Peter Handkes »Kindergeschichte«. Oder: Erinnertes Schwanken zwischen Tragisch und Tröstlich.

Ein Jahr des Notierens, zwei Monate für den Entwurf, und die Erstfassung von Peter Handkes »Kindergeschichte« ist abgeschlossen; deren Beginn wird bereits in »Die Lehre der Sainte-Victoire« mit der abschließenden Frage »Zu Hause das Augenpaar?« evoziert. 

In der »Kindergeschichte« nun zeichnet Peter Handke eine Existenz nach, die sich zwischen den beiden traditionellen Polen eines erwachsenen Lebensentwurfs ›Partner*in‹ und ›Arbeit‹ aufspannt; wobei unter ›Beruf‹ nur ein einziger vorstellbar ist, das Autorenleben, da ihm ausschließlich darin »[…] eine menschenwürdige Freiheit wink[e] […]« (S. 9).

›Das Kind‹ kommt hinzu – und man hat den Eindruck, es sei das Beste in einer Ehe, die sich von Beginn an als fehlerhafter Entwurf abzeichnet (S. 13). Manch Lesenden mag diese distanzierte Namenlosigkeit irritieren; anderen hingegen leuchtet sie ein, denn die Erzählung folgt der Absicht akribisch zu beobachten, aus dem Wahrgenommenen die allgemein gültige Reflexion zu destillieren und sie in möglichst klaren Worten festzuhalten; für diese Versuchsanordnung der Darstellung einer Eltern-Kind-Beziehung wäre ein Name nur Lug und Trug, sie ließe des Lesers Täuschung in der Narration zu. Brecht grüßt also aus der Ferne. Wie auch immer wir heute dieses Manöver beurteilen mögen, es irritiert auf jeden Fall nach wie vor.

 

Ich erinnere mich gut an meine Erstlektüre dieser Erzählung, rund zwölf Jahre nach ihrem Erscheinen. Mein Sohn war in etwa drei, meine Tochter erst im Krabbelalter, wir lebten noch in Wien, wiewohl Paris bereits geplant war – doch sollte der Ortswechsel etwas auf sich warten lassen. Zu jenem Zeitpunkt waren wir auch noch nicht ›bloß‹ ein Teilsegment einer Familie, das auf sich allein gestellt zu überleben versucht; meine Güte, es wiederholt sich untilgbar das Noch / Noch-nicht! Als gäbe es ohne die Brüchigkeit, die implizit darin steckt, in heutiger Zeit kein Familienleben. Nein, keine Wehmut; oder kaum mehr. Auch keine Schuld.

 

Handke lässt seinen Ich-Erzähler die gleiche Erfahrung machen: Umzüge, damit ›das Kind‹, damit die Arbeit … – und einer von beiden Erwachsenen bleibt zusehends länger weg, sodass die Obsorge sich mehr und mehr zu demjenigen verlagert, der von Zuhause aus arbeiten kann. Und sich auch weiterhin darin versucht. Wiewohl der ununterbrochene zeitliche Raum für eine längere, konzentrierte Dauer fehlt, was mit sich bringt, dass im eigenen Empfinden »[…] zu selten […]  jene Verwandlung von Erfahrung in die Erfindung [glückt], die eine Arbeit erst glorreich macht, und dann auch die Freude der anderen ist.« (S. 63)

 

Deshalb nahm Handke sich vielleicht auch eine knappe Erzählung während jener Jahre vor; keinen Achthundert-Seiten-Schmöker. »Kein Bild« soll diese »Kindergeschichte« werden, »eine (unauffällige) Dramatik« soll sie haben, und ihr Narrativ müsse obendrein »schwanken zwischen Gefahr und Hoffnung, dem Tragischen und dem Tröstlichen«.

Knapp einen Monat nach dem Erstentwurf überreichte Handke dem Verleger Siegfried Unseld bereits die 25 »engst-beschriebene[n] DIN A4-Seiten, was sicherlich 100 Druckseiten ergibt. Korrigiert, schwer lesbar. Während er Tee und später Kaffee zubereitete, las ich im Manuskript«, wie Unseld über seinen Anteil an der Entstehungsgeschichte des Werkes notiert. 

Zu Jahresbeginn 1981 soll die Erzählung erscheinen, bereits im Februar sendet der Verleger seinem Autor ein Leseexemplar, noch mit provisorischem Einband; im Beibrief der Vermerk: »[E]s ist meine größte Freude, Dir das erste Exemplar Deines Buches zu schicken. Ich tue dies in der Gewißheit, daß dies Buch Dein größter Erfolg als Autor werden wird.« Womöglich gelang also die »Verwandlung von Erfahrung in die Erfindung« doch, wurde »glorreich« und eine »Freude der anderen« – die meine jedenfalls allemal, nicht bloß weil es tröstlich war bei Handke davon zu lesen, dass er – sei ›das Kind‹ während der Ferien beim anderen Elternteil – in der plötzlich »grellstillen Wohnung […] vom puren Alleinsein um[ge]fallen« (S. 65) sei – wie ich, alljährlich.

 

Heute sind meine Eroberer*innen ihrer Welten um gut ein bis zwei Köpfe größer als ich selbst; ihnen verdanke ich vieles. Auch dass ich Handkes Darstellung von Elternschaft so erlebte, wie ich sie erlebte, aufgrund meiner unmittelbaren Nähe zum Thema. Ich weiß nicht zu sagen, ob mich sein Erzählen der ›Tragik‹ des Begleitens eines Kindes in die Welt ansonsten auch stellenweise nach Luft hätte schnappen lassen; eine müßige Überlegung außerdem.

Mir schien damals, während jener ersten Lektüre, als schriebe er von uns, unseren Umzügen, unserem Schwanken zwischen Frankreich und Österreich, von meinem Hadern mit Erziehungsmaximen, die sich einzig daran begründeten, DAS mache man eben SO. In seiner Erzählung ›des Kindes‹, dessen Anderssein den Erzähler beschäftigt, sah ich in meinem Alltag die Spiegelung: Das Anderssein meiner Kinder, ihr Sich-selbst-genügen, ihr Vertrauen auf das Wort, das insbesondere dann zum Problem wurde, flogen in der Sandkiste mal wieder Schaufeln auf Schädel, wurden Bagger geklaut und Burgen rücksichtslos nieder getrampelt. Dann konnte es geschehen, dass ich »Monster ›ohne Gemeinsinn‹« (S. 94) über diese Lust am Zerstören knurrte, während die zu den Übeltäter*innen gehörenden Elternpaare oder -einzelstücke auf den Parkbänken rund um den Spielplatz höchstens Augenbrauen hoben; von scharf mahnenden Worten zur Erziehung ihres Nachwuchses zum mitfühlenden Menschsein war eher selten die Rede. Wahrscheinlich wurde aus all diesen Kindern mittlerweile trotzdem etwas Ordentliches; in den Augen ihrer Eltern. Und aus meinen Kindern in meinem Augen ebenfalls: ein empathiefähiger Pädagoge und eine starke Frau, die sich mit Politik und Literatur beschäftigt … Aber damals, damals, als ich Handke las, vielleicht sogar am Spielplatz, oder als ich wieder einmal über Biss- und Schlagverletzungen tröstete, da fragte ich mich manchmal wie Handke: Was soll bloß aus ihnen werden? Wenn das eigene Kind im Kontakt mit anderen nicht mehr dem souveränen Erprober eigener Wege ähnelt, der es sonst im familiären Alltag durchaus ist, ja, was tun, wenn sie auch beim dritten Drauf noch immer mit Sprachargumenten kontern? Schließlich ist man selber schuld, hat es ihnen doch so beigebracht; und während man sich auf die Zunge beißt, überlegt man bereits still und heimlich, ob nicht doch eine Chance bestünde, falls man das Gesicht abwenden würde, nur in diesem einen Notfall jetzt, dass sie ein einziges Mal auch zwicken, beißen, treten könnten – bitte sehr. Ohne dass man mit ihnen darüber reden müsse, wisse man doch nicht wie. Dabei hilft einem auch Handke nicht weiter, steht nur neben einem und murmelt: »Irgendwann kommt der Punkt, da ist es eben genug …«

Aber es tat wohl zu erleben, dass da einer war, der sich ähnliche Gedanken macht wie man selbst, der zerrissen zwischen Welterfahrung gewähren und Beschützen wollen zerrissen wurde.

Oder später, in Frankreich: Wie schnell sie die Sprache aufnahmen, sich darin heimisch fühlten – auch davon hatte Handkes Erzähler gesprochen. Ebenso wie von dem Elend unfähiger Lehrer*innen, die ihre Arbeit darin sahen, Kinder zu demontieren, statt sie zu begeistern. Lehrende, welche das »offensichtlich naturnotwendige Vernichtungsdrama« (52), das zuvor die Gleichaltrigen im freien Spiel schon begonnen hatten, fortzusetzen bestrebt waren. Er erzählt von der Not eines Elternteils, diejenigen im Pool der Pädagogen zu finden, denen ›des Kindes‹ Wachstum gleichermaßen wie einem selbst essentielles Anliegen ist. Um dem Kind so auf dessen, ihm eigenen Weg zur Seite zu stehen; und es ziehen zu lassen, um eigene Erfahrungen zu machen, die es befähigen, auch fürderhin »als jemand Handelnder auf[zutreten]« (S. 43).

Ja, die »Kindergeschichte« begleitete mich auf sonderbare Art, über Jahre. Erst als meine beiden Kinder aus dem Parallelalter des namenlosen Kindes aus der »Kindergeschichte« herausgewachsen waren, sie also in höhere Schulen kamen, verlor sich leise das Echo dieses Werkes ob neuer Themen und neuer Fragestellungen. Bis mein Sohn jüngst davon sprach, Vater werden zu wollen: Grund genug, die »Kindergeschichte« hervorzukramen, sie nochmals zu lesen – ja, diese Erzählung wäre ein wahrlich gutes Präsent, sie macht wenigstens eines sehr bewusst: Nimm genau wahr, was tust, leg dir selbst Rechenschaft ab und steh zu deinem Handeln, ob es nun misslungen oder gelungen sein mag!

 

 

Quellen:

Handke, Peter: Kindergeschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.

 

Zur Entstehungsgeschichte: 

https://handkeonline.onb.ac.at/node/1353 – Zuletzt eingesehen am 12.2.2020.