacht fällt bald auf Mrs. Server (Man beachte die sprechenden Namen!), deren flatterhafte Unruhe bereits allen unangenehm aufgefallen ist. Bald flirtet sie mit diesem, bald mit jenem – aber kaum dünkt sie sich unbeobachtet, sackt sie erschöpft in sich zusammen. Wie auch alle anderen Anwesenden der Gesellschaft schleicht sie durch die Räume, zieht rastlos von einem Zimmer zum nächsten, stets im Versuch ihr Unglück durch betonte Fröhlichkeit zu maskieren. Diese auffallende Attitüde einer inszenierten Koketterie wird vom Ich sogleich als versuchte Tarnung markiert. Auch die Einwände, Mrs. Server könne kaum als ›verblühend‹ tituliert werden, ebenso wenig als ›verdummt‹, entkräftet das Ich rasch: »Es war geradezu, als könnten sich die Elemente bei ihrer Übertragung vervielfacht haben; als sehe sich der Entlehner – oder die Entlehnerin – praktisch nun im Besitz einer größeren Summe als der, die das bekannte Vermögen des Kreditors ausmachte.« (HJ: W. S. 63) 

 

Von der Reue über die Obsession bis zum Verdacht,

auf diesen Ich-Erzähler ist kein Verlass!

 

Zu Beginn quält das Ich noch Reue bei dem Gedanken daran, dass eine Enthüllung eines kompromittierenden Geheimnisses naturgemäß eine gewisse Peinlichkeit mit sich bringe. Doch bald schon gewinnt die Obsession vor aller zwischenmenschlicher Bedenken die Oberhand. Als habe es ein Verbrechen aufzudecken, stochert und taktiert das Ich, kann keine Sekunde Ruhe geben, vermag keine Frage zu stellen, die nicht einen Bezug zu seinem Unterfangen hat und nervt damit Lesende wie auch die Protagonist*innen des Romans, denen es ständig auf den Zahn fühlt, interpretiert und uminterpretiert und einen endlos in Verdächtigungen und Unterstellungen verwirrt. Neben puren Indizienbeweisen zieht es obendrein die wildesten Schlüsse über den Sprechenden selbst, denn das zumindest hat das Ich richtig erkannt: »[…] ihm etwas über Mrs. Server zu entlocken, bedeutete in Wahrheit, ihm direkt etwas über sich selbst zu entlocken.« (HJ: W. S. 129) 

Bald schon ist der Lesende von Gedankenspiel und Neugierde, von Tratsch und Oberflächlichkeit, von Arroganz und feudaler Attitüde regelrecht angewidert – »Ich verabscheute die Schamlosigkeit eines Satzes […]. Alles ist übelriechend […]. Plötzlich war alles nur mehr Gestank […]« (ThB: F. S. 297) heißt es – wie bereits erwähnt – bei Thomas Bernhard über die fortgeschrittene Lektüreerfahrung, nicht wahr, und wird verknüpft mit dem Verweis auf einen sich anbahnenden politischen Wechsel: Die Revolte wird kommen, das Leben wie bisher bekannt enden. Oder um es mit Henry James zu sagen: Irgendwann wird diese Gesellschaft des Müßiggangs und der elenden Tratschsucht zum Zeitvertreib passé sein …

 

Ekel? Gestank? – zerstörte Stadt?

  • ja! ja! – naja?

 

Doch kaum wurde unser Widerwille evoziert, steigt die Spannung enorm, da sich ein Verdacht um das detektivische Ich zu ranken  beginnt, da dieses zusehends den Hang zu sonderbaren Fragen, ähnlich denjenigen, mit denen  Grace Brissenden zu Beginn den Stein ins Rollen brachte, übernimmt. Fragen, welche weder die anderen Mitreisenden noch der Lesende verstehen, weil ihnen jedweder Bezugsrahmen fehlt.  So verdichtet sich allmählich der Verdacht, man habe es mit einem unzuverlässigen Ich-Erzähler zu tun. Versucht dieses Ich uns vielleicht bewusst zu täuschen, da es selbst der Liebhaber ist? Dann aber würde des Lesenden Aufgabe lauten: Cherchez la femme (oder von mir aus auch den ›homme‹) im Umfeld des Ichs! Mrs. Server wäre denkbar, denn er flieht ihr, will sie schonen, die doch in den Augen seiner Freunde die Hauptverdächtige unter allen möglichen Kandidatinnen für Gilbert Long ist. Bloß fehlt alsdann jedweder weiterführende Hinweis zu einer Eindeutigkeit; legen wir diese Lesart ad acta! Oder verliert unser Ich womöglich den Verstand? Das zumindest werfen ihm andere Figuren an den Kopf. Soll das die Geschichte sein, die wir hier lesen? Sind aus jenem Eck die sonderbaren Verweise auf einen nahenden Tod zu lesen, wenn das Ich meint, »Wer weiß, ob ich morgen noch am Leben bin?« (HJ: W. S. 246)? 

 

Nicht einmal ein Gemälde an der Wand

kann eindeutig dechiffriert werde …

 

Jenes eine Gemälde, welches die Figuren kurz nach ihrer Ankunft im Landhaus so eingehend und kontrovers studieren, weist es nicht in jene Richtung? Es zeigt einen Mann mit einer Maske in der Hand, der sich gerade eben das Gesicht eines anderen überstülpt (HJ: W. S. 63 sowie S. 65); es sei die Maske des Todes, wie Mrs. Server meint, doch das Ich kontert, es sei dasjenige des Lebens, ein blühend, schönes Konterfei, welches die eigene Hohlwangigkeit und Leichenblässe kaschiere (HJ: W. S. 66). Eine Maske, die wie auch des Mannes Gesicht in jedem Betrachter andere Assoziationen weckt: Sehen die einen den Ich-Erzähler im Mannes-Antlitz und Mrs. Server in der Maske, widersprechen andere vehement, und das Ich verweist auf ein Wissen, dass aber werde es nicht verraten, niemand auf der Welt brächte es dazu (HJ: W. S. 67). Auch in Thomas Bernhards »Frost« spielt die Maske insofern eine Rolle, da die meisten der Figuren lebende Tote sind, sie sich hinter Masken verbergen, unehrlich einander begegnen, wie der Maler wiederholt anmerkt.

Übrigens, beide Werke – »Wunderbrunnen« wie »Frost« – warten mit einigen frauenfeindliche Aussagen auf, und ihre männlichen Protagonisten sind auffallend unfähig, Nähe zu ertragen. Frauen sind in diesem Werk Henry James’ und mit den Augen des arroganten Ichs betrachtet stets nur in Maßen brillant, das Genie ist eindeutig männlich, Mrs. Server wie auch Grace Brissenden sind hilflos, flatterhaft, zerbrechlich. Bei Thomas Bernhard sind sie in den Augen des Malers der Untergang: »Selbstmord ist eine Sache des Mutterleibs […].« (ThB: F. S. 328), Mutterschaft ist »Selbstmordschaft« (ThB: F. S. 328), denn sie ziele einzig darauf, den nächsten Suizid in die Welt zu setzen, und: »Das Kinderkriegen steigt ihnen zu Kopf. Die Empfängnissucht der Frauen? Die Belästigungen gehen so weit, daß man nichts anderes mehr tut, als die Hände über dem Kopf verschränken.« (ThB: F. S. 273) Sexualität sei nichts als ein Ausweichmanöver, eine Flucht vor der Unbill des Lebens (Vgl.: ThB: F. S. 19) und Ehe nichts als Marter (Vgl.: ThB: F. S. 266).

 

Atmosphärische Parallelen? Frauenfeindlichkeit, Beziehungsunfähigkeit, Distanz? Natur als Bühne?

  • ja! ja! ja! ja!

 

Kaum haben wir den Verdacht geäußert, das Ich im »Wunderbrunnen« sei ein unzuverlässiger Erzähler, vielleicht sogar der verborgene Liebhaber, nährt sein Agieren im Lesenden den Gedanken, es verfolge eine Spur, es wisse offenbar etwas, dass es uns bewusst verschweige, womöglich um final wie Hercule Poirot zu agieren: Sonnenklar sei es doch, hätten wir bloß unsere kleinen grauen Zellen besser bemüht … 

 

Alles eine Inszenierung auf der Bühne der Natur

 

Während man noch darüber grübelt, zieht das Ich einen Vergleich zu einer Theaterinszenierung – frappierend, vor allem wenn man zuvor Thomas Bernhard gelesen hat: Schon wieder eine Parallele! Zu viele um Zufall zu sein. (Und zu unklare, um eindeutig und schlüssig zu belegen, dass …) Der Maler in »Frost« interpretiert nämlich die umgebende Natur als Bühnen-Inszenierung des Menschen, beziehungsweise erzähle unser Blick auf sie über uns: Wir lassen auftreten, indem wir sehen und wahrnehmen, hier ein Baum, zerzaust im Wind, dort, ein anderer, die Lichtung, ein Fuchs, ein Kadaver: Unser Augenmerk sagt mehr über uns aus als wir oft zu erzählen wünschen, schildert unser Befinden, unseren Seelenzustand. Dazu sei die Natur gut; und in ihr geht der Maler, der an der Krankheit Leben leidet,  final verschollen … Erschießt sich nicht, wie in früheren Fassungen, er löst sich schlicht auf. 

Und bei Henry James? Natur existiert im umgebenden Park, sie spielt eher eine Nebenrolle, ist aber der einzige Ort der Authentizität. Die Maske der ewig Quirligen, immer Geistreichen, beständig Flirtenden lässt Mrs. Server dem Ich gegenüber einzig beim Tête-à-Tête auf der Parkbank fallen: Die Wahrheit und kein Theater mehr.  »Und das dramatische Zeichen zum Schlußvorhang als Höhepunkt und coup de théâtre – müßte es nicht das Zeugnis dafür sein, daß der arme Briss der unerbittlichen Zeit unterlegen und Mrs. Server an einem Hirnschaden dahingeschwunden sei?«, während Longs gebendes »[…] Opfer letzte Einfältigkeit […]« und Grace Brissendens hohes Alter am Ende erreiche (HJ: W. S. 192f).

 

Frauen folgen einem Sarg?

  • naja?

 

These 7: Die Rolle der Wahrnehmung ähnelt einander in beiden Romanen: Es schwindet die Sicherheit, die Flucht beendet das Unterfangen.

 

Das »Wunderbrunnen«-Ich, selbstverliebt in seine vielbeschworene Wahrnehmungsfähigkeit, glaubt in den Anwesenden, insbesondere wenn sie ihm zu zweien »wie eine Person« (HJ: W. S. 208) oder ihm persönlich im Tête-à-Tête gegenübersitzen, lesen zu können wie in einem Buch, selbst wenn es manchmal daure, bis es korrekte Schlüsse ziehe, wie es freiwillig einräumt: »Ich hatte […] das seltsame Gefühl, als hätte ich meinen Finger auf eine Stelle bei einem Lieblingsautor gelegt, die mir bisher nie aufgefallen war. Ich hielt das Buch verborgen hinter meinem Rücken; ich redete von Dingen, die gar nicht darin standen – oder nicht auf jener bestimmten Seite; aber gleichwohl wartete mein Buch nur auf mich. Was dort geschrieben stehen mochte, summte mir bereits in den Ohren als Antwort auf meinen ersten flüchtigen Blick hinein.« (HJ: W. S. 208)   

 

Wahrnehmung infrage gestellt

und wir werden nie erfahren,

wer denn nun mit wem …

 

In weiterer Folge stellt das Ich jedoch den Wert der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit für das eigene Sein infrage – »Ohne Wahrnehmungsvermögen zu sein, war ja die sinnvollste, die gelungenste, weil freundlichste Form der Eigennützigkeit […].« (HJ: W. S. 210) –, oder um es mit anderen Worten zu sagen: Wer nichts wahrnimmt, braucht sich um nichts zu (be)kümmern. Einen ähnlichen Schluss zieht übrigens implizit auch Thomas Bernhards Ich, wenn es vermerkt, alles sei ihm viel zu viel, um danach überstürzt Weng zu verlassen. Nur die Flucht aus innerer Involviertheit scheint ihm mögliche Rettung zu versprechen. Ähnlich ergeht es auch Henry James Ich, welches sich zuvor noch ein allerletztes kommunikatives Duell lieferte, das Grace Brissenden damit beendete, dass sie dem Ich an den Kopf warf: »Mein Armer, Sie sind wirklich verrückt, und ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« (HJ: W. S. 364) 

Die Wirrheit von Frage-und-Antwort, die verschämten Hinweise auf ein Wissen, dass nie geäußert wird, all das nimmt gegen Ende des »Wunderbrunnen«-Romans stetig zu, sodass final die Aussage des Ichs, es sei aller Theorien müde, wolle bloß noch weg (Vgl.: HJ: W. S. 229), Lesende nur insofern überraschen wird, dass alle Erzählfäden ja noch offen sind – außer der Plot sollte sich darin erschöpfen, dass Freunde langweilige Tage am Land verbrachten, wo es vor Fadesse nichts zu tun gab und auch der Gastgeber, der sonderbar nebulos bleibt, sich um keine Unterhaltung kümmerte, weshalb Klatsch und Tratsch die einzige Möglichkeit war, die Zeit totzuschlagen. Nicht im Ernst, oder? Und während wir uns noch wundern, dass es auf nichts hinauslief – ein Gefühl, dass uns doch bereits aus »Frost« vertraut ist, nicht wahr?, packt unser »Wunderbrunnen«-Ich in fliegender Hast seinen Koffer, um am nächsten Morgen verschwunden zu sein, bevor die anderen noch aus ihren Schlafräumen auftauchen – irritiert, verwirrt, am Rande eines Zusammenbruchs? Aber im »Wunderbrunnen« doch nicht, wieso denn auch? 

 

Die Kernfrage beider Romane: Wie erlebt es das Ich?

 

Warum dieser überstürzte frühmorgendliche Aufbruch? Nur wegen der Erinnerung an den vermaledeiten Dialog mit Grace Brissenden, indem das Ich einer Frau in der Kunst des Wortgefechts unterlag: »Solch ein letztes Wort – dieses Wort, das mich ganz und gar ins Nirgendwo beförderte – war allzu unannehmbar, um mir nicht von neuem nahezulegen, es mit einer sofortigen Flucht in eine andere Luft zu versuchen […]. Ich würde mich gewiß, wenn in die Enge getrieben, nie wieder durchsetzen können, obschon ich über dreimal soviel Methode verfügte wie Mrs. Brissenden. Was mir fatalerweise fehlte, war ihr Ton.« (HJ: W. S. 365)   

Ich habe bereits auf die mehrfach vom Ich geäußerte These hingewiesen, Frauen seien in seinen Augen nicht brillant und geistreich höchstens im Vergleich zu anderen weiblichen Figuren. Der finale Schlagabtausch mit Grace Brissenden mag einem solch chauvinistischen Ich peinlich sein, aber es kann doch wohl kaum eine derartige Irritation bedeuten, dass sein Weltbild in ähnlicher Weise zusammenklappt wie dasjenige des Bernhardschen Ichs nach Dauerbeschuss durch des Malers Monologe, damit es so überstürzt den Ort verlässt? Andere Hinweise, Ereignisse gab es jedoch nicht. Ja, als Lesender fehlt einem am Ende jedwede Idee! Veräppelt fühlt man sich, ratlos, wie der Ochs vor dem Scheunentor – ein ähnliches Gefühl wie nach der »Frost«-Lektüre … Aber andererseits … und man grübelt, denkt an die Flucht, weil einen die Krankheit ›Leben‹ überholt, oh, Bernhards Maler ist sie Existenzangst, ist Kampf und Krampf, weil die Bosheit rundum einen vergiftet, die Falschheit der Menschen, die einem, ins Leben geworfen, den Atem nimmt, und der man nur durch den Tod entkäme. Und bei Henry James? Alles ist schöner Schein – das Landhaus, der Park, die festliche Tafel, die private Gemäldesammlung. Dahinter aber lauert ein jeder auf die Blöße des anderen, fürchtet der abgrundtiefen Langeweile tagtäglichen Müßiggangs zu unterliegen, in den nur der Tratsch Leben bringt, solange die Peinlichkeit desselbigen nicht einen selbst betrifft. Dann aber bedeutet sie gesellschaftlichen Tod, bedingt die Flucht. 

 

@ Thesen 5-7: Auch die pure Spiegelung behaupteter Handlungselemente im eigenen Werk ist eine Aussage!

 

Aber eine Conclusio? – Unmöglich!

 

Die Frage, ob der »Wunderbrunnen« nun dasjenige Werk sein könnte, welches Thomas Bernhard sich als Anspielungsfolie auserkor, lässt sich meines Erachtens leider nicht eindeutig beantworten. Bei allen Ähnlichkeiten, die hell leuchten wie Henry James wortwörtliche »Fackeln [d]er Analogie« (HJ: W. S. 247), stehen diesem Schluss andere Argumente entgegen, die ebenso stichhaltig genannt werden müssen: Der Sarg ist nur als Zukunftsvision des nahenden Endes des ›armen Briss‹ und ›Graces Opfer‹ vorhanden, eine ›zerstörte Stadt‹ lässt sich einzig im nahenden Untergang einer landadeligen Lebenswelt sehen. Sicher ist einzig das Urteil, das beide dieser sonderbar verstörenden Romane einander einen Spiegel vorhalten, nicht nur darin, dass die Geschichte, die sie erzählen, nirgendwohin zu führen scheint und man sich ihr Erzähluniversum erst wie eine Archäologin erschließen muss, denn Wahrnehmung und sich Einlassen auf ein Du, das sind bloß Eckpfeiler. Die Logline – das heißt, beide Inhalte auf einer Metaebene subsumiert – könnte aber lauten: Diese Romane sind der versuchte Beweis wie aus einem Gedanken eine fixe Idee entstehen kann, und wie Hirngespinste und vermeintlichen Entdeckungen unser Ja, in beiden Werken beginnt das jeweilige Ich ›Gespenster‹ zu sehen, weil die Aufgabe, mittels eigener (und absolut überschätzter) Wahrnehmungskraft, die anderen Anwesenden zu entschlüsseln, sie (und uns) an den Rand des Irrsinns bringt!

Falls nun aber der eine oder die andere Lesende auf Basis dieser Reflexionen zu einem anderen Schluss kommt, Hinweise entdeckte, die ich übersah: Nur her damit!