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Sulzer »Unhaltbare Zustände«. Worum es wirklich geht oder wie unhaltbar sind die Zustände

Für Alain Claude Sulzer hingegen liegen sie anderswo; zumindest auf den ersten Blick; im Altern, behauptet außerdem der Pressetext. Meines Erachtens ist das eine unhaltbare Vereinfachung, deren Motivation mir obendrein wenig einleuchtend erscheint, und außerdem Alain Claude Sulzers »Zuständen« in meinen Augen unwürdig ist.

Seine Hauptfigur, ein 58-jähriger Schaufensterdekorateur namens Stettler, plagt kein lahmendes Kniegelenk, kein sperriger Ellenbogen, keine steife Schulter, sondern er verrückt sich – und dies in einer Zeit des Wandels, in der endlich mal Bewegung in eine starre Gesellschaft kommt.

Die Rede ist hier aber nicht von unserer Gegenwart, sondern die Uhren der erzählerischen Gegenwart dieses Romans weisen auf 1968, wiewohl die geschilderten Szenen durchaus an manche Facetten in unserem Heute erinnern mögen: im Loblied auf die Warenwelt zum Beispiel, oder auch im Aufbegehren einer jüngeren Generation gegen die Ignoranz der Älteren, in der Darstellung einer Polizeimacht, welche ihre Befugnisse überschreitet und ein friedliches Sit-in mit Gewalt beendet. Was just der Biedermann Stettler photographiert, der zufällig daran vorbei flanierte und der bislang vor allem eines gewesen ist: ein braver Bürger. Nun wird er in Polizeigewahrsam genommen, wenn auch nur für wenige Stunden; für einen wie Stettler, den immer Korrekten, ein Schock.

Der Grund für sein Sich-Verrücken ist jedoch weder sein Altern noch die Konfrontation mit dem gesellschaftlichen Wandel, sondern die Tatsache, dass  ihm ein junger, innovativer Kollege ohne jedwede Vorankündigung an die Seite gestellt wird. Man sorge sich, sagt man, um die Zukunft – ohne je (s)einen Posten als in Bälde ›freien‹ auszuschreiben. Neue Ideen seien stets zu begrüßen, und seine Angst wird als unbegründet abgewunken, schon hat man keine Zeit mehr für ihn – nur seinen Arbeitskittel, das lässt man ihm über Ecken ausrichten, solle er bitte endlich an den Nagel hängen, dieses Objekt sei der neuen Zeiten unwürdig.

Zu Beginn all dieser Veränderungen bleibt Stettler bloß Zaungast. Erst durch zunehmende Bedrohung des eigenen Seins im beruflichen Alltag verdichtet sich seine Abwehr zu eindeutig unsinnigen Unterstellungen gegenüber seinem Kontrahenten, und bald schon traut Stettler jenem schicken Kerl alles zu.

Sich selbst hingegen? Viel zu wenig!

Nur in der Imagination zückt er das abwehrende Messer, nur in ewiger Vorbereitung klebt er den denunzierenden Brief aus Zeitungsbuchstaben, der dem Kontrahenten in der Chefetage das Grab schaufeln soll: ein eventueller sexueller Missbrauch Minderjähriger sollte doch auch in gegenwärtig neuen Zeiten genügen, um den Widerling zu entfernen, nicht? – Doch nur in seiner Phantasie wehrt Stettler sich – und einzig gegen jenen Kollegen; nicht gegen die Herren in der Chefetage, die Stettler mit ihrer Handlungsweise zur austauschbaren Ware erklären, ihm seine Indivualität stehlen, für die er – in einer anderen, einer idealen Welt – per se Anerkennung verdienen würde: ein Leben lang dem noblen Warenhaus im grauen Kittel brav gedient und zu Renommee verholfen.

Stettler verrückt sich also; aber nicht weit genug: Sein Denken bleibt kleinbürgerlich, sein Aufbäumen imaginiert. Um alsdann  im Verrücken viel zu weit zu gehen: Im Versuch, seinen Gegenspieler im Kampf um das Anerkennungsglück zu übertrumpfen, mogelt er sich in Persona in das Schaufensterbild, welches sein Kontrahent mit lebenden ›Schaufensterpuppen‹ gestaltete, allesamt junge Schauspielstudent*innen, die sich gegen Honorar wie Tiere im Käfig begaffen lassen, da ihnen keine andere Wahl im Überlebenskampf zu bleiben scheint.

Stettler gesellt sich in dieses Bild, eine Sommerszenerie, nimmt im Liegestuhl Platz – nackt. Wiewohl – oder gerade weil? – man ihm nachsagt, er sei alt, er wage nichts, geht er ein größeres Wagnis ein als der Konkurrenz-Kollege. Stettlers Protest beschert jedoch dem Kaufhaus keine bewundernden Ausrufe, wie er sie so gerne einst bekommen hätte, sondern bloß einen kleinen Skandal, und ihm selbst den in den erzählerischen Raum gestellten Abtransport – vermutlich in die Nervenheilanstalt, eventuell auch nicht. Bei Sich-Verrückenden will eben keiner so genau nachfragen, warum und wieso, schon gar nicht die gesellschaftlichen Hintergründe durchleuchten. 

Ein nachhaltiger Wandel findet in diesem Erzähluniversum nicht statt, trotz der im Roman-Hintergrund symbolisch gehissten Vietcongflagge; denn Stettler ist dazu nicht in der Lage; und sein Kontrahent, der Profiteur, nicht willens. Für das Aufbegehren der jungen Generation genügt Vaters Ohrfeige oder der Polizeigewahrsam als Schlussakkord.

Es ist unser Wissen um die Kleinkariertheit unserer Welt, um ihre unhaltbaren Zustände, die einen während der Lektüre und in ihrem Nachhall nachdenklich stimmen, da einem bewusst ist, dass diese Figur, die einem – trotz oder wegen aller Kauzigkeit – von Seite zu Seite sympathischer wird, wohl keine Chance bekommen kann – ebensowenig wie sein Kontrahent oder die Radiopianistin Lotte. Stettlers Ringen um Sichtbarkeit berührt, selbst wenn (oder gerade weil?) es zusehends selbstzerstörerischer wird. Es ist seine Hilflosigkeit, mit der man sich – graduell abgestuft wohl – identifiziert; und weshalb er mir unter die Haut ging.

Lotte, die Kontrastfigur zu Stettler, scheiterte im Gegensatz zu ihm bereits in ihrer Jugend; und zwar am Chauvinismus der Kunstbranche. Sie ließ die sexuelle Dominanz ihres Klavierlehrers, die sich mit abwertenden Kommentaren über Frauen als Künstlerinnen gefällig paarte, über sich ergehen, um in der erzählerischen Gegenwart das Fazit ziehen zu können, dieser Klavierlehrer habe sie in ihrem Sein als Individuum wenigstens nicht zerstört. Das ist – selbst für eine Figur, deren Funktion im Erzähluniversum offensichtlich ist – etwas mager. Leider erhält Lotte  in ihrer erzählerischen Gegenwart zu wenig Eigenleben, unabhängig von Stettler, um jenem Protagonisten wirklich gleichwertig an die Seite gestellt zu werden. Es wäre durchaus von Interesse gewesen, ihre Psyche mit Stettlers zuerst stockendem und alsdann selbstzerstörerischem Aufbegehren zu kontrastieren: Wie reagiert eine Frau, die bereits ein Leben lang mit unhaltbaren Zuständen gelebt hat, auf eine Zeit allgemeinen Aufbruchs? Weshalb verrückt sie sich nicht? Wird ›nur‹ misanthropisch? 

Stettlers Sich-Verrücken, weil er – bemänteln wir es doch nicht mit schönen Alter-Phrasen! – unter der Austauschbarkeit leidet, fußt auf dem Waren-Charakter, den unsere Welt Menschen zuschreibt. Wer als Ware gesehen wird, darf benutzt werden; und danach durch ein neueres, ein jüngeres Modell ersetzen werden, damit sich der finanzielle Profit steigern lässt: wie Lotte, wie Stettler. Dieses Geisteskind ist, was ihn verrückt, dies ist der unhaltbare Zustand.

Sollte der Pressetext des Verlags nahelegen wollen, wir seien wegen unseres Protests gegen solche Zustände alt? – Von mir aus! Dann bin ich es nämlich herzlich gerne, und nicht bloß alt, sondern uralt sogar! – Oder will er implizit mitteilen, dass das Alter als Thema eben eine gefälligere Verpackung ist, wer könne es denn ohne Shitstorm wagen, das Kind beim grausigen Namen zu nennen? Grüßt darin die Politik, dass ›Alterskündigung‹ ein ›unhaltbarer Zustand‹ sein darf, nicht aber die Reduzierung des Menschen auf Waren-Wert? Wenn dem so ist, wäre das noch trauriger …

 

Quelle: Sulzer, Alain Claude: Unhaltbare Zustände. Berlin: Galiani 2019.