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IX Über die Kunst

Die letzten Tage meiner Zeit als Stadtschreiberin nahen in ihren Siebenmeilenstiefeln. Schon drängt sich der ansonsten übliche Alltag aus fünf, sechs, sieben parallel laufenden Jobs in den Arbeitsalltag. Die Abschlusslesung am 22. September im Schauspielhaus will vorbereitet sein, die Lehrinhalte des Wintersemesters suchen ihre Referenztexte, der Buchstapel mahnt kritische Essays ein: Wessen bedarf ein Roman, ein Gedicht, um zu gelingen?

Das werde ich oft genug von Leser*innen und Studierenden gefragt, und je nach Tag und Nacht könnte ich über diese Erkundigung lachen oder wüten. An den Guten versuche ich zu erläutern, dass ich durchaus verstünde, man wünsche sich ein Kochrezept. Nur: Welches auch immer ich nennen würde, es könne unmöglich umgesetzt werden, da sich bereits die Zutaten ›Einfallsreichtum‹ und ›innovative Kraft‹ jeglichem Nachahmen entziehen. An meinen enervierten Tagen hingegen knurre ich lieber ›Welch sonderbare Frage!‹, verweise auf ›den ersten Satz, den letzten‹, füge die Werkzeugkiste der Literaturkritik hinzu, bevor ich nach einem mürrischen Verweis auf die ›Seite 33‹ das Weite suche.

Man könnte auch die Zahl der teuflischen 66 für diese Wort-für-Wort-Betrachtung nennen oder welche auch immer; jede nach der Zehnten ist gut geeignet. Es ist bloß eine Frage der Vorliebe.

Ebenso muss die Antwort auf die nächste Frage – ob ich zu Beginn der Arbeit an einem literarischen Werk zu sagen wisse, dass mein Vorhaben glücken werde – abschlägig ausfallen, ist man der Wahrheit verpflichtet: Niemand weiß das. Wir hoffen es bloß und beobachten, was sich entwickelt, mal um den Ausgang besorgter, mal gewisser, vielleicht an einigen Tagen sogar restlos von unserem Tun überzeugt. Im Grunde genommen wissen wir Literat*innen nur eines mit Sicherheit zu sagen: Wir erzählen uns selbst eine ›Geschichte‹, im weitesten Sinn, deren Stimme unseres Erachtens im Chor und im Gewimmel des bislang bereits Erzählten noch fehlt. Und hoffen auf einen glücklichen Ausgang des Unterfangens; unser Happy End ist keineswegs dasjenige der Leser*innen. Es heißt bloß, dass der Ideenkeim, den wir von der ersten Sekunde an nährten, wuchs, sein Faszinosum sich verbreiterte, es von Arbeitsstunde zu Arbeitsstunde an Kraft gewann. Mal rascher, mal verhaltener, sich womöglich während einiger Tage auch gänzlich in Schweigen hüllte, weil das angedachte und im Entstehen begriffene Projekt Zeit zum Reifen brauchte. Gut Ding will eben Weile haben; und ein Erzählprojekt erst recht.

Selbst im Danach, an irgendeinem Tag X, an dem wir schon Wochen, Monate, Jahre mit dieser Narration verbracht haben, können wir nicht sagen, ob sie gelingen wird beziehungsweise ob sie gelang: Uns hat bloß die Hoffnung nicht verlassen!

Ja, nicht einmal zu jenem Zeitpunkt, da wir das Erzählwerk an Agent*in oder Lektor*in weiterreichen, sind wir uns dessen sicher, dass unsere Arbeit gut war. Ich würde sogar sagen, dieser Moment ist der besorgteste: Eine Achterbahnfahrt ist ein müder Sonntagsspaziergang an der Elbe, verglichen damit. Kaum weniger zittrig empfinde ich die letzten Stunden vor dem Druck. Sage mir alsdann morgens, mittags, abends, dass mein*e Lektor*in und ich – abwechselnd sowie gemeinsam – Wort für Wort, Satz für Satz um- und umgedreht haben, bedacht und reflektiert, dass ich jede meiner Entscheidung zu Arrangement, Stilmittel, Duktus begründen kann. Nun wird bald alles zu spät sein: Kein Komma kann mehr verändert werden. Kein ›kein‹ wird noch ein tastendes ›kaum ein‹; von größeren Veränderungen ganz zu schweigen. Wir haben es zu akzeptieren. Selbst wenn wir vielleicht in einem Monat oder in zweien noch dieses oder jenes misstönende Wort bemerken könnten, einen Strang anders arrangieren möchten, einen Absatz streichen wollten: Vertrag ist Vertrag und ohne Abgabe kein Buch; ohne Buch keine Lesungen … Es gilt, sich zu trennen. Ob uns das gefällt oder nicht.

Man übt sich in diesen Abschieden, aber leichter werden sie deswegen keineswegs; was wohl für alle Abschiede im Leben gilt …

Erst Jahre nach der Trennung von jenem Werk ist Autor*in in der Lage zu erkennen, was es taugt. Dann kann es geschehen, dass man sich in der Relektüre wahrhaftig verliebt, sich womöglich sogar ein Glücksgefühl einstellt: ›Das habe ich geschaffen, und gut ist es.‹

Meist fügt sich in diesen Satz der begrenzende Einschub ein: ›dieser Abschnitt‹. Oder: ›dieses Strukturelement‹. ›Dieser Erzählton‹. Denn häufiger als überbordender Jubel ist die Erkenntnis, dass es zu jenem Zeitpunkt das Beste wurde, was man zu leisten imstande war. Auch das: kann keineswegs ein Drama genannt werden. Es ist gut; auch weil sich nach einem wahrlich perfekten Werk jedes weitere erübrigen würde. Schließlich ist ›perfekt‹ nicht mehr zu steigern, es könnte daher nur schlechter ausfallen, und wer würde das schon wollen?

Es ist gut, und ›gut‹ ist in dieser Angelegenheit das Beste.

Der Befund nach zeitlicher Distanz wäre höchstens dann eine Tragödie, hätte man wider besseres Wissen, wider eigenes Bauchgefühl, wider leise Ahnung geschlampt, geschludert, sich zur Eile drängen lassen, hätte sich an den sogenannten ›Publikumsgeschmack‹ anzubiedern versucht – was auch immer das sein mag; und die ursprüngliche Idee, die anfängliche Geschichte, die es zu erzählen galt, weil sie unter all den bereits erzählten, noch fehlte, deswegen verraten.

Am Tisch vor mir, neben dem Buchstapel, liegt der Korrekturausdruck des Erzählprojekts, an dem ich in Magdeburg arbeitete, aus dem ich in Bälde bei der Abschlusslesung vorlesen werde, weil sich diese Stadt einschrieb, ihre sakralen Räume, die keine mehr sind, mir Recherchematerial wurden: Die in der Wallonerkirche existente Dauerausstellung zu den »Verlorene Kirchen« mit ihren Schautafeln und Miniaturnachbildungen der Gebäude, die Initiativen zur angedachten anderen Nutzung oder zur Wiedererrichtung – wie diejenige, die gerne das Portal der Ulrichkirche am gleichnamigen Platz erneut aufgebaut wissen würde; oder die Johanniskirche mit ihren beeindruckenden Glasfenstern von Max Uhlig …

In der letztgenannten durfte ich übrigens meinen Kurzfilm »Schatten & Licht« über die Frage nach dem Wert der Kunst für uns Menschen drehen. Auch er soll – nicht in allen finalen fünf Sprachen, aber wenigstens auf Deutsch – in diesen Tagen noch fertiggestellt werden und seine Premiere im Schauspielhaus Magdeburg erleben. Den Uhr- und Glockenturm der Johanniskirche bestieg ich an einem Tag, der nicht unbedingt der geeignetste war, um in Ruhe einen Blick rundum zu werfen, der böigen Witterung wegen, die bereits davon erzählten, was da noch kommen werde, an schwarzen Wolken und heftigen Turbulenzen. Doch da es mir in keiner Weise um die Aussicht ging (Wiewohl diese beeindruckend ist!), tat dies nichts zur Sache. Im Gegenteil: Mir kam die Dramatik des Windgezerres für meinen Erzählinhalt sehr zustatten. Abgesehen von dem Faktum, dass sie das Notieren erschwerte, während ich ging und mir der Magdeburger Designer Ernst Albrecht Fiedler leidtat, der mir Tür und Tor öffnete, damit ich meiner Arbeit nachgehen könne. Von ihm stammen übrigens auch die beeindruckenden Miniaturnachbauten der verlorenen Kirchen: Wer eine Autorin bei ihrer Recherche begleitet, sei jedenfalls gewarnt: Sie spricht kein Wort, kritzelt nur manisch im Stehen in ein Notizbuch, photographiert Tausende Details, bei denen man sich fragt ›Wozu?‹ und ist völlig unansprechbar. Will man ihr etwas mitteilen, murmelt sie höchstens irgendetwas Unverständliches. Regelrecht unhöflich muss man das nennen; oder arbeitsam. Weil sich in einem währenddessen bereits eine Geschichte erzählt, die im Außen nicht wahrnehmbar ist, nicht existiert. Weil ein*e Autor*in einen Raum im Arbeitsprozess nie nur als jener Mensch, der sie ist, betritt, sondern ihr Figurenarsenal im Schlepptau führt.

So besteht im Entstehungsprozess eines Werkes durchaus eine Analogie zur Elternschaft: Man trägt die Idee zu einem Werk wie ein ungeborenes Kind in sich, geht schwanger damit, sorgt sich um sein Gedeihen davor, danach, läuft mit den Protagonist*innen in sich durch die Welt, aufmerksamkeitsfokussiert, gebiert die Erzählung irgendwann (Manchmal ist auch bloß die Zeit um, die gewährt wird.). Man lässt den Roman oder den Gedichtzyklus in die freie Welt ziehen und hofft, es möge ihm dort gut ergehen, er möge sich behaupten; oder auch nur: ohne allzu schlimme Blessuren davonkommen.

Für diese ist die Kritik zuständig, und deren Geschäft ist ein gleichermaßen der Mühe volles wie dasjenige der Autor*innenschaft wiewohl aus anderen Gründen.

Oft ist das häufigste Instrument der Kritik – das Verfassen von Rezensionen – ein Zubrot zum hauptberuflichem Augenmerk, seien es Journalist*innen, seien es Autor*innen, da ihr existenzielles Sein nur durch Mischkalkulation zu finanzieren ist. Als Literatin, die in ihrer Freiberuflichkeit überleben will, kommt man in Österreich kaum darum herum, journalistisch tätig zu sein, zu rezensieren, Vorträge zu halten, zu lehren; manchmal auch als Ghostwriter*in zu arbeiten. Außer man hat einen Vertrag in Deutschland oder einen Ehegatten, der einem das Leben finanziert. Oder ein Erbe. Ich hatte und habe keines davon. Dafür neben allen literarischen ›Kindern‹ drei durch und durch menschliche, die essen wollten, sich kleiden wollten, die eine bestmögliche Bildung verdienten …  Nun stehen sie auf eigenen Beinen und stapfen mit ihnen in die Kunstlandschaft im weiteren Sinn, einer in der Vermittlung, eine als Autorin, eine als kreativer Kopf in anderen Medien, und um die Wahrheit zu sagen, die Mutter in mir hätte sie lieber fern gewusst, in anderen Berufen … 

Wie alle anderen auch verkauft man in der Kunstwelt eigene Zeit kunstfern und bedauert dies manchmal, weil einem diejenige für all die Nebengleise Zeit und Konzentrationskraft für dasjenige nimmt, welches einem selbst am wichtigsten ist: das eigene Schreiben. Deshalb sind solche Stadtschreiber*innen-Posten wie Magdeburg sie bietet auch so ungemein wichtig und schätzenswert, insbesondere, wenn sie mehr als ein halbes Jahr abdecken helfen. Sie ermöglichen es, dem Spießrutenlauf für einige Monate wenigstens teilweise zu entkommen und einem Ort dafür etwas zurückzugeben, ihm ein literarisches Denkmal zu setzen!

Um sich nach dieser Erholung erneut die Liste aller Vorteile des Mischkalkulationslebens aufzusagen; und mit der Zerrissenheit weiterleben, die das eben obendrein bedeutet: Die Zeit reicht nie aus.

Zu den Benefits der Jobsammlung zählt auf jeden Fall, dass man sich durch all die Aufgaben, die man übernimmt, keine Gedanken um die Suche nach einem Hobby machen muss: Es fehlt schlicht der Freiraum dafür. Man setzt sich konstant mit Literatur auseinander, denkt über sie nach, vertieft persönliche Kenntnisse stetig, hinterfragt eigene Reaktionen …

Dieser innere Reflexionsdialog mit den Werken anderer nährt folglich wiederum das eigene Schreiben. Andererseits obliegt einem z. B. bei Rezensionen die Auswahl der literarischen Arbeiten meist nicht selbst, insbesondere, wenn man sie für das Feuilleton einer großen Zeitung verfasst. Und zur eigenen Beliebtheit trägt Ehrlichkeit in diesem Bereich auch nicht gerade bei: Die Kolleg*innen würden sich mehr über gelogene Lobeshymnen freuen, denn über eine kritische Betrachtung. Natürlich, das verstehe ich, aber wem wäre damit gedient? Den Leser*innen sicher nicht und meines Erachtens den Autor*innen ebenso wenig, und zwar weder der Rezensierenden noch der Publizierten. 

So nimmt diese Seite der eigenen Arbeit manchmal auch durchaus komische Züge an. Wie jüngst, als ich Magdeburg verließ, diese mir gewährte Auszeit im Alles-Zeitgleich-Bewerkstelligen-Müssen, um einige Tage an einem internationalen Autor*innentreffen teilzunehmen, zu dem man mich eingeladen hatte: Sechs Kolleg*innen debattieren je eine ihrer Arbeiten miteinander, stellen sich der Kritik der anderen. Wenige Stunden nach unserer Ankunft, wir hatten gerade die ersten beiden Essays diskutiert, platzte ein Kollege am Weg zum Abendessen damit heraus, er sei ja so froh! Erleichtert sei er, so unendlich erleichtert. Er habe wahrhaftig ein ungemein mulmiges Gefühl gehabt, wollte zuerst gar nicht hierher kommen. – Da ich nachfragte, wieso denn nicht, ob Covid und die Sorge ein Grund gewesen sei, platzte er damit heraus: Nein, nicht Corona habe ihn geängstigt. Sondern meine Person! – Danke! – Er lachte auf: Aber ich sei ja eh eine ganz Liebe, obendrein bodenständig, humorvoll und … – den Rest seiner sich überschlagenden Erleichterung dürfen wir uns hier gerne ersparen.

Wiewohl mich diese Situation herzlich lachen ließ, sie war einfach zu absurd, gab sie mir auch zu denken: Wieso in aller Welt verquicken wir wieder und wieder Kritik und Mensch, Werk und Person? Selbst wenn ich schon mal sage, dieser Roman tauge höchstens für 40 Grad-Plus im Schatten, heißt das doch nicht, jener Autor sei verachtenswert, jene Autorin ein unerträglicher Mensch!

Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, jemand könne sich vor mir fürchten. Gut, mir geht Literatur über alles, und ich werde niemals sagen, ein Werk sei der Lektüre wert, wenn ich dies nicht finde, und ja, es bedarf viel, damit ich überzeugt bin. Aber das bedeutet doch nicht, dass man in Panik vor mir erstarren muss …?

Sonderbarerweise ereignete sich wenige Tage später folgender Dialog mit einem Studenten, den ich als Tutorin betreue: Er sei sehr froh, dass er – ehrlich gestanden – erst jetzt entdeckte, was es mit dem Nachfolgen der Änderungen im Textdokument auf sich habe, denn ansonsten hätte ihn ›das Fehlerrot‹ vor Monaten schon dazu gebracht, das Handtuch zu werfen. Nun jedoch habe er begriffen, dass Schreiben Textarbeit bedeute – oder er sei gerade dabei, das annähernd zu verstehen …

Und ich?

Die selbst an den von mir verfassten und bereits gedruckten Werken immer noch den Rotstift ansetzt, sodass Lesungsvarianten durchaus differieren können, auch wenn es meist bloß einzelne Wörter betrifft, die hinzukommen, die wegfallen, kann ich verstehen, dass jemand jegliche Reflexion zum Erzählwerk als Bedrohung, als Angriff, vielleicht sogar als Unverschämtheit wertet?

Ich bin mir nicht sicher.

Spreche ich mit Studierenden über die Rolle des Lektorats, weise sie darauf hin, dass diese fast immer recht haben, ernte ich meist Entrüstung. Ebenso, wenn ich ihnen sage, dass es sie bedenklich stimmen solle, blieben nach ihrer Durchsicht aller Korrekturstellen vom Fingerzeig der Lektor*innen nicht mehr als ein oder zwei über: Dies sei eher ein Hinweis für persönliche Blindheit als für Perfektion. Es lohne sich, über jede ›Wellenlinie‹ nachzudenken, selbst wenn man die vorgeschlagene Lösung ablehne: Es stehe einem ja frei, eine Alternative zu suchen – ein Spiel, das versierte Tandems aus Lektor*in und Autor*in exzellent beherrschen, damit die bestmögliche Variante final gefunden werde, und Aufgabe der Lektorin oder des Lektors ist es dabei, solange zu nerven, bis sich die letzte Wellenlinie erübrigt hat. Weil deren Blick auf die Narration ein unverstellterer ist!

Der Fingerzeig der Kritik hingegen ist per se ein anderer – und weil sich ein Denken in Daumen-hoch/Daumen-runter eingeschlichen hat, fällt es offenbar vielen schwer, damit umzugehen, dass eine Rezension selten einzig euphorisch ausfallen kann, bleibt sie der (eigenen) Wahrheit verpflichtet.

 

Wehmut hie & dort

 

Vor mir am Tisch harren vier Romane ihrer Rezension, den seitlichen Blick auf das Nachtkästchen ignorieren wir lieber, es könnte bedrohlich anmuten  – ich schiebe eine Pause ein, gehe nach draußen, auf den Balkon, blicke auf das Treiben am Ulrichplatz hinab. Ein Kind läuft rund um den Springbrunnen, fällt, weint lautstark – ich denke an die ersten Tage in dieser Stadt, an das Mädchen auf dem roten Rad, welches stundenlang im Kreis fuhr, der ich in meiner Quarantäne zusah, mir ihretwegen sagte, dass die Welt dort unten real sei, keine Illusion. Mein Telefon läutet – jemand erkundigt sich, ob und wo Tickets für die Abschlusslesung erstanden werden könnten. Ich verweise den Anrufer an das Theater. Meine erste wahrhaftige Lesung vor Publikum in dieser Stadt, nicht im virtuellen Raum, nicht für ein Kameraauge. Und all die Arbeiten, die in der Ottostadt entstanden sind, wollen im Außen betrachtet werden, die ›Kinder‹ sollten flügge sein …

Sind sie es?

Mitnichten. 

Sie wären es sowieso nie, so gut kenne ich mich selbst mittlerweile. Auch das ist keine Tragödie …

Vogelschwärme kreisen über der Stadt, unzählige Krähen. Sie nähern sich als fliegender Teppich, wellen sich westlich des Doms, versammeln sich jeden Abend auf dem neu errichteten Hochhaus gegenüber der Stadtschreiberwohnung. Im Hintergrund thront die ›Albtraumschnecke‹ – ich habe sie noch immer nicht bestiegen! Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Finden die Albtraumschnecke nicht in Ihrer Suchmaschine? Natürlich nicht! Der Name entstand eines Nachts im freundschaftlichen Geplänkel, während mein Gast und ich vom Balkon hinabblickten wie nun, weil die Form dieses Hügels an diejenige des Weichtieres erinnert, bloß albtraumhaft groß, und an manchen Abenden wie an jenem, da dieser Name entstand, umgibt ihn eine Art Aura, scheint die Luft um ihn regelrecht zu dampfen, in späterer Dämmerung zu glühen gar. Eine optische Täuschung, ich weiß, einzig und allein der Technik zur Energiegewinnung geschuldet, die auf seinem Rücken montiert ist. Unten am Trottoir verabschieden sich zwei Wort- und gestenreich voneinander. Auch diese Liste wird für mich länger und länger, denn in einem halben Jahr an einem Ort gewinnt man Freund*innen, und sagt man ihnen ›Wenn du mal in Österreichs Norden bist, dann komm vorbei, die Tür zu meinem Gästezimmer steht dir immer offen!‹, so ist es doch ein Abschied, denn die Zeit der Dialoge, des Austausches über Kunst und Leben, über Theologie und Ethik, Natur und anderes Lebensrelevantes geht zu Ende, der letzte gemeinsame Spaziergang naht – habe ich bereits erwähnt, dass ich Abschiede nicht leiden kann? Mir dünkt das Leben zu brüchig, um sie mit einem Achselzucken abzutun, und selbst ihre Häufigkeit kann mich nicht wirklich mit ihnen versöhnen. »Die Diener am heiligen Wort / sind gleich den Hirschen hie und dort«, murmle ich. Und die Diener*innen nicht minder.

 

Allerhand Wirken in einer Stadt

 

Das ist übrigens nicht meine Zeile, sondern sie stammt von Johann Block, einem gebürtigen Salzwedler, kaiserlicher Poet und Gymnasiallehrer in Magdeburg, der diese sogenannte »Andacht« 1618 verfasste, und an die ich stets denken muss, sehe ich am Alten Markt den Hirsch stehen, weil ich Blocks mahnende Zeilen, dass Dichter*innen gleich einem Hirsch über alles Gestrüpp, Dornenranken und Schlangengetier hinwegzusetzen hätten, in einem schmalen Büchlein las, welches mich bei meiner Ankunft am Schreibtisch empfing und das mich nach dem Ende meiner Quarantäne bei den ersten Stadtspaziergängen allein begleitete – ewig scheinen diese her zu sein, heute fahre ich durch die Stadt und erkenne wieder …

»Magdeburg literarisch«, so heißt der schmale Band, ein Spaziergang durch die Literaturgeschichte der Ottostadt, verfasst von Hanns H. F. Schmidt und Sigrid Eleonore Schmidt. Es lohnt sich, diese besondere Reiseführerin eines Blicks zu würdigen, will man Magdeburg nicht bloß an der Oberfläche entdecken, sondern auch seine Historie.

In diesem Band wird nicht nur der Alte Markt oder der Dom betrachtet, sondern auch auf Goethes und Telemanns Spuren gewandelt, Schillers Blick auf Magdeburg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges gedacht, seine Darstellung jener Nacht, in der mindestens 20.000 Bürger*innen ermordet wurden und die Stadt niederbrannte. Da ist von Christian Scriver die Rede, dessen Grabstein ich studierte, weil mir seine hebräische Inschrift im Kreuzgang auffiel und mir dieser Verfasser von Kirchenliedern zuvor unbekannt gewesen war.

Ich hatte auch nicht gewusst, dass Richard Wagner einst hier gelebt hatte, am Breiten Weg, auf Höhe der ehedem dort existenten Katharinenkirche. Wagner erzählt in »Mein Leben« davon, dass er seine Verlobte zur Postkutsche brachte, just an jenem Tag, an dem die Magdeburger*innen schaulustig zu einer Hinrichtung strömten, die einen Soldaten erwartete, der seine Braut aus Eifersucht ermordet hatte. Kaum war Wagners Verlobte abgereist und saß der Komponist im Gasthof, kredenzten ihm die Magdeburger*innen unzählige grausige Details jenes Falls zum Mittagsmahl. Schreibt er. Ich denke nicht, dass Schaulust und Sensationsgier an anderen Orten geringer gewesen wären, weshalb Wagners Erwähnung umso interessanter wird. Wollte er suggerieren, dass an solchem Ort die Uraufführung seines »Liebesverbot« nur ein Fiasko werden konnte? Deswegen hatte er übrigens, hoch verschuldet, final aus Magdeburg zu fliehen …

Höchst amüsant sind gleichfalls die Anfänge Friedrich Spielhagens, damals noch ein vom Pech verfolgter Schauspieler, der die Bretter der Welt gegen Füllfeder und Tintenfass tauschen wird, weil bei seinem ersten Magdeburger Auftritt in der finalen Szene die vermaledeite Tür derart klemmte, sodass er die Bühne nicht betreten konnte, um erschossen zu werden. Weshalb sein Gegenspieler im Stück auf die klemmende Tür feuerte, doch Spielhagen bestand darauf, an der Klinke zu reißen – wer stirbt schon gerne in den Kulissen? – und wieder und wieder ›erschossen‹ zu werden, zum Gaudium des Publikums, bis der Vorhang resigniert gesenkt wurde und die klemmende Tür Spielhagens Theatergeschichte.

Heute kennt (geschweige denn: liest) diesen Autor wohl kaum einer noch. Dabei zählte Spielhagen neben Theodor Fontane zu den angesehensten Romanschriftstellern des späten 19. Jahrhunderts. Vielleicht ein wenig zu Recht, obgleich ein Werk wie Spielhagens »Problematische Naturen« es mit Bravour mit jeder Telenovela oder Netflix-Serie aufnehmen könnte: Ein natürliches Kind, leider verschollen, das jedoch ein sagenhaftes Erbe erwartet; seelenverwandte Männer, die sich in Freunde und Widersacher gliedern, natürlich außerdem Wahnsinn und Verführung, und darüber hinaus die gesamte Bandbreite obligater Liebeswirren! Es muss ja nicht immer ein Schloss in England sein, nicht? Wer weiß, vielleicht kommt ein*e Regisseur*in ja noch auf den Geschmack?

Unbekannt war mir auch, dass Adrienne Thomas während der 1920er-Jahre in Magdeburg lebte! Wie die Österreicherin Bertha von Suttner schuf sie mit ihren »Katrin«-Romanen eindringliche Mahnungen vor dem Kriegstreiben, dem Wahnsinn des Abschlachtens, die auch heute noch lesenswert sind und gelesen werden sollten!

Ja, auch darin sehe ich eine Aufgabe der Rezensent*in: Vergessenes wieder ins Licht zu holen. Oder fern der PR-Abteilung der Verlage auf seltene Blüten hinzuweisen und somit auch die gegenwärtigen Mainstream-Tendenzen auszugleichen. Oder es wenigstens zu versuchen! Denn was ohnedies mit Geld und Kontakten gepusht wird, braucht nicht noch eine weitere Besprechung. 

Als rezensierende Literat*in, kennt man also beide Seiten – die Sorge um das eigene literarische ›Kind‹, die Angst vor einer ›Vernichtung‹ nach Jahren intensiver Arbeit, das Wissen, keine Kritik habe (oder vielmehr: ›sollte ___ haben‹) mit der eigenen Person zu tun. Und man weiß um den Usus, der einen schon auch mal wüten lassen kann, dass man Kritiker*innen unwidersprochen walten lassen müsse, selbst wenn sie den Namen der Protagonistin verdrehen oder zwei Zeitebenen zu einer mischen, da sie nur flüchtig lasen, des geringen Honorars wegen; oder mangelnder Arbeitsethik, was weiß ich.

Ihnen dieses ›eigene Kind‹ zu überantworten, das bedeutet auch, es ihnen freizustellen, was sie mit diesem Roman oder Lyrikband machen, für den man sein Bestes gab und Entscheidung um Entscheidung traf. Denn das heißt Schreiben: Zwischen allen Möglichkeiten des Erzählens einer Geschichte – und es gibt Unzählige – die Beste auszuwählen. Die Beste, das bedeutet in diesem Fall diejenige, die am ehesten in der Lage ist, im Zusammenspiel mit allen anderen Elementen jener Narration, den Inhalt zu stützen, den Effekt, den man erzielen möchte, zu fördern, ein bewusst gesetztes Mosaiksteinchen im Verein mit all den anderen zu werden, sodass sie später miteinander ein Muster zeichnen, aus dem keines heraussticht, keines aufgepfropft wirkt. In der Lektüre sollte man das Gefühl haben: Ja, diese Geschichte konnte nur so erzählt werden. Eines fügt sich ins andere und alles zu einem harmonischen Ganzen. Daher mag ein Strukturelement für ein Werk genial sein – für ein anderes würde es dennoch einzig einen Störfaktor bedeuten. Die Abarbeitung aller denkbaren Strukturelemente nach To-Do-Liste führt folglich nur zum Elend, ebenso wie das unbedarfte Erzählen von ›A‹ nach ›Z‹. 

 

Kein Verriss macht Lektüre obsolet!

 

Ein Leser dankte mir einmal für eine Rezension mit den Worten, da ich ›den Kollegen verrissen‹ hätte, brauche er das Werk nicht mehr zu lesen: Auf mich sei Verlass.

Letzteres will ich auch gar nicht in Abrede stellen, das stimmt schon: Auf mich ist Verlass – mal davon abgesehen, dass mir das akademische Viertel näher ist als die sekundengenaue Pünktlichkeit. Diese Vorliebe teile ich mir mit der Deutschen Bahn … Doch gegen den Trugschluss, man brauche, weil negativ rezensiert, ein Werk nicht mehr zu lesen, will ich vehement Einspruch erheben. Insbesondere der Wortwahl wegen: Ich verreiße keine Kollegen oder Kolleginnen. Meine Reflexionen haben nichts mit der Person, die jenes Werk schuf zu tun, mag ich sie nun kennen oder nicht. Sie sind keine Aussage über sie. Weder zu ihrem Charakter noch zu ihren sonstigen Fähigkeiten, und auch im Hinblick auf literarische Arbeiten befassen sich meine Rezensionen immer nur mit jenen, die darin explizit thematisiert werden.

Das sei sowieso logisch, glauben Sie?

Ist es; und dennoch führen Rezensionen immer wieder zu höchst sonderbaren Verquickungen – mit den anderen Arbeiten eines Menschen, mit seiner Person. Erinnern Sie sich an den erwähnten Kollegen und seine Panik …

Ja, selbst wenn ich schon mal schreibe »Paulus Hochgatterer erzählt uns eine gar unglaubwürdige Geschichte, die um fünf unerhörte Ereignisse kreist. Leider ist der Roman keine Novelle.«, folgt auf diesen Satz immer die Begründung, denn Literaturkritik, wie ich sie verstehe, besteht aus einem Arbeitskatalog, dessen Schritte aufeinander aufbauen: Naturgemäß setzt sie sich mit der eigenen Reaktion auf ein Werk auseinander, aber stets indem sie die Hintergründe jener spontanen Reaktion prüft, sie reflektiert. Niemals darf die spontane Reaktion der Endbefund sein, auch nicht die persönliche Sicht oder eigene Vorlieben für einen bestimmten Erzählton, ein Genre, sondern das Werk wird nach werkimmanenten Kriterien befragt: Nicht ob mir ein Duktus ›gefällt‹, ist Kriterium, sondern ob er für ebenjenes Erzähluniversum, welches sich zwischen erster und letzter Seite entfaltet, stimmig ist. Nicht ob mir die Wahl der Erzählperspektive schlüssig erscheint, ist die Frage, sondern welche Konsequenz hat sie für jenes Werk. Deshalb kommt eine Kritik, die etwas auf sich hält, niemals zu einem ›Daumen hoch/Daumen runter‹-Urteil oder vernichtet die Person dahinter – wir sind ja nicht bei DSDS & Co. Und versteigt sich dennoch ein*e Rezensent*in dazu, weil man sich in der Rolle eines Literaturpapstes oder -gottes in Weiß gefällt, dann ist dieser ein Scharlatan, der um billiger Effekte wegen mit Mülleimern, Tischbeinen oder Feuerbällen hantiert. Lächerliche Effekthascherei. Übrigens, ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass alle drei derart agierenden Kritiker Männer sind, ich bin aber überzeugt, dass man sich vor diesen Zeitgenossen wahrhaftig fürchten soll, denn was sie der Literatur antun, um das Gaudium zu fördern, das ist wahrlich fürchterlich! Und dass jede weitere Blödheit ihrerseits das Feuilleton tagelang beschäftigt, ungemein traurig. Wir haben nämlich Relevanteres zu tun, als kindischer Selbstinszenierung eine Bühne zu bereiten: Über Literatur zu sprechen zum Beispiel, über die Kunst. Oder von mir aus auch über andere Wichtigkeiten wie Wetterkapriolen und Klimakrise, die Notwendigkeit des Handelns oder über den verheerenden Hunger im Jemen …

Die selbst ernannten weißen ›Götter‹ erreichen mit dieser Blödheit dennoch eine Aufmerksamkeit, die gut ihre Taschen füllt. Dessen sollten wir uns alle bewusst sein, schenken wir ihnen unsere Lebenszeit im Zusehen oder debattieren wir über sie, statt z. B. den jüngsten Diskurs-Essay auf 54books.de des Langen und Breiten zu thematisieren, die fulminant spannenden Essays zur Geschichte der Gegenwart (geschichtedergegenwart.ch). Mit Verlaub: Deren Nachdenken hätte es weitaus eher verdient Gegenstand des öffentlichen Diskurses zu sein!

Daher auch: Genug der Worte über jene Herren!

 

Herstory verdient Betrachtung

 

Ich blicke zum Lektürestapel am Schreibtisch. Obenauf ein meerblaues Buch, weil jemand fand, mein Aufenthalt als Stadtschreiberin in Magdeburg sei Grund genug, mir diese Arbeit einer hiesigen Autorin als Morgengabe zu schenken; mit wundervoller Widmung obendrein. Editha aus Wessex, Gemahlin Ottos des Großen, ist die Hauptfigur dieser Annäherung, Regine Sondermann die Autorin:

»Ihr wollt mich lieben, doch kennt ihr mich nicht.«

So lautet der erste Satz, dessen allgemeine Bedeutsamkeit in jedem Handbuch für Autor*innen gerne betont wird. Ob man einem Werk bis zum dritten oder fünften Sätzchen Geduld gewährt oder ob der erste Punkt der einzig Entscheidende sein mag, darüber kann man lange debattieren, doch nicht über den Wert dieses Intros von Regine Sondermann:

Es ist schlicht fulminant!

Nicht nur, dass es mit seinem verheißungsvollen Duktus das Interesse weckt, es triggert außerdem eine Sehnsucht in uns an: Wir wollen doch alle als Menschen gesehen werden, anerkannt, wir wollen in unserer persönlichen Individualität wahrgenommen werden. Dieser erste Satz enthält obendrein die implizite Aufforderung, ›lernt mich kennen, lasst euch in eine Annäherung auf mich ein, denn ich habe euch etwas zu sagen‹; was könnte ein gelungenerer Auftakt sein? Zudem dieses inhaltliche Versprechen jener historische Roman über Editha auch noch einzulösen versteht!

Darüber hinaus sagt diese Ouvertüre: Nur wenn ihr mich kennenlernen wollt, hat euer Gefühl für mich Bedeutung; denn ›lieben‹ heißt sich einlassen und dem Gegenüber nicht Verstellung zu oktroyieren.

»Ihr wollt mich lieben, doch kennt ihr mich nicht«, ist aber nicht nur deswegen ein Geniestreich, sondern weil man nach erfolgter Lektüre des gesamten Romans erkennt, dass in ihm die Quintessenz dieses Erzähluniversums »Editha aus Wessex« zusammengefasst ist. Er verweist also in seiner Verheißung über sich selbst hinaus, holt Lesende herein und fasst zeitgleich alles in sich zusammen: Was bitte will man von einem ersten Satz mehr? Dennoch wird dieser erste Satz nicht in der Literaturwissenschaft an die Seite von »Ilsebill salzte nach.« gestellt. Mich hat die gute Salzerei der werten Frau noch nie zu euphorischen Ergüssen ermutigt. Dafür dürfen sich meine Studierenden in diesem Herbst auf »Ihr wollt mich lieben …« freuen.

Womit wir wieder bei einer der Aufgaben angelangt sind, die ich u. a. als zentrales Anliegen der Kritik begreife: Ein Werk ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, weil es diese verdient hat! (Und nicht weil ein Verlag ein Werbebudget hat oder weil man meint, an jener Autorin, häufiger: an jenem Autor, als Besprechungs-Muss nicht vorbeizukommen. Humbug!

»Editha aus Wessex« macht bereits im ersten Satz die Perspektive klar: Ein Ich spricht, es setzt sich von Beginn an in einen direkten Dialog mit einem Ihr, welches sich nicht nur als ›das Volk‹ zu Edithas Lebenszeit entpuppt, sondern sich darüber hinausgehend allen Rezipient*innen zuwendet, die während der Lektüre Edithas Wirken betrachten und beurteilen werden.

Im Zusammenspiel mit den darauf folgenden beiden Sätzen wird außerdem klar, mit welcher Sonderform der Ich-Perspektive wir es hier zu tun haben. Diese lauten nämlich: »Alles, was mit meiner Geschichte zu tun hat, ist über tausend Jahre her. Sie dauert bis heute fort.« Jenes Ich, welches hier spricht, ist folglich ein auktoriales Ich, welches aus erlebtem und erlebendem Ich besteht. Es erzählt uns von sich selbst, das Ende eigener Geschichte bereits kennend, weshalb es wiederholt zwischen damaligem Erleben und heutigem Urteil springen wird, oder ab und an sogar kommentierend in eigenes Erzählen eingreift: Wenn ich bloß, damals, als junge Frau, bereits gewusst hätte, dass … so hätte ich angesichts dräuender Ereignisse wohl … usw. usf.

Eine kluge Wahl Regine Sondermanns, da diese Form der Ich-Perspektive, mit ihren Vorgriffen in den Zeitenlauf, nicht nur spannungssteigernd wirkt, sondern obendrein der Darstellung einer historischen Person zupasskommt, will man dennoch unvermittelt und nicht-kommentierend aus dieser Figur heraus erzählen. In der Wendung »[…] sie dauert bis heute fort« klingt außerdem bereits an, dass diese Erzählung nicht mit dem Tod Edithas enden wird. 

Alles, was sich in diesen ersten drei Sätzen an Versprechen birgt, erfüllt dieser historische Roman, der wohl am treffendsten als Versuch beschrieben werden kann, Leben, Sein und Wirken einer Frau aus den Anfängen des zehnten Jahrhunderts nachzuzeichnen, uns Zugänge zu ihrem Bewusstsein zu vermitteln und obendrein unser Wissen über Ottos Anfangsjahre und über die Machtverhältnisse zu erweitern, unser Verständnis für die Alltagssorgen mittelalterlicher Welt zu nähren – seien es diejenigen eines Volkes im Kampf um sein wirtschaftliches Überleben, seien es diejenigen einer Königin, deren Lebensessenz von Kindheit an nur aus einem besteht: Irgendwann den Thronfolger zu gebären und somit den Weiterbestand eines Reiches zu sichern. Der knapp gehaltene Erzählduktus, die kurzen Sätze, deren Freundin ich als Modetorheit nicht bin, erweisen sich in diesem Roman als eindeutig gelungene Wahl, denn sie unterstreichen den suchenden Duktus, das Verhaltene, aber auch eine Klarheit, die stimmig für die erzählende Protagonistin dünkt. »Editha von Wessex« würde ich daher jedem Magdeburger und jeder Besuchenden dieser Stadt dringend zur Lektüre empfehlen, denn der Roman vermittelt, gerade auch im Verein mit einem Stadtspaziergang rund um den Dom, Einblicke in die Geschichte. Namen, die ansonsten wohl einzig Silben auf einer Erinnerungstafel bleiben, werden so zu Wesen, um die sich Geschichten ranken, sie erhalten Substanz und Bezug.

 

Die Sonate, zyklisch angelegte Instrumentalkomposition in drei oder vier Sätzen

 

Und ich gestehe, dass mein Blick seither anders zu Edithas Knochen schweift, suche ich den Kreuzgang des Doms auf, der Ruhe wegen, oder sitze ich im Dom auf einem der wahrlich unbequemen Stühle, um wie vor einigen Wochen der beeindruckenden Interpretation durch die virtuose Organistin Isabelle Demers zu lauschen. Durch fünf Werke durften wir sie als Zuhörer*innen jenes Konzerts begleiten, sie spannen einen Bogen über die Zeit vom sechzehnten Jahrhundert bis zum heutigen Tag.

Man hatte die gebürtige Kanadierin zu den Wochen der Orgelkunst in die Stadt eingeladen, und während ich – viel zu früh angekommen – noch auf den Beginn des Konzerts wartete, eilte sie an mir vorbei, eine zarte, schmale Frau, lief flugs in den Dom, in der Hand einen Sack mit etwas Obst, einer Wasserflasche. Soll auch sie eine jener Künstler*innen sein, die vor einem Auftritt niemals etwas essen können und denen das Reiseleben – wie der Hirsch hie und dort – beibrachte, man könne nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass allerorts im Danach noch eine Möglichkeit bestünde, das hungrige innere Knurren zu besänftigen, bevor anderntags das Frühstück im Hotel serviert werde?

Als ich in der Zeitung las, dass Isabelle Demers eingeladen sei, wusste ich, die wolle ich unbedingt hören, das solle mein erstes Konzerterlebnis Nach-Covid sein. Wer nicht das Glück hatte, ihrem Spiel zu lauschen, der kann nach dem Notanker CD greifen, wiewohl ich nicht glaube, dass dies nur annähernd ähnlich sein kann. Nicht der Tonqualität wegen, sondern es fehlt (und fehlte schmerzlich während der zahllosen Lockdowns) das Gemeinschaftliche im Kunsterleben.

Übrigens ist die Orgel, auf der sie in Magdeburg spielte, die einzige in der Stadt, welche den 30-Jährigen ebenso wie den 2. Weltkrieg weitestgehend unbeschadet überstand …

Isabelle Demers studierte und promovierte an der Juiliard, lehrt und leitet an der Baylor University in Texas den Fachbereich Orgel und spielt außerdem weltweit ihre Konzerte; auch eine schöne Mischkalkulation.

In Magdeburg jedenfalls setzte sie Bach, Sweelinck, Whitlock und Strawinsky auf ihr  Programm –  vor allem aber Rachel Laurin, eine zeitgenössische Komponistin, 1961 geboren, deren Name mir bislang unbekannt gewesen war. Das hat sich nach diesem Konzert entscheidend geändert, denn Laurins »Sonata Nr. 1« packt: Sie rollt heran, überschlägt sich tosend und wirft einen schlichtweg um, bevor sie sich in der »Berceuse Mariale« ans Einlullen macht, sanft im Wiegenlied, sodass einen die »Carillon-Toccata« danach umso gewaltiger vor sich her treibt, man darin den Nachhall des Wahnsinns der Welt wiederfindet, der im »Allegro Agitato« bereits anklang.

Sollte Ihnen diese zeitgenössische Komponistin noch unbekannt sein, lauschen Sie ihr: Es lohnt sich! Ich möchte dieses Kennenlernen ihrer Kunst durch die vermittelnden Hände Isabelle Demers keinesfalls missen.

Noch ein Wort zu den Orgelkonzerten im Magdeburger Dom, die auch im nächsten Jahr wohl wiederkehren werden: Gehen Sie hin, genießen Sie die eindrucksvolle Akustik, die dieser Raum ermöglicht, senken Sie den Altersdurchschnitt mit Ihrer Anwesenheit entscheidend, denn es stimmt einen für die Dimension einer Landeshauptstadt wahrhaftig bedenklich, wenn die Besucher*innen eines Konzerts, die unter 70 Jahre alt sind, an zwei Händen abgezählt werden können; und sollte Ihr Sitzfleisch nicht natürlich gepolstert sein, so empfehle ich die Mitnahme eines Rückenkissens, obendrein unbedingt ein wärmender Pulli. Ihr Sitznachbar und Ihr Nacken werden es Ihnen danken.

Eine weitere Möglichkeit, Magdeburg in der Kunst zu entdecken, bietet der Film »Magdeburg sein« von Mathias Max Herrmann. Beeindruckend fand ich die Einblicke in das Alltags-Erleben einiger Magdeburger*innen, die ihre Stadt in einer Gegenwart des Aufbruchs und zugleich der Stagnation porträtieren. Berührend vor allem ihr Sprechen darüber, wie die Historie der Stadt ihr Sein darin bis heute mitprägt. Es ist eine sehenswerte Doku, weil es ihr gelingt, einen Bezug zu den Menschen in dieser Stadt zu etablieren, zu ihrer Sehnsucht danach, dass alte Wunden endlich heilen mögen, damit Zukunft sich gestalten kann. Sie verabschieden, loslassen, um bewusst neues Gestalten zu erleben …  

Ich blicke aus dem Fenster. Nacht liegt nun bereits über der Stadt. So vieles wäre hier noch zu entdecken, so vieles noch zu erkunden, nur wird meine Zeit in gut einer Woche um sein. Werde ich wiederkommen? In der Ferne grüßt freundlich der Albinmüller-Turm mit seinen leuchtenden Kuben in meine Wehmut, die ›Albtraumschnecke‹ glüht mal wieder. Lausche dem Glockenschlag des Doms. Bald habe ich aufzubrechen, diese Stadt loszulassen, um anderswo weiterzuarbeiten – wir sind eben wie Hirsche, hie und dort … und manchmal kehren wir auch zurück!