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Eva Weissweiler über das italienische Exil der Familie Benjamin.Oder: Ein Zuhause – für einige Jahre.

Der Autorin, Eva Weissweiler, ist es gelungen, ein höchst akribisch recherchiertes Porträt Dora Sophie Kellners, Ex-Frau Walter Benjamins, im Plauderton zu zeichnen, das die Persönlichkeit dieser beeindruckenden Frau in den Blick rückt. Deren Kraft kann einen nur erstaunen: Wie sie es Mal um Mal schaffte, an den verschiedensten Lebensorten von Neuem anzufangen, ein Zuhause aufzubauen, sich um Freunde und den Sohn zu kümmern, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, schlicht und ergreifend, weil die politischen Ereignisse der 1930er bis 1950er-Jahre sie dazu zwangen.

Im italienischen Sanremo, in das sie aus Berlin floh, errichtete sie in einem gepachteten Haus, das sie Villa Verde nannte, eine Pension. Für zahlreiche Freund*innen, die aus Nazideutschland fliehen mussten, wurde es ein Zwischenort, der ihnen etwas Ruhe ermöglichte. Auch Walter Benjamin, Doras Ex-Mann, war zwischen 1934 und 1938 fünf Mal ebenda Gast, weil sie ihn einlud, aus Sorge um die Beziehung zwischen Vater und Sohn, aber auch aus Sorge, um die Gesundheit und das Überleben ihres Ex-Mannes. Trotz der Wirrnisse jener Jahre konnte er während seiner Aufenthalte in Sanremo mehrheitlich konzentriert arbeiten.

Als dieser Ort ihr unmöglich wurde, gelang ihr durch eine Scheinehe mit dem Jugendfreund Harry Morser, die sie bereits in weiser Voraussicht 1938 eingegangen war, eine erneute Übersiedelung: Dieses Mal nach England, wo sie mit Frank Shaw, einem Ingenieur und Dozenten, den sie als Gast in der Villa Verde kennen- und schätzen lernte, lebte. Doch wiederum war es ihr Bestreben, auf eigenen Füßen zu stehen, weshalb sie auch in London ein weiteres Hotel eröffnete. In den Jahren der Bombardements, als London zu unsicher wurde, zog sie in ein kleines Dorf und arbeitete dort im Civic Restaurant als Köchin, bevor sie wieder in die Hauptstadt zurückkehrte, das stark beschädigte Hotel mit Shaw restaurierte, den Betrieb erneut aufnahm, es sogar durch weitere Häuser ergänzte.

Neben ihr spielt Stefan, der 1918 geborene Sohn des Paares, eine entscheidende Rolle in dieser biografischen Darstellung.

Es ist Eva Weissweiler zu danken, dass sie sich in umfassende Recherchen stürzte, um auch diesen Menschen, der in der Benjamin-Forschung gerne zur Fußnote erklärt wird, darzustellen: »Seine Briefe aus Sanremo zeigen ihn als wachen, intelligenten jungen Mann, der sich tiefgründig über Politik und Literatur äußern konnte und zudem noch erstaunlich witzig war«, so Eva Weissweiler.

Dass Weissweilers biografische Darstellung derart angenehm zu lesen ist, soll einen aber nicht dazu verführen zu glauben, man habe es mit einer romanhaften Erzählung zu tun oder es stecke keine umfassende – und teilweise durch Krieg, verschollene Briefe und Manuskripte sowie durch die Pandemie erschwerte – Recherche dahinter. Wer daran Zweifel hat, dem sei der 60-seitige Anhang zur genauen Lektüre empfohlen, der nicht bloß ein Literaturverzeichnis, Kurzbiografien der wesentlichsten Personen, Endnoten, ein alphabetisches Register der Personen, sondern auch eine umfassende, 15-seitige Zeittafel der Jahre 1932 bis 1940 enthält, beginnend bei der Eintragung Dora Benjamins im Grundbuch als Eigentümerin des Familiensitzes in Berlin und endend mit dem Selbstmord Walter Benjamins in Portbou.

Dies ist nicht das erste Buch Eva Weissweilers über Dora und Walter Benjamin sowie über deren Sohn Stefan: Im Jahr 2020 verfasste sie bereits »Das Echo deiner Frage«, eine faszinierende Lebensskizze des Paares, bei dem die späten Jahre – also auch die Villa Verde oder Doras letzte Jahrzehnte in England – naturgemäß eher Randthema blieben. Der nun bei btb erschienene Band »Villa Verde oder das Hotel in Sanremo. Das italienische Exil der Familie Benjamin«, versehen mit einem Nachwort von Mona Benjamin, der Enkelin, schließt diese Lücke. Vor allem aber stellt diese Biografie die Frage in den Raum, wie Menschen im Exil überleben: Manche – wie Dora Sophie Kellner – treibt ein ›Weiter!‹ an, das sie zwingt, den Kopf zu heben, selbst wenn dies oft bloß den Schein wahrt. Sie haben, selbst unter solch widrigen Umständen, noch die Kraft, andere zu unterstützen, ihnen Mut zu machen. Für andere wie Stefan ist es eine traumatische Erfahrung, die ihre Zeit zur Bewältigung braucht, die sie aber letztlich festigt und aus ihnen den Menschen werden lässt, der sie sein können. Für wiederum andere wie Walter Benjamin bringt eine weitere bürokratische Hürde das Fass zum Überlaufen, sie verzweifeln an der Unausweichlichkeit einer kafkaesk absurden Situation, aus der sie keinen Ausweg sehen. In diesem Sinn ist die »Villa Verde« hochaktuell und »erzählt eine Geschichte, wie sie sich bis heute alle Tage ereignet und weiter ereignen wird, solange fanatische Menschen an der Macht sind, denen Demokratie und Menschenrechte nichts bedeuten«, schreibt Eva Weissweiler. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.