Anaïs Nin, Tochter einer dänisch-französischen Sängerin und eines katalanischen Konzertpianisten, wuchs mit den Engagements des Vaters auf, da die Familie zuerst nach Paris, alsdann nach Havanna, Berlin, Brüssel und Arcachon zog. Rosa, die Mutter, aber hatte mit ihrer Eheschließung ihre Gesangskarriere beendet. Als 1912 der Vater die Familie wegen seiner Geliebten verließ, zog Rosa mit den drei Kindern nach Barcelona, um von dort – bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – nach New York zu wechseln. Während dieser Schiffsreise begann die damals elfjährige Anaïs Nin Tagebuch zu schreiben: Briefe an den abwesenden Vater, aus denen sich im Lauf der Jahre ein Nachsinnen über die Menschen in ihrer Umgebung entwickeln sollte. Diese werden ein halbes Jahrhundert später die Autorin weltberühmt machen. Nicht unbedingt, weil sie darin über manch wichtige Persönlichkeit ihrer Zeit schrieb, sondern vor allem auch ihres eigenen Lebensentwurfs und der voyeuristischen Neugier wegen: Nach einer ersten gescheiterten Liebesbeziehung als junges Mädchen las sie D. H. Lawrences »Lady Chatterley«, setzte sich daraufhin tief beeindruckt mit dem Gesamtwerk dieses Autors auseinander und verfasste ein Buch über ihn. Was sie so frappierte, war seine Ansicht, dass (weibliches) Begehren nichts Verwerfliches sei und durchaus ausgelebt werden solle.
Soweit so gut.
Die Tagebücher, die Anaïs Nin noch zu Lebzeiten gleichfalls zur Publikation freigab, verstellten jedoch den Blick auf ihr erzählerisches Werk. Nicht mehr die Fiktion um ihrer selbst willen wurde gelesen, sondern die Augen folgten nur noch den Protagonis*innen, um herauszufinden, welcher Zeitgenosse sich dahinter verberge.
Und noch bedenklicher wird es, wenn sich die Mehrheit der Rezensionen bloß auf die Keywords ›Sex‹, ›Liebesaffären‹, ›Tagebuch‹ oder ›Henry und June Miller‹ beschränken: Dem ging Anaïs Nin natürlich auch zur Hand, wie könnte es anders sein, las sogar – welch Wunder! – seine Manuskripte Korrektur! Als hätten das vor ihr nicht jahrhundertelang unzählige Frauen getan. Unter diesen Umständen sollte es einen vielleicht nicht erstaunen, dass vielen Rezensent*innen Nins Prosa keine Silbe wert ist. Oder dass sie keine Renaissance erlebten, nun, da alle Welt von Achtsamkeit und Verlangsamung spricht.
Wer sich auf ihre Erzählwelten einlässt, kann nämlich gar wunderbar komponierte Miniaturen und Protagonist*innen-Porträts entdecken. Die Mehrheit von ihnen sind der realistischen Darstellung der Psyche eines oder mehrerer Menschen gewidmet, andere hat sie surrealistisch überhöht verfasst. Keine klassischen Plots weisen sie auf, enden meistens in offenen Schlüssen, als wären sie Momentaufnahmen eines Lebens – und sind damit weitaus zeitgemäßer für heutige Leser*innen als die einer stringenten Handlung verpflichteten Stories Hemingways oder Fitzgeralds. Man könnte auch sagen, Nin war ihnen mit ihrem Erzählen in Form einer lyrisch verdichteten Erfahrung des Lebens mindestens ein Jahrhundert voraus. Und sie kannte – auch durch Lawrences Einfluss – keine Berührungsängste mit weiblichem Leben. Was bei so vielen anderen Autor*innen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sonderbar verbrämt angedeutet wird, weibliche Sexualität, Geburt, Abtreibung, Todgeburt, brachte sie eindrucksvoll zur Sprache. Ihr besonderes Talent zur genauen Wahrnehmung, zur Reflexion darüber, die zuerst im Tagebuch durchdacht und dann in erzählende Prosa destilliert wird, kommt besonders in den Erzählungen »Der Mohikaner«, »Die Reise durch das Auge« zur Geltung. Mit Überraschungseffekten arbeitet »Die Maus« vom ersten Satz an, in »Die Stimme« wird eine Parallele zwischen dem Beichtvater einst und dem Psychotherapeuten gezogen, der in der Erzählung von der Klientin gleichsam auch auf die Couch gelegt wird, um den Menschen hinter der konstant analysierenden Stimme zu dechiffrieren: gehemmt, kindlich und hysterisch (S. 253) lautet der vernichtende Befund, nachdem die Protagonistin erkannt hat, wie einfach es ist, seine Analysen zu manipulieren, um die Wahrheit zu verschleiern; auch da der Analytiker selbst nicht zwischen Arzt und Mann trennen kann. Eine Erzählung, die Anaïs Nin – wie so oft – mehrschichtig arrangiert: Die personale Erzählprosa wechselt zur Bildsprache des Traums und wird mit erlebter Rede und innerem Monolog ergänzt. Daraus entsteht ein knapper und dennoch poetischer Erzählton, der Empfindungen festhält: »Das Leben schmerzt. Aber fließen, dahintreiben, in Träumen leben, schmerzt nicht. […] Der Traum eilte immer voraus. Ihn einzuholen, einen Augenblick lang in Überstimmung mit ihm zu leben, das war das Wunder. Das Leben auf der Bühne und das Leben der Legende vereinigten sich mit dem Tageslicht, und aus dieser Hochzeit erhoben sich funkelnd die großen Vögel der Göttlichkeit, die ewigen Momente.« (254–259)
Dass sie mir aber vor allem in ihrer Sicht auf das Schreiben aus der Seele spricht, das brauche ich wohl nicht zu betonen:
»Why one writes is a question I can answer easily, having so often asked it of myself. I believe one writes because one has to create a world in which one can live. I could not live in any of the worlds offered to me — the world of my parents, the world of war, the world of politics. I had to create a world of my own, like a climate, a country, an atmosphere in which I could breathe, reign, and recreate myself when destroyed by living. That, I believe, is the reason for every work of art. (…)
We write to heighten our own awareness of life. We write to lure and enchant and console others. We write to serenade our lovers. We write to taste life twice, in the moment and in retrospection. We write, like Proust, to render all of it eternal, and to persuade ourselves that it is eternal. We write to be able to transcend our life, to reach beyond it. We write to teach ourselves to speak with others, to record the journey into the labyrinth. We write to expand our world when we feel strangled, or constricted, or lonely… If you do not breathe through writing, if you do not cry out in writing, or sing in writing, then don’t write because our culture has no use for it. When I don’t write, I feel my world shrinking. I feel I am in prison. I feel I lose my fire and my color. It should be a necessity, as the sea needs to heave, and I call it breathing.«
Anais Nin: Unter einer Glasglocke. Erzählungen. München: dtv.