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Des Kiesels Spitze

Gestatten Sie mir, Ihnen eine Geschichte zu erzählen, denn das ist, was wir Literatinnen und Literaten tun und können: Wenn eine Quirlige, großgeworden im Trotzdem, überflutet mit Ideenfunken, mit umgebender Ohnmacht konfrontiert wird, dann stiefelt sie los, durch die Landschaft, die ihr ›Wort‹ ist. Und wenn diese – nennen wir sie Marlen – mit einem anderen in Quarantäne ausharrt – Robert erscheint mir ein guter Name –, der mindestens so viele Einfälle gebiert und dazu neigt, Fragezeichen zu lieben, statt Gegebenes hinzunehmen, dann stapfen die beiden sicherlich mitten hinein in ein Projekt. Solch eines braucht immer einen Titel: »Arbeit statt Almosen« dünkt ihnen derzeit passend.

Da sie kommunikative Geister sind, reden sie mit anderen darüber, denn sie glauben außerdem an das Miteinander, weshalb 19 weitere hinzukommen: Mindestens ebenso quirlige Menschen, obendrein ideengesegnet, und mit der Fähigkeit augenzwinkernder Infragestellung begabt, die gleichfalls davon überzeugt sind, dass ein Seite-an-Seite mehr Zukunft hat als jedwedes Für-sich. Selbst wenn von ihrer Berufsgruppe gemeinhin die Fama erzählt wird, sie seien Einzelgängerinnen, Scheuklappenwesen, singuläre Kämpfer auf weiter Flur. 

Da diese 20 allesamt Autorinnen sind, haben sie bei ›Arbeit‹ die Lebensnotwendigkeit des Schreibens im Sinn; und weil sich kein Literaturprojekt von heute auf morgen gestalten lässt, immer auch die Zukunft. Darin spielen ihre Leserinnen und Leser eine Hauptrolle: Die Arbeit wird ja für sie geschaffen, soll Denkräume öffnen, neue Wegrouten beschreiten oder Lebensentwürfe lesend erproben lassen, ihnen Inspiration werden … 

Schon entstehen Geschichten - über unsere Zeit in unser aller Danach. Oder wie Andrea Grill in einem Poetikvortrag sagt: „Ich las gierig, […] wollte die Sätze im Ganzen überfliegen und im Flug verschlingen. Der Mensch, die Menschin geht aufrecht, und kann Distanz nehmen – von sich, von anderen – durch dieses zweibeinige Sehen. […] Ohne Körper gäbe es kein Gedicht. Ohne Körper gibt es keine Zeit, sie ist das (wesentliche) Medium.«

Jedes literarische Werk bedarf seiner Zeit in aller Ruhe. Eile mit Weile, dies Sprichwort wurde sicherlich eigens für die Literatur erfunden. Selbst wenn wir uns manchentags zu dieser Geduld in der Komposition überreden müssen, sie oft eine Nervosität nährt: »Ich zähle die Schläge mit«, schreibt Julia D. Krammer, »schaue der Uhr ins Gesicht, als könne ich ihr damit das stetige Ticken abgewöhnen […]. Die Uhr versteht nicht, unbeirrt von meinen warnenden Blicken setzt der Zeiger seinen Weg fort. Die Zeit ist überhaupt schwer wiederzufinden an Tagen, die schnell vergehen, sie kratzt an den Holzmöbeln, nagt an den Gesichtern der Menschen, trödelt in den Nachtstunden, wenn man nicht einschlafen kann. Ich setze mich auf und sehe dem Zeiger der Uhr eine Weile dabei zu, wie er sich fortbringt, stetig umrundet er dasselbe Ziffernblatt, kann nicht ausbrechen aus seiner Zeitschleife (seit so vielen Jahren).« (Julia D. Krammer, Freie Tage)

Diese nötige Ruhe der Arbeit widerspricht unserem Zeitgeist, in dem alles immer schneller geleistet zu werden hat. Kaum ist ein Roman abgeschlossen, soll der nächste folgen. Als wären wir Schreibmaschinen, Textverarbeitungsprogramme: Füttere den Duden ein, schon erhältst du ein Universum. Deshalb haben wir uns ab und an in die Mühlen der literarischen Landschaft zu stürzen, um den Flegeln Einhalt zu gebieten, manchmal durchaus mit innerer Panik: »Heute war ich in Panik: zwei Straßen mit einem Baum in der Mitte. Panik hat alles, was man dazu braucht. Zwei blühende Magnolienbäume, einer weiß, einer rosa. Einen Fluss mit einem grün bewachsenem Felsen darin. Eine Brücke über den Fluss. Eine steile Straße mit Warnschild: Glatteisgefahr. Als ich auf der Mauer von San Lorzeno in Panico in der Sonne saß, vermeinte ich, zu hören, wie ein Stock aufs Pflaster tickte, ganz in meiner Nähe. Sobald ich die Augen aufmachte, kam das Geräusch von einem Stein, den der Wind vor sich her blies. Kinder klingelten mit Fahrradglocken. Das Tor der Kirche war versperrt.« (Andrea Grill, Skizze) 

Mir rollt dieser klackernde Kieselstein zu Renate Welsh, deren Gallensaft saugendes Vamperl in Österreichs Kinderzimmern seit Jahrzehnten ein- und ausgeht, bis ihre Leserinnen und Leser alt genug geworden sind, um sich an »Liebe Schwester« oder »Kieselsteine« zu erfreuen. Was Renate Welsh antreibt, verbirgt sich wohl in zahlreichen Frauenbiographien, auch in der meinen: Wer als Sohn erwartet wurde, hat zu beweisen, dass sie als Tochter durchaus genauso etwas taugt. Es ist ein kleiner spitzer Kiesel, der in den eigenen Schuh fiel, um zeitlebens darin zu stecken. Gut, wenn es dann Ahninnen gibt, an denen wir uns orientieren können. Über das Schuhwerk ihrer Großmutter schrieb Renate Welsh: »Unheimlich, welche Macht du hattest. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sie vererbt hast an eine oder einen von deinen Nachkommen. Diese Macht war so real, so greifbar, auch wenn ich immer schon den Verdacht hatte, dass du sie von anderen bezogen hast. Du warst groß, weil wir dich für groß hielten und groß brauchten …« (Renate Welsh, Großmutters Schuhe)

Solche Kiesel, so unbequem sie einem auf den ersten Blick erscheinen mögen, haben jedoch gleichfalls ihr Gutes: Man kann sie sammeln – und ins Wasser werfen; ein Mundhöhlenspiel in nachdenklichen Stunden mit ihnen treiben, sie unter die Matratze schieben oder in goldene Schönheit gerahmt am Ringfinger spazieren tragen. Es ist wie mit allem im Leben: Es kommt darauf an, was man aus Kiesel, Felsbrocken, Glasfronten und anderer Mühsal macht. Gleiches gilt auch für Dämonen, Traumgespinste, Tagesweben, Nachtbilder. Für uns Literatinnen und Literaten sind sie Inspiration, weshalb wir sie bewusst aufsuchen, manche davon sogar nähren.

Ja, Träume sollten gelebt werden, ansonsten verpuffen sie, zerplatzen wie Seifenblasen, denen die Spitze eines Grashalmes zum Ende genügt. Da kann es einem sonst wie Eszter in »Eszters Wende« ergehen: »Der Wahnsinnige macht mir bei unserem ersten Treffen nach Jahren Vorwürfe, weil ich Träume habe! Er habe keine mehr, keine Träume, keine Pläne, nichts. Ich stand auf, sagte, ein Schlaganfall sei nie und nimmer ein Gewinn, legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und ging.« (Silvia Hlavin, Eszters Wende) Hierin klingt bereits an, was ich an Silvia Hlavins Prosa so schätze: Das Unaufgeregte, das Verhaltene, die spärlich gesetzten Wörter, die just dadurch pointieren.

Silvia Hlavin schrieb mir dieser Tage, ihr Traum eines solidarischen Miteinanders habe sich gegenwärtig auf den Weg gemacht, möge ihm im Danach ein langer Atem beschieden sein! Weil unsere Welt davon nie genug haben kann. Auch damit am Ende vielleicht einmal alles gut werde, selbst wenn dazu – wie bei Katharina Goetze – kreative Phantasie nötig ist: »Jetzt stehen wir auf der Marienbrücke, die Weinberge, der Hundertwasserknubbel, das schwarze Kanalwasser vor uns. Und während sie von ihrer Vorvergangenheit erzählt, schaue ich hinauf und versuche zu erkennen, wer wer ist: Venus oder Jupiter, der Polarstern, oder die Internationale Raumstation. Ich rücke näher an sie heran und sie sagt: ›Macht dich das nicht auch manchmal müde? Wie schnell sich alles immer weiterdreht?‹ Der Krebs lächelt freundlich, die Jungfrau liegt schief über dem Horizont. ›Nur die da oben, die bleiben immer gleich.‹ Und weil es zu schön klingt, als dass ich sie korrigieren will, streiche ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und dann rücke ich noch ein wenig näher und sie auch.« (Katharina Goetze, Am Ende wird alles gut)

Unser Traumfragment vom Danach, das aus spitzen Kieseln entstand, fügt ein Frauengesicht an das andere; weshalb? Danach erkundigte sich bislang erst eine Journalistin. Die anderen ergänzten in ihren Berichten mit Überzeugung die männliche Form des Autors. Ich starre auf die Bildsammlung der beteiligten Literatinnen und frage mich amüsiert, wen sie darunter wohl für einen Mann hielten. Oder ist es ihnen schlicht und ergreifend nicht vorstellbar? Und wenn ja, weshalb? Weil weitere Mären über Literatinnen kursieren, welche das Begreifen der Bildrealität unmöglich machen? Diejenige der Stutenbissigkeit zum Beispiel; oder diejenige, dass Frauen sowieso nichts auf die Reihe brächten, schon gar kein solches Großprojekt. Dieser Kiesel wird auch dann nicht jünger, reibe ich ihn in der Hand. Während seine vielfachen Spitzen stechen, sehe ich den Verlegermund vor mir, der sprach, es sei nun einmal statisch erwiesen, dass Kritiker weitaus seltener über die Werke von Frauen schreiben, weshalb es schwieriger sei, diese am Markt zu positionieren. – Dem kann kaum etwas hinzugefügt werden. Außer die Wahrheit: Fliegen unzählige spitze Kiesel gegen gläserne Decken, kann sie nicht springen, aber das klackernde, klickernde Geräusch ihres Auftreffens wird so nervig sein, dass sie sich eines Tages von allein öffnet. Dazu bedarf es keiner Verbissenheit oder ausgefahrener Ellenbogen, insbesondere weil Ironie und Humor, ab und an gepaart mit Chuzpe, immer jedoch mit erstklassiger Arbeit, die weitaus kräftigeren Eispickel sind. Ich erinnere mich gut daran, wie ich vor 21 Jahren zu diesem Abenteuer freiberuflicher Autorinnenschaft aufbrach, mit nichts im Gepäck als Kühnheit und Ideenreichtum, im Schuh ein kleiner Kiesel, und mir Tilmann Eder zum Abschied aus meiner aktiven Buchhandlungszeit eine CD samt einer Botschaft schenkte: »These boots are made for walking … Und das, liebe Marlen, ist es, was du tun wirst!« So brach ich damals auf, mit Nancy Sinatra im Rücken; und er wenig später ebenso. Sein Weg führte ihn zu einem eigenen Laden, dem auf Literatur spezialisierten »Erlkönig« in Wiens Josefstadt; und mich der meine von Roman zu Essay zu Roman.

Aufbrechen führt stets die Schönheit des Entdeckens im Gepäck, und eine Anthologie ist eine phantastische Gelegenheit, alle Leserinnen und Leser zur Mitreise einzuladen, um weitere Wortkünstlerinnen und Bildzeichnerinnen kennenzulernen, die sie in der Publikationsflut womöglich bislang noch nicht für sich entdecken konnten und die mir bedeutsam erscheinen, weil sie einen jeweilig ganz eigenen Ton in jedem Werk aufs Neue anschlagen, weil sie im Wort sind und darin Heimat fanden und finden, weil die Bildsprache ihrer Wörter und die Wortsprache ihrer Bilder kraftvoll und einzigartig ist.

Außerdem erlebe ich in der Lehre »Literarischen Schreibens« wiederholt wie kraftvoll und anregend sich das Miteinander kreativer Geister auswirken kann; ein Spiegelbild dieses Prozesses, wenn eine – ideenreich – in anderer etwas anrührt, findet sich in Corinna Antelmanns Erzählung »Vier«: »[…] und während wir in der Höhe nebeneinandersaßen, da drehten wir uns ineinander, wie nur schwebende Töne sich ineinander drehen können. Der Taumel ließ uns durch die Lüfte fliegen, gehalten von einem einzigen Bügel aus Wagemut.

Oder aus Leichtsinn, je nach Perspektive.« (Corinna Antelmann, Vier)

Corinna Antelmanns Prosa ist von einer Leichtigkeit durchzogen, die sich aufschwingt in eine Weite, und die – wie manch andere der hier vereinten Kolleginnen – darin gerne lyrische Elemente zur Gestaltung nutzt; nicht des l’art pour l’art wegen, sondern weil »in der Poesie komprimierter Widerstand liegt«, so überschrieb Siljarosa Schletterer eines ihrer Gedichte. Diese junge Kollegin ergreift selbstbewusst und reflektiert das Wort, weil auch ihr die Lebenskraft der Literatin in einstürmender Welt im sprachlichen Gestalten liegt, für uns sind Wort‹ und ›Leben‹ untrennbar verbunden. Ohne die Möglichkeit, der Welt und ihren einstürmenden Wahrnehmungen mit gestalteter Sprache erzählend zu begegnen, schnappen wir nach Luft:

wir stehen hier 

und ziehen linien

zwischen tatsachen

stecken bilder ab

bändigen unser eignes grauen

zwischen zeilen

Tirols Quarantäne teilt sie mit der Lyrikerin und Slam-Poetin Rebecca Heinrich, die sich auch wissenschaftlich mit dieser Form der Textpräsentation beschäftigt, und deren Berührtheit vom Wort in »ich habe mich gestern verliebt« leise verklingt: »[…] habe dich nie kennengelernt. / / und ich steige in den bus, rempel gesichter an, stoße mich an blicken. / so viele berühren mich, ohne dass ich sie berühre / und doch spinnt sich in meinem kopf die welt einer idee, eine fiktive, aber mögliche / und so gern würde ich auch dich berühren. /«

Eine Idee, die Welt wird, um zu berühren, um im Lesenden etwas anzurühren, oder kraftvoll anzustoßen gar, um ein Feuer zu entfachen, ja, das kann aus literarischen Werken entstehen, denen die Ruhe zur Arbeit gewährt wird. Nun mag einer einwenden, was interessiere ihn, was Frauen denken, das allein sei ihm bereits Grund, »Arbeit statt Almosen« den Rücken zu kehren. Als ich diese Botschaft las, musste ich lachen – bis mein Bedauern mein Amüsement überwucherte. Welch armer Mann, der sich mit Scheuklappen, 51,3% der Welt verwehrt, 51,3% allen Denkens, 51,3% aller Stimmen. Welch armseliges Leben in solch enger Höhle, in der er haust, allein, unter Männern. Mein Bedauern gilt auch dem jahrhundertealten Bart dieser Geschichte, verfilzt ist er ob vergangener Zeit, verdreckt, und es wundert einen kaum, dass ihre Träger bis heute keinen Fuß ins 21. Jahrhundert setzen konnten. Ich leihe ihnen gerne eine ordentliche Schere; und meine 19 Kolleginnen gleichfalls, damit auch diese Herren eine Prosa genießen können, wie jene Angelika Stallhofers. Die Nähe zur Lyrik treibt sie dazu an, jedes Wort zu wägen und zu messen, bevor sie es nutzt: »Ich erinnere mich an Annas Notiz, die vor einiger Zeit auf dem Küchentisch lag: Immer schneidet sich irgendwo einer mit dem Zeitmesser, lässt sich bedrängen oder setzt sich selbst unter Druck.« (Angelika Stallhofer, Adrian oder die unzählbaren Dinge)

Literatur aber verweigert sich jedwedem Zeitdruck, sie fokussiert lieber die Unendlichkeit, das Davor, das Danach, um darin zu sein, schafft daraus Stuben und Landschaften, die Leserinnen und Leser betreten, um darin zu verweilen, daraus aufzubrechen oder wiederzukehren. In »Fragmente: Die Zeit danach« (https://www.startnext.com/fragmente) werden sich Varianten davon finden, Seite an Seite, denn Literatur ist kein Konkurrenzkampf. Literatur ist die Schönheit gestalteter Sprache, die uns in ihrer Reise von Wort zu Satz, von Bild zu Bildflut mitnimmt. Jeder Kopf ein eigenes Universum und jedem Lesenden das seine.