Ja, ich gebe es zu: Ich bin begeistert! Und da dies selten geschieht, dünkt es mich um so bedeutsamer. Romain Gary schildert in »Die Jagd nach dem Blau« (Edition Blau) das Heranwachsen des jungen Ludo bei seinem Onkel, einem Postbeamten. Klingt nach Fadesse und ist es nicht, denn der alte Herr hat es wahrlich in sich und Ludo nicht minder!
Als der Onkel nach dem Krieg vierzehn-achtzehn in sein kleines Dorf zurückkehrt, ist er Pazifist und hat beschlossen, in Zukunft all seine freie Zeit dem Bau von Flugdrachen zu widmen. Manche finden, er sei ob der Kriegserlebnisse verrückt geworden, andere halten es für einen Spleen, wiederum andere nennen es den göttlichen Funken, ihm ist das alles einerlei. Er baut ›Rousseau‹ und ›Zitterbacke‹, ›Blauer Vogel‹ und ›Jeanne d’Arc‹, lässt in den 1940er Jahren ›Judensterne‹ ins Blau ziehen, kümmert sich um seinen verwaisten Neffen Ludo, der bald schon in der Schule auffällt: Sein Gedächtnis ist nämlich bedenklich phänomenal, ganz der Onkels; und während Ludo noch zehn Seiten des Kursbuchs der Bahn memoriert, kann sein Onkel alles Gehörte, Gelesene und Gesehene der Geschichte Frankreichs nicht vergessen. Da Ludo vierzehn ist, entdeckt er die Walderdbeeren und mit ihnen das polnische Mädchen Lila, Tochter Adeliger, die ihren Sommersitz in jenem kleinen französischen Dorf haben. Eine erste Begegnung, die Ludo niemals vergessen wird, selbst wenn er Lila erst Jahre später erneut begegnet, um nun vor allem zu erfahren, dass er, der Dorfbub des meschuggenen Postboten, in ihrer Welt nie aufgenommen und akzeptiert werden wird, da jene aus Oberflächlichkeiten besteht. Eine Heirat? Völlig ausgeschlossen. Trotzdem findet er in Lila – oder vielmehr in der Liebe zu ihr – seinen Sinn des Lebens, lernt hinzunehmen, dass diese Emotion für alle anderen nur »eine angenehme kleine Zutat« (S. 154) des Lebens ist.
Wir schreiben mittlerweile die späten 1930er Jahre, Hitler kommt an die Macht, bald schon folgt der Einmarsch in Polen, und Ludo versucht, in Sorge um Lila, diese trotz der Kriegswirren zu finden. Nicht diejenige, die er ohnedies in sich trägt und mit der er stundenlang dialogisiert, um sie in sich zu bewahren und zu beschützen, sondern außerdem auch die reale junge Frau. »Nichts, was nicht zunächst einmal der Vorstellungskraft entspringt, ist es wert, erlebt zu werden, sonst wäre das Meer nichts weiter als Salzwasser […]« (S. 239), tröstet ihn sein ehemaliger Lehrer. Wie jener und auch wie sein Onkel, wird Ludo Mitglied der Résistance – alles Weitere empfehle ich Ihnen dringend, eigenständig zu entdecken. Und nein, dieser Roman ist keineswegs ›noch einer‹ über die NS-Zeit, und nein, es griffe zu kurz, würde man sagen, er beleuchte den französischen Widerstand, um davon ein Bild zu zeichnen, dem kein Schwarz-Weiß genüge, sondern stelle diese Bewegung in ihrer Zeit und in all ihren Schattierungen dar: »Jetzt reicht’s allmählich mit diesem Schwarz oder Weiß. Grau ist das Einzige, was menschlich ist« (S. 332), wettert der Onkel im Roman, und genau darin besteht auch die Faszination dieses Werks: Es ist eine Geschichte der Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit.
Dass der Roman in Frankreich bei seinem ersten Erscheinen 1980 eher kein begeistertes Echo hervorrief, überrascht wenig, es war wohl zu früh, um erfolgreich am Goldglanz der Résistance zu kratzen und ein differenziertes Bild zu zeichnen, heißt es doch darin: »›Unsere Résistance-Kämpfer, die von Frankreich eine wer weiß wie phänomenale Rückkehr erwarten, werden oft im zähneknirschenden Lachen das Maß ihrer Enttäuschung erkennen lassen, aber vor allem ihr eigenes Maß …‹ ›Mangel an Liebe‹, sagte ich.« (S. 239)
Ein eisiger Spiegel wird einem aber auch darin vorgehalten, dass zwar das Entsetzliche am Nazismus seine Unmenschlichkeit sei, ergänzt um das Faktum, das just diese offenbar so menschlich sei: »Die Deutschen, natürlich, ja, die Deutschen … Diesmal sind sie in der Geschichte an der Reihe, das ist alles. Nach dem Krieg, wenn Deutschland erst einmal besiegt und der Nazismus verschwunden oder verborgen sein wird, werden wir ja sehen, ob nicht andere Völker in Europa, in Asien, in Afrika, in Amerika an seine Stelle treten.« (S. 323)
Klare Worte auch über all die Mitläufer aller Zeiten, denen es vorher, nachher oder dazwischen lieber war, den Mund zu halten: »Es waren keine Ungeheuer. Und genau das war ungeheuerlich.« (S. 356)
Doch nicht nur deshalb ist dieser Roman empfehlenswert, sondern wegen der Dichte der Charaktere, ihrer Dreidimensionalität und Eigenwilligkeit, die sich bis in ihren Umgang mit Sprache zieht. »Die Jagd nach dem Blau« versucht eine stimmige Welterklärung des Guten in sprachlicher Schönheit, dessen Entstehung und Beweggründe, und berührt, weil sie einen trotz allen Grauens ermutigt. Der Wahnsinn der Welt, so scheint Gary uns zu sagen, ist sowieso da, ob ich ihn nun ansehe oder nicht; schauen wir ihm doch lieber ins Auge, und bauen danach mahnend sich in den Himmel erhebende Drachen, sie ziehen an einem, reißen an der Leine, machen sich viel zu gerne auf, um dem Blau nachzujagen, gibst du nicht auf die Leine acht. Halten muss man sie, halten und sich nicht fortreißen lassen, und kehren sie auf die Erde zurück, brauchen sie viel Zuwendung, sonst verlieren sie an Form und Leben, verzweifeln leicht … (Vgl.: S. 10–11) Legen Sie sich Block und Stift bereit, Sie werden beide benutzen wollen!