I.
Fragmente regen an, so August Wilhelm und Friedrich Schlegel in ihrer Zeitschrift »Athenäum«, denn sie bewirken durch ihre Brüchigkeit der Struktur weitere literarische und intellektuelle Produktion. Darin unterscheiden sie sich vom Aphorismus, der auf den Punkt bringt, sodass nichts weiter zu sagen bleibt: Tür treffend geschlossen. Die progressive Universalpoesie der Frühromantiker*innen zur Zeit der Wende ins 19. Jahrhundert plant, die getrennten Gattungen wieder zu vereinigen: Dichtung soll mit Philosophie sowie Rhetorik in Berührung treten. Mehr noch: Sie will und soll sich mischen: Poesie mit Prosa, in Genialität und mit Kritik, Kunst sowie Natur. Nur so könne Dichtung lebendig und gesellig bleiben. Und das Leben sowie die Gesellschaft poetisch machen, ja, sogar den Witz poetisieren. Damit die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art gesättigt und durch »die Schwingungen des Humors« beseelt werden. Was die Lektüre des Fragments anrege, soll gesellig-gemeinschaftlich weitergeführt werden: ›Sympholisieren‹ nannten sie dies. Ihr Widerwort gegen jedes traditionell-geschlossene Kunstwerk, aus dem – alle Fäden zu einem Ende gebracht – nicht weitergedichtet, -gedacht werden könnE.
II.
Reste, die sich verhaken – während und nach der Lektüre. Lesereste, Wortbilder, Satzmanöver, Erinnerungssprenkel: beseelte ›Spiegelsäle der Literatur‹ nenne ich sie, und Marcel Proust ihren Meister. Er schrieb: Eine Stunde Zeit sei niemals nur eine Stunde, sondern vielmehr ein Gefäß der Fülle, darin Düfte, Töne, Pläne und Klimate: Das sei unsere Wirklichkeit, denn die Realität definiere sich durch »[…] eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben [...] – eine einzigartige Beziehung […]«.
Beide Pole in einem Satz für immer miteinander zu verbinden, das sei die Aufgabe der Literat*innen. Erst die so entstandenen Sätze spiegeln das Leben, welches wir alle führen, und das wir wahrnehmen könnten, würden wir: sehen, hören, sinnen, spüren.
Doch die meisten Menschen betrachten nie ihr Leben auf jene Art. Es dämmert bloß in ihnen. Gleich einem Photonegativ, welches nie entwickelt wird, um betrachtet zu werden – wodurch es final nutzlos bleibt. »Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur […]«, schrieb Proust. Deshalb bedürfen wir der Künstler*innen, die all unsere Negative ans Licht befördern, sie zur Wahrnehmung aufbereiten. Erst die Kunst ermöglicht uns jene Weite, über Jahrhunderte hinweg.
Heutzutage empfinden Lesende die Spiegelsäle der Literatur häufiger jedoch als Irritation, weil ihnen die Lektüre dieser Werke keinen Konsum gestattet, sondern sie mit Hörresten, Sehresten, Fühlresten ihrer eigenen Wahrnehmung, mit Wortbildern, Satzmanövern und Erinnerungssprenkel zu füttern versuchT.
III.
All diese Spiegel, all die offenen Türen und Fenster, mit denen Lesende sich in der Lektüre konfrontiert sehen, erinnern sie in dieser Kunst der Windstriche an ihr reales Sein. Manchmal streichen sie als sanfter Hauch, manchmal in heftigen Böen über Lesende hinweg. Als wären sie im Werk ein weiter Protagonist, der da oder dort auftaucht, um im fiktiven Erzähluniversum an der Seite anderer Figuren zu leben. Es ist diese Form der Literatur, der ich Wertschätzung entgegenbringe, weil sie mich nährt, mir geistiges Wachstum gestattet, da sie sich in Sprache und Form jeglicher hastiger Konsumation verwehrt. Kein Liebkind unserer unterhaltungsfreudigen Zeit, ich weiß; folglich: auch kein Liebling in den VerlageN.
IV.
Gut ist, was sich in Massen verkauft, sagt man in den Verlagen. Gut ist, was Zeit totschlägt, in tötender Zeit, sagen die Verkaufszahlen. Was scheinbar Halt gibt, in haltlosen Tagen: die Narration als Fastfood. Vorzugsweise in Fortsetzung.
Zwei Jahrhundertwenden fern der Romantik, eine nach der Moderne, die beide noch bedachten, dass all unser Wissen Stückwerk ist: Weit sind wir gekommen, schneiden höchsten noch in Serienscheiben, Stück für Stück, sind zufrieden mit der ›Allheit des Vielen in Einem‹, Einheitsbrei der Totalität. Dabei schrieb noch Theodor W. Adorno: »Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins FragmentarischE.«
V.
Marktmacht ist darin, in der ›Form als Totalität‹, doch keine Kunst. Wenn die ›Allheit des Vielen in Einem‹ sich als trügerische Ganzheit behaupten will, wenn das beunruhigende Element des darüber Hinausweisenden, nicht gefragt ist, weil wir uns lieber in übersichtlicher Illusion bewegen statt in zersplitterten Realitäten, wenn widersprüchliche Erinnerungen und Empfindungen sich nicht mehr zu Spiegelsälen verbreiten dürfen, verarmt der Geist zu konsumierender Blödheit in unserem ZeitenrauM.
VI.
Ein Fragment in seiner beunruhigenden Form könnte sogar unser liminales Sein abbilden: Ewig sind wir heute auf dem Weg. Von-nach und über tausend Schwellen. Es könnte uns ob seines innehaltenden Sprechmodus Ruhe gewähren. Im Nachsinnen. Herzschlag verlangsamt, Atmung vertieft. Was uns Entwicklungsraum gäbe, wäre eine neue Form des Bildungsromans, der das flutende Kaleidoskop unserer hurtigen Realität in Form fraktaler Fragmente in seiner Narration darlegt. Von-nach und über tausend Schwellen …? Am ehesten finden sie heute noch in der Fantasy ihren zeitgenössischen NiederschlaG!
VII.
Nur in dieser phantastischen Verhüllung, entrückt in andere Welten, gestattet der Mainstream noch das Erzählen der Verunsicherung. Aus Sehnsucht nach Sicherheit und festem Grund, betrügen wir uns selbst. Statt uns mit unserem fragmentarischen Sein zu befassen, heben wir neue Genres aus der Taufe und in den Himmel: Die Selbstinszenierung, hochstilisiert, wird zum Alpha und OmegA.
VIII.
Täuschungsmanöver nenne ich autobiographische Bespiegelungsarten der Narration, die vorgeben, Einblick zu gewähren in die Authentizität eines Lebens, und mit der Behauptung, ›nichts als die Wahrheit‹ wiederzugeben, negieren, dass jedwedem Sprechen über das Leben das Fragment innewohnt, sodass ihre ›Authentizität‹ per se nur Tünche sein kann. Selbst der Satz müsste sonst brechen. Kaschieren soll dies vor sich her getragene ›Authentische‹ die Unstimmigkeit, welche bereits durch die Selbstinszenierung entsteht: eine Kluft zwischen Wirklichkeit, subjektiver Wahrnehmung und darstellendem Wort. Würden wir uns wahrhaftig hinein begeben, in jene Kluft, könnten die fasrigen Kanten das ›Sympholisieren‹ anregen. Nur das Fragment, auf der Selbstbestimmung des Gedankens beruhend, schafft den Spagat, individuell zu sein, wiewohl es Universalität spiegelt. Was soll daran derart beunruhigend sein, dass wir es zu meiden trachten? Gerade in einer Zeit, die sich aus der Erkenntnis nährt, dass alles eine Brüchigkeit hat: das Lebensprojekt und wiR?
IX.
»Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts,« lautet das »Athenäum-Fragment 22« von Friedrich Schlegel. Projekte, so heißt es darin weiter, seien »Fragmente aus der Zukunft«. Es ist die Unsicherheit ihres Werdens, die uns Künstler*innen weitertreibt: zu immer neuen Projekten und folglich zu immer neuen Ideen. Eine Unsicherheit des Werdens, die auch darin besteht, dass jenes final in seiner Realisierung sichtbar werdende Objekt aus unzähligen subjektiven Keimen genährt werden will: Es bedarf des Scheiterns zuvor. Eines Scheiterns, das keineswegs als Untergang begriffen wird. Sondern als Schritt auf dem Weg. Wir bewegen uns auf eine Wahrheit zu, ohne zu behaupten, dass wir sie besäßen oder je besitzen könnten. Der Verlockung des intellektuellen Abenteuers hingegeben. Nachsinnen braucht die Tiefe der Zeit; die unsere: tänzelt lieber obenauF.
(Schachinger, Marlen: Zeit für Fragmente. 9 Aufzeichnungen. In: Zeit für Fragmente. Sonderausstellung des Museums Hamburger Bahnhof, Berlin, Jänner 2020.)