»Wir wollen doch sehn, ob nicht die allermeisten sogenannten ›unübersteiglichen Schranken‹ die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen!«
(Lou Andreas-Salomé)
Lou Andreas-Salomés »Ruth« erschien 1895, und wiewohl der Inhalt dieser Erzählung als anstößig abgewehrt wurde, erlebte das Werk in den Jahren bis 1928 zehn Auflagen – zu welcher Stückzahl? Das ließ sich im Rahmen der Arbeitszeit an diesem Blogbeitrag nicht eruieren. (Natürlich ist diese Zahl einerseits relevant, andererseits sollten wir kommerziellen Erfolg nicht als das entscheidende Kriterium für ein Werk ansehen, nicht wahr?)
Viel interessanter dünkt mir, dass »Ruth« das Thema der Erziehung bzw. die Entwicklung eines Menschen zu selbstständigem Denken, Handeln und Sein fokussiert. Nicht nur im Hinblick auf die titelgebende Figur, sondern alle fünf Protagonist*innen, die in diesem Werk erzählen und agieren, durchlaufen eine Entwicklung, selbst wenn sie – naturgemäß – offen endet, schließlich werden ja gerade einmal zwei Jahre aus dem Leben der Figuren betrachtet.
Somit ist auch schon gesagt, dass wir es erstaunlicherweise – man bedenke, wir schreiben die Zeit vor 1895 – mit einer multiperspektivischen Erzählung zu tun haben! Ja, es schwebt über ihr ab und an noch eine allwissende Erzählinstanz, doch diese meldet sich bloß an zwei, drei Stellen zu Wort, die hierdurch eine besondere Akzentuierung erfahren. Und wiewohl Lou Andreas-Salomé zu jenem Zeitpunkt mit der Psychoanalyse noch nicht vertraut ist, sie erst rund zwei Jahrzehnte später als Therapeutin praktizieren wird, schwingt das erzählende Betrachten in »Ruth« doch schon mit, sei es im bereits erwähnten multiperspektivischen Beleuchten, sei es in der Rolle, die eine Schlange in der Erzählhandlung spielt, der die titelgebende Figur mit solcher Abscheu begegnet, dass sie darüber das Bewusstsein zu verlieren droht.
Lou Andreas-Salomé hatte vor »Ruth« aus Gründen ersehnter finanzieller Unabhängigkeit von ihrer Mutter bereits zu schreiben und zu publizieren begonnen. Damals für eine junge, unverheiratete Frau durchaus beachtenswert, bedurfte es dazu doch nicht nur eines langen Atems, einer großen Willensstärke und auch manch taktischem Geschick.
Die Verknappung ihres Vornamens ›Louise‹ zu ›Lou‹ verdankt sie ihrem ehemaligen Lehrer, dem niederländischen Pastor Hendrik Gillot, bei dem sie – zuerst noch ohne Wissen der Mutter – in St. Petersburg Privatunterricht in Philosophie, Literatur und Religionswissenschaft nimmt. Als er ihr während einer gemeinsamen Reise in die Niederlande mitteilt, er wolle seine Frau verlassen, um fürderhin mit seiner besten Schülerin zu leben, lehnt Lou nicht nur ab, sie entscheidet sich auch gegen das Ziel der Reise: die Konfirmation. Der Verlust dieser Vaterfigur, verstärkt durch den frühen Tod ihres eigenen Vaters, die Enttäuschung über sein Missverstehen ihrer Person und ihrer Lebenssehnsüchte, nährt den Entschluss, nach Zürich zu gehen, wo man sie als Studentin akzeptiert. Das begonnene Universitätsstudium scheitert an einer Lungenkrankheit, die sie zwingt, Zürich bald wieder zu verlassen, um sich in Rom auszukurieren. Dort lernt Lou von Salomé im Kreis um die Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug den Philosophen Paul Rée und durch ihn seinen Freund, den Pastorensohn und Philosophen Nietzsche kennen. Ihr Wunschtraum von einer intensiven, kameradschaftlichen Arbeitsgemeinschaft mit den beiden Männern scheitert bald schon an deren Eifersucht sowie am Tratsch der Umgebung – allen voran zieht sie sich die Feindschaft von Nietzsches Schwester zu.
»Nichts in der Welt stimmt so zur Freude, wie die Dinge ringsum, die "leblosen", wie man sie nennt, die Formen und Farben, und was weiß ich. Nichts spricht so verständlich und thut so anspruchslos wohl. Das ist die "Dingfreude" […].«
(Menschenkinder)
Mit Paul Rée geht Lou von Salomé nach Berlin. Die Wohngemeinschaft eröffnet ihr (vorerst) den nötigen Freiraum, um als Literatin zu arbeiten. Dennoch erscheint ihr erster Roman »Im Kampf um Gott« 1885 noch unter dem männlichen Pseudonym Henri Lou, da die Verleger annehmen, dass ein solch ernstes Thema wie der Verlust des Glaubens, von einer Frau verfasst, kein Echo finden würde. Als die Kritiken euphorisch bis anerkennend ausfallen, lüftet Lou von Salomé die Identität dahinter. Der Name der 24-jährigen Russin ist damit in der Gesellschaft ein Begriff. Elisabeth Nietzsche droht damit, Paul Rée und Lou von Salomé anzuzeigen, denn eine Wohngemeinschaft war nach damaligem Recht eine Straftat. Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, entscheidet sich Lou von Salomé 1886, den Antrag einer Scheinehe durch den Orientalisten Friedrich Carl Andreas anzunehmen. Eine asexuelle Ehe, darauf besteht sie, die für beide Partner*innen den Schein wahrt, ist kein unkompliziertes Arrangement, aber es verhindert zumindest Mutterschaft, die damals jede Berufstätigkeit beendet hätte. Auch macht sie Friedrich Carl Andreas sehr bald klar, dass sie nicht die ihr zugedachte dienende Rolle in Abhängigkeit zu spielen gedenkt. 1891 – durch die Begegnung mit Georg Lebedour – überdenkt sie die Scheinehe, deren Scheidung Carl Friedrich Andreas aber verweigert. Sich Liebhaber zunehmen, das setzt Lou Andreas-Salomé durch.
Mehrheitlich konnten die Männer weder mit ihrer Ablehnung eines Heiratsantrags umgehen noch ihren unabhängigen Lebensstil akzeptieren, wiewohl es nicht alle so hasserfüllt verdichteten wie Nietzsche, der sie zuerst hofierte, ›scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe‹, um sie nach ihrem Nein zur Äffin mit falschen Brüsten zu erklären. Übrigens, eine höchst unreflektierte Entwicklung, die er bei jenen Frauen wiederholte, die er faszinierend fand und die sich ihm nicht hingaben (sexuell oder intellektuell, doch immer in Unterordnung), ohne dabei jemals den Gedanken zu fassen, dieser Ablauf könnte eine auffallende Charakteristik aufweisen.
»Der Mensch, der die Gewalt besaß, uns glauben und lieben zu machen, bleibt zutiefst in uns der königliche Mensch, auch noch als späterer Gegner.«
(Lebensrückblick: Grundriß einiger Lebenserinnerungen)
Lou Andreas-Salomé veröffentlicht 1894 auf Basis ihrer Auseinandersetzung mit Ibsens Werk eine Analyse seiner Frauengestalten und die Reflexion »Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Mit 2 Bildern und 3 facsimilirten Briefen Nietzsches«, eine Arbeit, die den Versuch unternimmt, den ›Denker durch den Menschen zu erläutern‹. Ihre spätere Freundin Anna Freud wird dieses Vorhaben eine Vorwegnahme der Psychoanalyse nennen.
Die Beziehung mit Rainer Maria Rilke, der ihr sein ›Rainer‹ verdankt, setzt der jüngere Autor auch literarisch wiederholt ein Denkmal. Mit ihm verbindet sie eine enge Freundschaft bis zu Rilkes Tod 1926, auch nach der schwierigen Trennung, die sie vollzog, um die innere Abhängigkeit des labilen Menschen nicht weiter zu forcieren, die sie erschreckte, so wie jeder Verlust der Autonomie sie offenbar besorgte.
Keiner aber wird so viel – wenn auch indirekten – Einfluss auf Lou Andreas-Salomés Leben und Arbeiten haben wie Sigmund Freud: 1911 lernte sie ihn kennen, studierte bei ihm, wurde Psychoanalytikerin und praktizierte bis 1935.
Auch in ihren Publikationen zur Psychoanalyse blieb sie weiterhin Autorin: Sie nutzte für beide gerne literarische Formen, weshalb Freud sie einmal die »Dichterin der Psychoanalyse« nannte.
»Die Dichter besingen das, was sie träumen,
nicht das, was ist.«
(Menschenkinder)
Als 1895 »Ruth« erscheint, legt Lou Andreas Salomé damit auch eine Arbeit vor, in der unverkennbar manche Themen ihres Lebens wiederkehren: übergriffiges Verhalten von Männern in patriarchaler Dominanz, die Sehnsucht nach Akzeptanz und wegweisendem Respekt von heranwachsenden Mädchen, die jedoch anders verstanden wird, die strikten Rollenerwartungen an beide Geschlechter, die wenig individuellen Spielraum gestatten, sich dennoch nicht mit herkömmlichen Rollenbildern zufriedengeben, sondern eigene Wege gehen. Themen, die Lou Andreas-Salomé auch in Zukunft noch begleiten werden, gestaltet sie hier zum ersten Mal.
Der Inhalt der Erzählung ist rasch erzählt:
Als der Lehrer Erik den Unterricht am Mädchengymnasium übernimmt, fällt ihm sogleich die 16-jährige Waise Ruth auf, die bei Onkel und Tante lebt. Dieser erweiterten Familie begegnen wir aus Eriks Sicht: Der Onkel begegnet Ruth zerstreut, aber freundlich; die Tante ist in konventioneller Engstirnigkeit erstarrt, mehr um die gute Meinung der Gesellschaft als um Wahrhaftigkeit bemüht und bevorzugt ihre eigene Tochter ganz offensichtlich; geliebt wird Ruth von keinem dieser Erwachsenen.
Da Ruth verinnerlicht hat, dass ihr Leben sich umso einfacher gestaltet, je unsichtbarer sie ist, fehlt es ihr an realen Begegnungen. Diesen Mangel gleicht sie mit ihrer Phantasie aus, erfindet sich selbst tagträumend Geschichten. Obgleich sie den Mädchen in der Schule diese ›Dichtungen‹ erzählt, hält sie dabei dennoch ihr Innerstes zurück, gewährt niemandem wirklich Einblick, vertraut sich keinem anderen Menschen an: Weil sie niemandem wirklich vertraut. Im Zusammensein mit den Mitschülerinnen ist sie oft durchaus schalkhaft, sodass sie auf den beobachtenden Lehrer Erik jungenhaft wirkt. Obgleich bereits 16 Jahre alt, wirkt sie noch recht kindlich – insbesondere wenn sie sich einem Menschen gegenüber öffnet.
»In jedem Leben geschieht es noch einmal, daß es sich müht, wiederzubeginnen wie mit Neugeburt: mit Recht nennt das vielzitierte Wort die Pubertät eine zweite Geburt.«
(Lebensrückblick: Grundriß einiger Lebenserinnerungen)
Nachdem Erik, der die Klasse gerade erst übernommen hat, ihr mitteilt, dass sie noch nichts könne, nur krause Gedanken zu Papier bringe, ihr Schulende jedoch altersbedingt naht, sucht sie ihn an einem Frühlingstag auf seinem Landsitz auf, ohne dies ihren Verwandten mitzuteilen, denn sie will erreichen, dass Erik ihr bis zum Ende des Sommers Privatunterricht erteilt.
Er stimmt dem Plan zu, durchschaut auch, dass es Ruth lieb wäre, würde er ihren Onkel überzeugen, dass sie während jener Monate bei Eriks Familie am Land leben dürfe. Klare-Bel, seine Frau wird diesbezüglich nicht gefragt, ihr Einverständnis wird vorausgesetzt, wiewohl sie chronisch krank ist. Seit sie während ihrer zweiten Schwangerschaft stürzte und ein totes Kind gebar, kann sie nicht mehr gehen. Sie wird Ruth gegenüber freundlich sein, weil Eriks Lebenskraft durch dieses Vorhaben angeregt wird, jedoch reagiert sie weder mütterlich noch freundschaftlich, sondern beobachtet jede Veränderung von ihrem Liegebett aus distanziert und kritisch.
Der Unterricht wird glücken und scheitern zugleich: Ruth wird sich entwickeln; Jonas, beinahe gleichaltrig und bis zu jenem Zeitpunkt ein eher mädchenhafter Knabe, was die Mutter keineswegs stört, gewinnt durch Ruth an Ernst in seinen Studien. Klare-Bel wird einen weiteren Versuch unternehmen zu gesunden.
Eriks Bildungskonzept dünkt uns zuerst noch verständlich, z. B. wenn er diszipliniertes eigenes Studium einfordert oder Ruth dazu ermutigt, sich mit seiner Unterstützung ihren Ängsten zu stellen. Auch sein Gedankenbild, er sei der sorgende Gärtner, sie das wachsende Bäumchen, dünkt uns nachvollziehbar. Bald jedoch stößt er uns ab, zum Beispiel wenn er sagt »Du oder ich, Ruth! Einer von uns beiden muß gehorchen.« (S. 79). Oder an all den Stellen, die deutlich werden lassen, dass er Macht will, Macht braucht bzw. sich selbst ermächtigt. Die zweite Passage, bei der sich die auktoriale Erzählstimme einmengt, heißt es dazu kritisch: »Erik, der andere weit besser zu erforschen verstand, als sich selbst, ahnte gar nicht, wie stark sich unter dem Deckmantel des Pädagogen ein jugendliches, herrschsüchtiges Verlangen in ihm regte.« (S. 75)
Erik lässt sich in einer Art auf das Mädchen ein, die man zuerst Vereinnahmung – jeden Gedanken solle sie ihm mitteilen, nichts für sich behalten – und bald schon mit Begehren vermengte Nähe nennen müsste. So wird aus ›mein Kind‹ ein ›Liebling‹, der alle Zuwendung zu einem Kind in der physischen Grenzüberschreitung verliert und in einem Kuss endet, denn – so der dritte Passus der Auktoriale – »[u]nsäglich liebte er in ihr seine [!] Gärtnerkunst und seine Gärtnerhoffnungen.« (S. 159). Spätestens an dieser Stelle sollte es jedem klar sein, dass es ihm nicht bloß um Ruths Entwicklung geht, um ihr inneres Wachstum, ihre intellektuelle Reifung.
Und sie? Wie reagiert sie darauf? Sie will Gärtner werden wie er (S. 115), will durch ihre Erzählkunst in den Menschen etwas nähren, das gut ist und das in deren Leben noch fehlt (S. 134), will quasi Mann werden. Als sie dieses Vorhaben Erik mitteilt, nimmt er die Nachricht gar nicht wirklich wahr. Zwar rührt ihre Euphorie an seine Jugendpläne, flutet dann auch – in veränderter Form – in eine Rede, die er über Bildung zu halten hat und verpufft danach, da er erneut einen einzelnen Menschen fokussiert und zu sich selbst in Bezug setzt, statt eine Gruppe und deren Bedürfnisse zu erfassen. So wie er sich zuvor rührend um Klare-Bel kümmerte, ersetzt er sie nun durch Ruth.
Als sein engster Studienfreund Römer ihn besucht, äußert dieser das Anliegen, Ruth mit sich nach Heidelberg zu nehmen. Erik erkennt bereits zu jenem Zeitpunkt, dass dies selbstlos wäre und in Ruths Sinne, obendrein könnte er so den keimenden Verrat an seiner Frau beenden, doch will er weder auf den Freund noch auf jene innere Stimme nicht hören.
Und Klare-Bel? Einerseits freut es sie, dass ihr Mann nach all den Jahren endlich wieder zu seinem jugendlichen Eifer zurückfindet, andererseits stellt sie Veränderungen in seinem Verhalten und Charakter fest, die sie dazu bringen, eine neue Behandlungsmethode ihrer Lähmung ins Auge zu fassen, die Erik selbst an ihr vollziehen will, selbst wenn diese noch so schmerzhaft sein möge. Worum es sich dabei genau handelt, erfahren wir nicht; ebenso wenig Eriks Qualifikation – ist doch zu Beginn nur von umfassenden Studien die Rede. Diese Wendung erstaunt trotzdem nicht, bedenkt man den Beginn des Romans: Die scheinbar in sich ruhende Klare-Bel, unbeweglich und auf tragende Arme ihres Mannes angewiesen, behält seit ihrer Lähmung immer im Blick, ob nicht etwa eine andere Frau am Horizont auftaucht. (Und sieht dennoch weder die eine noch die andere.)
Erst als Erik erkennen muss, dass er sein Begehren Ruths kaum mehr kontrollieren kann, er – in der Bildsprache des Romans – gerne vor Ungeduld in der Knospe wühlen möchte, um zu sehen, was darin reift, entscheidet er sich zu einem harten Schnitt: Sie müsse das Haus verlassen, je eher, je besser. Dass sie dies als großes Unglück empfindet, sich eine Betäubung des Schmerzes im Fieber herbeisehnt, stimmt ihn nicht um. Er schickt sie zu seinem Studienfreund Römer und zu dessen Frau Irene nach Heidelberg. Das Ehepaar, mit dem Erik einst gemeinsam Ideen und Pläne gesponnen hatte, was denn alles nottue, damit die Welt gesunde, hat diese seither tatkräftig umgesetzt – vor allem Römers Frau, um die Wahrheit zu sagen, denn Römer selbst konzentrierte sich auf seine Karriere als Mediziner. Oder um es in Römers Worten zu sagen: Ausgedachtes setzen Frauen sogleich tatkräftig um, mutig wie sie sind, wohingegen Männer lieber spintisieren (Vgl.: S. 170f).
Im Gegensatz zu seinem Studienfreund konnte sich Erik seit der Erkrankung seiner Frau auf diese ausreden, um sich nicht das Faktum ansehen zu müssen, dass er sich zwar mit großem Enthusiasmus einer einzigen Person zu widmen versteht, er darüber jedoch alle anderen Menschen in seiner Umgebung gänzlich aus dem Blick verliert und ihn jedes Kollektiv überfordert.
Auch nach Ruths Abreise kreist Erik wie ein Adler über ihr, bleibt brieflich weiterhin in Kontakt, sodass Irene Römer zusehends besorgter wird, je klarer sie Ruths Abhängigkeit von Erik und seine Unfähigkeit, sie in Eigenständigkeit reifen zu lassen, durchschaut. Da kommt Jurii gerade recht! Der junge Student verliebt sich in Ruth, doch diese weist ihn energisch ab: Die Liebe interessiere sie nicht die Bohne. Sie wolle nicht ›Weib‹ sein, sondern Kind – Eriks Kind, um genau zu sein. Und später, irgendwann einmal, wolle sie wie Erik werden, mit grandiosen Ideen Bedeutsames schaffen und die Welt verändern: In solch einem Plan hat ein verliebter Student keinen Platz. Selbst zu diesem Zeitpunkt durchschaut Erik noch nicht, wer Ruth ist. Oder ignoriert es schlicht, weil es mit seinen Sehnsüchten nicht korrespondiert.
Neben den bereits vorgestellten Figuren spielt außerdem Warwara Michailowa, eine Dame der russischen Gesellschaft, eine Rolle. Sie beobachtet die sich entwickelnde Szenerie von außen, macht sich ihre Gedanken, zieht Schlüsse und hat diese manchmal später zu korrigieren, dennoch bleibt ihr Blick auf sich und die anderen unverstellt. In den Dialogen mit ihr äußert Erik sich über Geschlechterrollen und Erziehungskonzepte – alles, was er gegenüber seiner Frau nie ausspricht, die er wie ein unmündiges, von ihm abhängiges Kind behandelt, um das man sich kümmern müsse, selbst wenn man betont, es sei ja doch ›nur eine geringe Last‹, bleibt es eine und wird nie ein Hand-in-Hand.
Das Hin und Her der Briefe, die unterkühlt und nüchtern tönen, Eriks Gesichtsausdruck, wenn er einen Brief Ruths erhält, vor allem aber seine Reaktion, als sie, Klare-Bel, erstmals, ohne sich auf die Krücken der letzten Monate zu stützen, mühsam eigenständige Schritte in seine Richtung setzt, und Erik sie ansieht – oder durch sie hindurch – und mit keiner Faser reagiert, weckt Klare-Bel auf und sie entscheidet sich, Erik zu verlassen, bevor er sie verlassen kann.
Eriks Antwort an Ruth auf ihre hastige und beinahe trotzig-klingende Jurii-Erzählung ist derweilen in Heidelberg eingetroffen, und diese Worte Eriks alarmieren Ruth ob ihres Tonfalls derart, dass sie sich ohne Wissen der Familie Römer auf den Rückweg macht. Dort wird sie zuerst mit Jonas konfrontiert: Seine enthusiastische Liebeserklärung wehrt sie zuerst mit einem Lachen, dann mit einem entschiedenen Nein ab. Sie will nicht ›Weib‹ sein, will nicht heiraten und schon gar nicht will sie den von ihm bereits bis ins Detail vorgezeichneten Lebensplan folgen. Wenig später kommt Erik nach Hause, seine Liebeserklärung folgt, und Ruth ist vollkommen vor den Kopf gestoßen: Er hat doch bereits eine Frau, Klare-Bel! An deren Weggang will sie nicht schuld sein, will der Frau kein Leid zufügen, vor allem aber – und das erfüllt Ruth mit Entsetzen – sieht sie zum ersten Mal den Lehrer, wie er ist und nicht mehr den idealisierten Vertrauten. Die Situation eskaliert, als Jonas zufällig den Heiratsantrag seines Vaters hört, fluchtartig aus dem Haus will, sich im rutschenden Teppich verheddert und so unglücklich stürzt, dass er sich eine Platzwunde am Kopf zuzieht. Während Ruth (!) sich um den Bewusstlosen kümmert und einen Erik, der unfähig zu handeln ist, erlebt, begräbt sie den letzten Rest ihres idealisierten Bildes. Als Jonas wieder zu Bewusstsein kommt, Erik seine Betreuung übernimmt, weiß Ruth auch, was sie tun will: Dieses Haus verlassen und nie mehr zurückkehren.
Das leise Schließen der Gartentür hört Erik in Jonas Zimmer, und er ahnt, was geschehen ist. Seine Frau hat er verloren, das junge Mädchen, das er stattdessen ehelichen wollte, ebenfalls. Alles in-den-Garten-Stürzen und alles Rufen wird nichts daran ändern. Und sein Sohn? Verabscheut ihn.
Alle Protagonist*innen haben in dieser Erzählung, die ein knappes Jahr im Leben der Figuren umfasst, Entscheidendes gelernt: Klare-Bel, dass sie auf eigenen Füßen stehen kann und muss, dass sie sich nicht mehr durch ihr Leben tragen lassen will, sondern es gestalten. Jonas, dass Verliebtheit, Zuneigung und Liebe gute Motivatoren sind, um ehrgeizigen Plänen zu folgen, sie dennoch keineswegs auf Gegenliebe stoßen müssen, und dass sein Vater nicht der heldenhafte Mensch ist, zu dem er aufsah, sondern – wie jeder andere auch – mit Fehlern und Mängeln behaftet. Ruth übte sich darin, eigene Ideen und Vorstellungen zu entwicklen, und diesen Plänen auch dann zu folgen, wenn andere Menschen ihnen mit Widerstand begegnen. Und Erik? Er lernte seinen Sohn zu achten, immerhin. Doch davon abgesehen? Bleibt ihm nur Beklemmung, Verlust und ein Rotkehlchen, das in der Birke singt.
Und wir? Wir lernen unter anderem, nicht allem Glauben zu schenken. Denn das Zitat, das gemeinhin und so gerne Lou Andreas-Salomé zugeschrieben wird – »Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.« – stammt mitnichten von ihr. Es ist die in Prosaform gezwungene Variante einer Verszeile, die sie in ihrem Lebensrückblick nutzte und dort auch als solche zitierte:
»Die Welt, sie wird dich schlecht begaben,
Glaube mir's!
Wofern du willst ein Leben haben –
Raube dir’s!«
Und diese – stammt weder von ihr noch – ursprünglich – von Georg Friedrich Daumer, der sie 1846 erstmals publizierte, sondern wohl von Hafis. Zumindest ist sie in Daumers »Sammlung persischer Gedichte« in dieser Übersetzung erschienen. Und so schließt sich der Kreis über den Orientalisten Friedrich Carl Andreas erneut zu Lou Andreas-Salomé …
Quellen:
- Andreas-Salome, Lou: Ruth. Erzählung. 2. Bd. Bremen: MV-Literatur o.J.
- Daumer, Georg Friedrich. Hafis. Eine Sammlung persischer Gedichte. Vgl.: books.google.at
- Moser v. Filseck, Karin: Lou Andreas-Salomé: Ewige Wiederkehr der ›Gottmenschen‹ – Zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ Welt. Vgl.: https://joutrnals.ub.uni-heidelberg.de
- Kathan, Iris: Lou Andreas-Salomé’. Vgl.: https://orawww.uibk.ac.at/apex/uprod/f?p=LLW:4:0::::P4_ID:1292