Das Prinzip Hoffnung
»Secession« sowie »duotincta« haben sich bewusst dafür entschieden, den Ökonomiezwang zu meiden. Wer in einem begrenzten Orangenhain wie die Fruchtfliege mit seiner Gier alles verschlinge, sodass final keine Schale für die Eiablage bleibe, fresse sich das eigene Grab, sagte Ruzicska von »Secession«. Wie in der Buchhaltung der meisten sogenannten freiberuflichen Literatinnen und Literaten, entschied man sich im jungen Verlag »duotincta« für die Mischkalkulation aus freien Lektoratsaufträgen und Brotjobs: Um tagtäglich (auch) tun zu können, was wir lieben, sind wir fast zu allem bereit; kein Grund zu jammern. Nicht einmal wenn die Notwendigkeit der Existenzsicherung, uns an unsere Grenzen bringt. »Wir im Tal«, so nannte Jürgen Volk diesen Zustand am Beginn der Eroberung eines eigenen Platzes im literarischen Feld. Als Kind meines Landes-der-Berge, denke ich bei mir, ein Tal ist nicht so schlecht, es kennt lebensnotwendige Ebenen, weiß um Wasserwege und genießt das Entdecken möglicher Routen, so steinig sie auch sein mögen.
Wie bei Jürgen Volk, der sich mit zwei Gleichgesinnten aufmachte, um die Weite zu erkunden, und manchmal ob eigenen Muts erschrocken innezuhalten: Weder ist er Verlegersohn noch Wissenschaftsenkel, kein Silberlöffel über Kindheit und Jugend, damit das Erbe unter seinen Händen gleichfalls gedeihe, keine Buchhandlung seit Generationen im Familienbesitz, sondern Arbeiterkind. Ob ich glaube, fragte er mich, mitten in unserer Diskussion über Bourdieu, dass ein Leben unausweichlich vorgezeichnet sei, wie Didier Eribon meine, dass es keinerlei Chance gebe oder einem keinerlei Chance gelassen werde, auszubrechen aus dem, was die eigenen Ahninnen und Altvorderen zuvor als ihr Sein begriffen. Selbst in der Erinnerung an diese Frage, halte ich die Luft an: Nein, es könne nicht sein, dass keinerlei Möglichkeit bestehe, durch qualitativ hochwertige Arbeit, umfassendes Engagement und Talent das eigene Sein beruflich zu gestalten, antwortete ich ihm. Den heftigen »Unfug!«-Einspruch, samt aller Wut und zynischem ABER! zur gesellschaftlichen Realität gemäß dem Wiener beinahe-schon-Sprichwort ›Sag mir, wen du kennst, und ich sage dir, was geht!‹, denke ich mir lieber. Wir kennen einander nicht gut genug, damit er mir dies Wettern sicherlich nicht übel nähme, und ich habe bei solchen Aussagen wahrlich Lust auf Blitz und Donner. Nicht der Frage wegen, sondern des Faktums wegen, dass ich mein ›Trotzdem!‹ seit Jahren dieser Realität entgegenstelle. Ja, eine Lust zu wüten, die selbst in der Erinnerung an jene Frage wiederkehrt. Ich denke an Beuys Schultafeln im Nebenraum; bin Tochter eines Hauptschullehrers, der zuvor Pfarrer war, und einer Hausfrau; bin Enkelin von Bauer und Bäuerin sowie Tischler. Ich gehöre zur ersten Familiengeneration, die ein Universitätsstudium absolvierte, bin die erste mit Doktorat: Ich verwehre mich dagegen, dass man mir mein Ich-Sein abspricht, weil mein Großvater ehrenvoll den Pflug führte, der andere gekonnt den Hobel oder weil mein Vater die Tafelkreide in Händen hielt, meine Mutter uns anstiftete, Bildung sei das Alpha und Omega des Lebens; selbst wenn sie heute manchmal meint, etwas mehr Fokus auf Freizeit und Erholung wäre auch keine allzu schlechte Idee, damit das Herz nicht auf halber Strecke schlapp mache, der Geist inspiriert bleibe und Essen, ab und an, wäre auch nicht zu verachten. Die Wahrheit hinter meiner Erzürnung ist, dass ich den Eindruck habe, die Gesellschaft versuche einem fortwährend mit ihrer Ignoranz anderes zu suggerieren als eigenständige Freiheit und den Glauben an Qualität. Ich weiß, wer ohne ererbte Rechte im Sandkasten der Großen mitzuspielen gedenkt, braucht eine ordentliche Portion Widerborstigkeit; und Mut, breite Schultern, Rückgrat, einen nonchalant erhobenen Kopf und mehr Ausdauer als er oder sie je für möglich gehalten hätte.
Ja, ich konnte Jürgen Volks unausgesprochen ausgesprochene Frage durchaus hören: Haben wir denn überhaupt eine Chance? Eine Aussage, die er in dieser Direktheit nicht zu positionieren wagte, da ich im Gespräch mit ihm nicht nur die Autorin repräsentiere, sondern eben auch die Presse. In seiner Öffentlichkeitsarbeit hat dieser junge Verlag die Erfahrung gemacht, des öfteren aus abwartender Pose belächelt zu werden, wenn nicht gar marginalisiert. Deshalb docken sie in ihren Bemühungen um Sichtbarkeit auch ganz bewusst im Umfeld ihrer Autorinnen und Autoren an, bilden mit diesen ein Team: Welche Medien sind in deren Umgebung existent, welche interessieren sich für ebenjenen schaffenden Geist. »Es gibt, gerade in Berlin, sehr viele die antreten …«, sagte Jürgen Volk. Und wieder verschwinden. »Eine Besprechung in der FAZ, in der NZZ, in österreichischen Medien, das ist weit, weit weg. Ohne persönliche Kontakte ist es sehr schwierig, von ihnen wahrgenommen zu werden.« Nun, Jürgen Volk und ich kannten einander auch bislang nicht, mich sprach während meiner Vorrecherche schlicht und ergreifend ihre professionelle Homepage an, weshalb ich dachte, dieses Verlagsteam könnte man durchaus anfragen; wirkt kompetent und sympathisch – und die bisherigen Kontakte bestätigen jenen Ersteindruck, wenn es mir erlaubt ist, diese persönliche Notiz anzubringen.
Wem Buchhandelsvertreter, Presseessen und große Verlagspartys unmöglich sind, der hat es schwer. Diese Erfahrung machte nicht nur das junge »duotincta«-Team, sondern auch der »Müry Salzmann Verlag«.
Dieser Salzburger Verlag ist gerade eben in eine ehemalige Industrie-Loft umgezogen, um nun auch eigene Raum für Gespräche zu haben. Feten kommen in Mona Mürys Schilderung nicht vor; jene Form der erpichten Repräsentation würde wohl auch kaum zu ihrem ernsthaftem Charakter passen, der für seriöse Verlagsarbeit aus Liebe zur Literatur brennt, wie deutlich im Dialog zu spüren ist. Vernetzung und Austausch stehen dabei im Vordergrund, vor allem mit dem Buchhandel: Es sei der gemeinsame Dialog, der dazu führe, dass Probleme gelöst werden können, man einander in der Alltagsarbeit unterstütze: »Wenn man engagiert ist, fällt einem auch etwas ein. Mit der Zeit erkennt man einander; stellt fest, dass man ähnlich tickt, folgt dem Prinzip Hoffnung.«
Was die allgemein etablierte Förderstruktur den Theatern gewähre, so Jürgen Volk von »duotincta«, einen Spielraum für das Experiment, der auch das schöner-Scheitern implizit erlaube, werde der Literatur verwehrt. Niemand würde sagen, ein Theater müsse sich per se rentieren, es sei ja ein Wirtschaftsunternehmen. »Wir leben noch immer in unserem kleinen Tal«, sagte Jürgen Volk, »und Konkurrenzdenken begegnet uns eher selten: Die meisten der Talbewohner, auch in anderen Nebentälern, sind sehr freundliche Zeitgenossen.« Zurückhaltung starre ihnen hingegen von manch hippen Bloggerinnen und Bloggern entgegen; denen seien »unsere Autoren zu alt oder sehen nicht genug nach Berlin (!) aus …« Ich frage mich ernsthaft, wie naiv ich trotz meiner vielen Branchenjahre offenbar noch immer sein muss, um zu glauben, es ginge bei Literatinnen und Literaten schlicht darum, WIE sie schreiben!
Zugegeben, ich weiß, dass das Aussehen vor allem bei Frauen eine entscheidende Rolle spielt, aber es direkt auszusprechen, Jugend und ein gewisses Erscheinen einzumahnen, Hippigkeit – oder wie immer man dies zeitgeistig nun nennen will – bitte wie bescheuert ist denn das? Nein, ich finde wahrlich, mit mancher Blödheit sollte man nicht seine Lebenszeit vergeuden, sich darüber keine Gedanken machen, wenn ein Blogger, eine Bloggerin das Erscheinungsbild über das Werk stelle, sei er oder sie in ihrem oder seinen Schreiben über Literatur sowieso nicht ernst zu nehmen; lieber die Klassiker der Weltliteratur studieren, die Philosoph*innen und Soziolog*innen und überhaupt die Augen wahrnehmend offenhalten. Durch Ewigjungcremes, Muskeltraining und Schönheitsoperationen entsteht mit Sicherheit keine gute Literatur. Lieber die Lebenskosten senken, die Maschinerie so klein wie möglich halten, damit deren Kosten nicht das Sein auslöschen. Dann, und nur dann, sei es möglich, keine Massenware zu schreiben oder solche verlegen zu müssen; sondern was in eigenen Augen gut sei. Ein Adjektiv, welches Ruzicska als »die Ahnung unserer nahen Zukunft in einer guten Sprache« definiert.
Manchmal, so Jürgen Volk, träume er davon, dass »künftig nach der Wandlung dieser Blauen Blume zur erkannten ›Mathilde‹ nicht mehr in Mittagspausen über Netflix-Serien, sondern über Bücher diskutiert wird. Weil sie lebensnotwendig sind.«
Heinrich von Berenberg, Verlagsleiter des gleichnamigen Verlages, ist da nüchterner: »Es entwickelt sich alles im Moment mit einer Geschwindigkeit, von der nicht abzusehen ist, was sie alles begräbt und an Neuem hervor bringt. Die Art von Büchern, wie wir sie machen, wird es noch eine Weile geben. Aber die Leser werden älter. Junge Leser lesen auch, aber sie lesen ganz anders, und wir, als ein Verlag von qualitativ wie ausstattungsmäßig anspruchsvollen Büchern, müssen uns schon überlegen, ob die Leser der Zukunft fadengeheftete Hardcover kaufen und lesen wollen.«
Diese Vision bereichert der Literatinnen und Literaten Weg hindurch – wie Beuys dominante Basaltstelen rund um mich gleiten: Das mahnende »Ende des 20. Jahrhunderts« wird gesäumt von leeren Nischen – standen einst Säulenheilige dort? Oder Allegorien? Ich sollte mich auf meine Notizen konzentrieren, schließlich währt die Aufgabe nicht ewig, die ich meiner Schreibatelier-Gruppe im Museum »Hamburger Bahnhof« stellte: »Betrachte das Kunstwerk, nimm wahr: Gehe in Resonanz. Sobald sich in dir verdichtet, was es anregt, finde in Sprachbildern das Echo.«
Die Blaue Blume
oder die Sehnsucht nach dem Noch-Ungesagten
›Ästhetische Bildung‹ nannte Jürgen Volk von »duotincta« es: Wir glauben an die ästhetische Bildung eines Menschen und seines Geistes und an die heilige Notwendigkeit der Leseförderung für alle: »Es ist nicht dasselbe, ob wir im Netz lesend ideologische Grabenkämpfe konsumieren oder ob wir einen Roman lesen. Der Roman ist für mich das Heilmittel (vielleicht auch nur das Gegengift), um gegen Entwicklungen wie Fundamentalismus und Gleichgültigkeit zu punkten«, sagte Volk, verwies auf Thomas Bauers »Vereindeutigung der Welt« – und was einen auf den ersten Blick das Statement eines liebenswerten Idealisten zu sein dünkt, entpuppt sich als fundierte Reflexion, betrachtet man es genauer; oder vielmehr studiert man die kognitiven Abläufe während des Lesens von Belletristik. Wie kein anderes Medium, bildet sie Phantasie und Empathie: »Leseförderung muss unter allen Altersgruppen stattfinden«, sagte Jürgen Volk. »Der wichtigste Teilaspekt ist und bleibt für mich die Schule. Dort sollte, auch im Angesicht der Digitalisierung, verstärkt gehandelt werden – und nicht gestrichen. Literatur muss schon in der Schule zum Erlebnis werden. Ich spreche hier von einem nachhaltigen, literarischen (Schlüssel)erlebnis, das sicherlich nicht alle Schüler*innen haben werden, aber jedes gewonnene Herz zählt. Ich spreche nicht von ›Wir machen da einen Podcast oder ein YouTube-Projekt‹ oder ›Irgendwas mit Gamification‹ zur Klassenlektüre, weil das schon wieder vom Gegenstand wegführt. Es geschieht ja schon, sollte aber noch vermehrt geschehen, dass Autor*innen und Verleger*innen als Botschafter der Literatur durch staatliche Programme an die Schulen geholt werden.«
Die Literatur selbst in den Fokus rücken, das sei ihnen auch bei ihrer Lesereihe #4lesezeiten wichtig: Nicht Klamauk, nicht Unterhaltung-um-jeden-Preis, sondern lieber fundierte Auseinandersetzung mit zwei Werken, die ein roter Faden verbindet, eines aus ihrem Verlag, eines aus einem ›Nebental‹; damit außerdem vernetztes Miteinander genährt werde.
Solches entsteht oft zufällig. So verdankt »duotincta« die Zusammenarbeit mit der »Alte Büdnerei Kühlungsborn« der Notwendigkeit, dass Jürgen Volk nach Vollendung eines Werkes über Gauguin und van Gogh einer Auszeit bedurfte und just in der Ferienwohnung der »Alten Büdnerei« landete. Seither arbeitet man miteinander.
Für alle österreichischen Leserinnen und Leser, denen das Wort ›Büdnerei‹ nicht geläufig sein mag: Dies ist an der Ostsee, was wir ein ›Sacherl‹ nennen, also ein alter Bauernhof im Kleinformat, der Wohnräume und (ehemalige) Stallungen unter einem Dach beheimatet(e). Wie mein »Arthof« oder eben die »Alte Büdnerei«. Für Kristin Schröter, die außerdem in der sogenannten »Blauen Stunde« zu »literarischem Naschwerk« verführt und Seminare zur bildenden Kunst anbietet, verband sich mit dem Kauf dieses Hofs der Traum von einem Leben auf dem Land mit Laden, Café, Kunst und Gästen.
Doch nicht nur zur Blauen Stunde, jener Zeitspanne also, in der ein Tag zur Nacht wird und die Sonne rund vier bis acht Grad unterhalb des Horizonts steht, weshalb das Licht eine frappierende Blaufärbung aufweist, fördert das Lesen die Entstehung und Erkenntnis eigener Bildwelten: »Wir werden ständig mit den Bildern anderer bombardiert. Wenn ich lese, entstehen jedoch meine eigenen Bilder, die in einem zweiten Leser nie gleich sind«, formulierte Mona Müry ihre Sicht auf die Faszination der Lektüre. »Das ist ein innerer Reichtum, diesen zu bedienen, den zu erleben, sich selbst dabei zu beobachten, welche Bilder ein Text auslöst, das ist nochmals etwas ganz anderes als fremde Bilder zu konsumieren. Die Bilder eines Films – so toll er sein kann – sind immer die Bilder anderer.«
Wie stand es im Roman »Die Jagd nach dem Blau« des Franzosen Romain Gary (erschienen bei Edition Blau im »Rotpunkt Verlag«): »Es gibt den alten Spruch, dass der Mensch von Hoffnung lebt, aber ich fange an zu glauben, dass eher die Hoffnung von uns lebt.« Um sie nicht sterben zu lassen, sei auch jene genährt, die an Fadenheftung und Leineneinband, farblich abgestimmtes Vorsatzblatt und Lesebändchen glaubt.
Wider kleingeistige Mutlosigkeit
Um die Hoffnung nicht zu verlieren, sie zu nähren, erzähle ich, schreibe ich – weil mir ohnedies keine andere Form des Seins vorstellbar ist, jedes Verstummen auch ein inneres Sterben bedeuten würde.
Es wäre, sagte Ruzicska an diesem Vormittag, »eine suizidale Veranstaltung«, würde für sie als Verleger der Inhalt der Bücher zählen, und sie dennoch als primäres Ziel, finanziellen Erfolg anstreben wollen. Aber sich deshalb im Gedanken an Schwierigkeiten einzugraben, das sei doch absolut nicht zielführend. So schaffe man sich keine Freiräume, sondern höchstens geistige Enge, Mutlosigkeit.
Wiederholt sagt der Vertretermund auch ihnen, es seien vor allem die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die immer weniger Mut hätten – aber selbst dafür gibt es Gegenbeispiele! Die »Buchhandlung Slawski« etwa, in Buchholz in der Nordheide, die dem Credo folge – und ich unterdrückte mein Auflachen, weil ich Monika Külper, Buchhändlerin ebenda, vor mir sah, zierlich und quirlig, lautstark das Dogma ihres Teams verkündend: »Wir müssen lesen! Sonst können wir nicht verkaufen!«
Bei ›wirklicher Literatur‹ genügt es eben nicht, den Klappentext zu kennen. Sie besteht aus mehr als ›Sommerkuss in Saint Tropez mit frühlingshaften Folgen‹, definiert sich, abgesehen vom Inhalt, außerdem über die Modi des Erzählens wie Klangfarbe, Sprache, gewählte Struktur. Dafür braucht solch eine Literatur und so ein Buchladen »keinen Coffee-to-go im Zusatzangebot, serviert mit Hipster-Blick«, ätzte Ruzicska, sondern im Dialog erlesene Empfehlungen, um »Seelen im Gleichklang« anzuziehen. Und sie kommen; selbst an einen derart entlegenen Ort wie Buchholz in der Nordheide … Der seine Spuren bis nach Berlin zieht; denn die Literaturliebhaberin, die wenige Meter neben mir auf dem Klapphocker im »Hamburger Bahnhof« sitzt, ist der lebendige Beweis für die These, dass Literaturaffine ob ihres Nischenlebens eine Treue kennen, die mich immer noch frappiert: Wer einmal seines Geistes Heimat gefunden hat, verlässt sie nicht so schnell, sondern folgt ihr vielmehr – von Malchin via Buchholz nach Kleinbaumgarten und Berlin, steckt mit eigener Begeisterung vier weitere an, damit sie sich im Schreibatelier der Kunstvermittlung »Hamburger Bahnhof« in Fragmente und ihre Narration vertiefen.
Es ist die gleiche Begeisterung, die mich im »Secession Verlag« die Irritation über meine instinktive Platzwahl samt Gegenlicht vergessen ließ, denn das Ohr ergänzte das mangelhafte Auge, und die Euphorie der beiden Herren Ruzicska und Zepelin wäre ebenso wie ihre Liebe zur Sprachkunst blind wahrzunehmen gewesen. Es ist die gleiche Begeisterung, die Mona Müry so poetisch über Literatur sprechen lässt, oder die Jürgen Volks Analysen und nachfolgende E-Mails an mich füllt, es ist die gleiche Begeisterung, die uns alle dazu bringt, weiterzumachen: Weil wir daran glauben, was wir tun, weil es für uns lebensnotwendig ist, und weil es in unseren Augen auch für andere sinnstiftend ist. Deshalb offerieren wir ihnen eine Blaue Blume; lesend genießen, das müssen sie selbst.
»Die Literatur«, sagte Zepelin, »kann die Welt auf eine andere Art transzendieren. Sie kann viel besser den emotionalen Teil der Existenz durchdringen. Wer liest, lernt durch die emotionalen Erlebnisse im Werk etwas über sich selbst.« Während die virtuelle Welt sowie der Mainstream unsere Wahrnehmungsfähigkeit einlullen, ergänzte Ruzicska; das Bild des Bettlers darin berühre nicht, es sei nur mehr abstoßend. Im Gegensatz dazu habe ein literarisches Werk mit der Kraft seiner Sprache die Fähigkeit, uns die emotionale Erfahrung zu vermitteln, dass »der miserable Mensch keine erbärmliche Seele haben muss, sondern eine kraftvolle Seele sein kann!« – Victor Hugos »Die Elenden«, zum Beispiel. Solche Werke suche er als Verleger, deshalb dominieren für ihn die Fragen: »Was zeichnet die Gegenwart aus? Was ist die politische Situation, was die soziale? Wie verändern sich die Wahrnehmungen der Menschen gegenwärtig, wo liegen ihre Bedürfnisse …?«
Gerade jetzt, so »Secession«, werde vielerorts in der Gesellschaft ein Umdenken sichtbar, das Wissen, so könne es auf keinen Fall weitergehen, verändert: »Man hat wieder Lust auf Ernsthaftigkeit!« Deshalb auch ihre Wahrnehmung, die »Handliche Bibliothek der Romantik« tue not: »Unsere Umbruchszeit spiegelt sich in den Texten der Romantiker, in ihren Diskussionspunkten.« Themen wie Kommunikationsstruktur, Gerüchte, Fake News, Unübersichtlichkeit klingen an und zeigen uns Perspektiven auf die Probleme der Gegenwart, denn es sei die Herausforderung der Romantiker und Romantikerinnen gewesen, durch eine endende Zeit in eine neue aufzubrechen. Wie in unserer Gegenwart, so warf auch damals die Veränderung der Welt Fragen des Seins auf: »Wie lebe ich? Warum lebe ich? Wie bin ich traurig, wie bin ich glücklich …?« »Und wovor habe ich Angst«, fügte Zepelin ein: »Ich glaube, wir leben in einer ziemlich ähnlichen Phase … – und wenn wir ehrlich sind: Wir wissen nicht, wo es hingeht! Alles, womit wir groß geworden sind, was fest war, oder von dem man dachte: ›Das steht!‹ – Steht nicht mehr!« Gerade in so einer Zeit, in der sich alles wandle, in einer Welt, die man befragen könne, wie virtuell oder real sie noch sei, dünke es sie zwingend, wieder konservativer zu werden und zwar als eine bewusste Entscheidungen, »um mit Lebendigkeit Leben zu füllen.« Dazu gehöre für sie unbedingt die Literatur sowie die Fähigkeit wahrzunehmen; und der ehrliche Diskurs über Kunst, der die Gesprächspartner*innen einlasse, in jene inneren Räume, in die man selbst während der Lektüre vorgedrungen sei. Das evoziere eben ein anderes Echo, als wenn man sich auf den Ausruf »Spitzentitel!« oder »Lesenswert!« als Fake-Zusatz verlasse. »Unsere Literaturleser«, sagte Ruzicska, »sind sich bewusst, dass man über die Literatur einen produktiven Rückzug an Zeit gewinnt. Ich will es jetzt nicht therapeutisch-heilende Wirkung nennen – aber vielleicht ist es das schon? Dass man dadurch die eigene Art und Weise zu sehen wieder spürt, die eigene Art und Weise zu handeln; dass man Werte fühlt, mit Zeit anders umgeht – statt im Lärm weiterhin mitzuschreien.« – Lektüre als bewusster Akt einer Lebensgestaltung? – »Ja. Und auch als Übung. Man übt Wahrnehmung, emotionale Wahrnehmung. Ähnlich wie in der Meditation.« Und so wie bei dieser, bewirke das in der Lektüre Eingeübte neue Lebensmöglichkeiten im Danach.
Ich linse zu meiner Literaturliebhaberin hinüber. Sie schreibt und schreibt; die Wahrnehmung des »Endes« bringt sie in Wortfluss, und mir die Erkenntnis, dass gerade jetzt die Blaue Blume blüht: Sie birgt nicht nur die Sehnsucht nach einem Leben fern der Ausbeutung der Natur, fern einer Wirtschaft, die ewiges Wachstum anstrebt, sondern sie sucht vor allem einen Ausblick in eine Zukunft, die menschenwürdiges Sein ermöglicht. Unter anderem im Spiegel der Literatur, um sich danach auch durch genährte Wahrnehmung in ein bewusstes Gestalten und Erleben der Welt zu begeben. Wie meine Teilnehmer im Schreibatelier, die sich einlassen und das ernsthafte Gespräch suchen, findet auch ›tatsächlich Literatur‹ nach wie vor ihre interessierten Geister. Woher sonst käme die Literaturaffine neben mir, die sich der Rettung ihrer lokalen Bibliothek in Malchin verschrieb, weil sie jenen Freiraum, jenen öffentlichen Innenraum an ihrem Wohnort nicht missen will? – Noch fünf Minuten Schreibzeit, ich verlasse die Basaltstelen, durchquere durchquere die Spätromantik im Empfangsgebäude, um in der Gegenwart anzukommen: »Das bloß harrende Hoffen ist nur das Hoffen der Toren. Man muß kämpfen, um zu hoffen, wie man hoffen muß, um zu ertragen.« (Friedrich Schleiermacher)