Das kann durchaus schiefgehen, wie die Story beweist, die Daniel Wisser in »Wir bleiben noch« zu einem Plot arrangiert: Victor Jarno, Mitte vierzig, nach achtzehn Berufsjahren hauptberuflich arbeitslos, lebt mit seiner Frau, die sich sehnlichst ein Kind wünscht, im Clinch: Kein Versuch der Schwangerschaft glückt. Dies ist letztlich nur das Tüpfelchen am ›i‹ dafür, dass die Beziehung scheitert, denn Victor weiß im Grunde genommen seit dreißig Jahren, dass er eine andere liebt. Er verlässt seine Frau, als diese Andere, seine Cousine Karoline – mittlerweile Ärztin – aus Norwegen zurückkehrt.
Beim runden Geburtstag der Großmutter begegnen die beiden einander nach Jahren wieder; und die betagte Frau teilt ihrem Enkel Victor mit, sie werde ihm ihr Haus und Karoline die Sparbücher vererben. Karolines Schwester sowie die übrigen Verwandten gehen mehr oder weniger leer aus.
Sobald Liaison sowie Vermächtnis der Großmutter bei der Testamentseröffnung bekannt werden, sind Zorn, Zoff und Brüche vorprogrammiert. Cousin und Cousine aber ziehen ins großmütterliche Haus auf dem Land: Sie wird die neue Gemeindeärztin mit Ambitionen auf das Bürgermeisterinnenamt, weil dieses sonst keiner übernehmen möchte, und Victor? Er ist damit zufrieden, hauptberuflicher Leser zu werden.
Vor allem der letzte Roman des russischen Autors Dostojewksi »Die Brüder Karamasow« steht auf seiner Lektüreliste, das Lieblingsbuch von Victors Vater, der sich vor vielen Jahren das Leben nahm. So lautet die Begründung. Inhaltliche Bezüge zwischen den beiden Romanhandlungen existieren nur oberflächlich. Eine wirkliche Einbindung des Romans findet zwar nicht statt, doch beide Romane kreisen um einen Familiendisput zwischen Söhnen und Vätern sowie um die Sehnsucht nach einer bestimmten Frau.
Erstanden habe ich »Wir bleiben noch« jedoch aus einem gänzlich anderen Grund: Mich interessierte die im Klappentext besonders hervorgehobene Thematik der sterbenden Sozialdemokratie, die anhand der Geschichte einer Familie erzählt wird, seit Generationen bereits Sozialist*innen, deren Mitglieder sich seit 2015 jedoch mehr und mehr dem rechten Spektrum zuwenden. Einzige Ausnahme(n): Victor, gemäß eigener Aussage (und wohl auch Karoline).
Im Hinblick auf diesen Handlungsstrang enttäuscht der Plot durch Oberflächlichkeiten. Diese wichtige Thematik hätte mehr Tiefe vertragen. Stattdessen setzt Wisser auf jenen im Klappentext hervorgehobenen ›hinreißend lakonischen Witz‹.
Ich vermute, es hätte komisch sein sollen, dass Victor Karoline mit einem Reh gleichsetzt; wenigstens spart sich Victor das Adjektiv ›scheu‹. Ich vermute, es hätte witzig sein sollen, dass alle Männer – ausnahmslos – Karoline irre toll finden, wie Victor uns wiederholt erzählt und wodurch er seine Wahl bestätigt sieht. Und ja, ich vermute gleichfalls, es hätte witzig sein sollen, dass Victor sich nach dem ersten Mal Sex mit Karoline sagt, »[f]ür ihn lag die dreizehnjährige Karoline neben ihm […]« (S. 108).
Sexistisches Denken und Misogynie findet sich auch in Victors Aussagen über Karolines Schwester sowie über Frauen jenseits der 25, die bereits Mutter sind, wie z.B. in diesem Exempel: »Im Grunde ist Hanna eine türkische Mama: Sie kriegt Kinder, und dann wird sie dick. Aus ist es mit dem Sex. Jetzt ist sie frustriert und frisst noch mehr.« (S. 147)
Das ist frauenverachtend. Und nicht witzig.
Auch die Passagen, die das Thema der erwünschten, aber nicht zu realisierenden Schwangerschaft beleuchten, fallen diesbezüglich auf: Barbara, Victors erste Freundin, mit der gegen Ende des Romans eine zufällige Begegnung stattfindet, ließ eine Abtreibung vornehmen, da sie sich zu jung fühlte, um ›bereits ihre Träume aufzugeben‹. Bei Irene und Karoline hingegen versagt der weibliche Körper (Na no na ned.), und Victor ist froh darüber – insgeheim, während Irene und Karoline es als Defizit erleben.
All das erfahren wir aus dem Mund des Mannes, der sich selbst als letzter Sozialdemokrat sieht (Ja, wissen wir alle und seit 1890: Sozialisten sind auch bloß Männer …), sodass Victors Selbstbild zum Sozialdemokraten-Getue, zur Augenauswischerei wird: Eine sozial gerechtere Gesellschaft strebt er nicht an. Und es findet sich keine Figur, die Wisser um der erzählerischen Gerechtigkeit wegen einführt und die ein Kontra zur Erzählperspektive Victors darstellt, sollte es auch noch so leise sein. Oder eine Form der Gegenposition aufgrund der genutzten Strukturelemente, des Handlungsverlaufs, die uns ein Fragezeichen zu Victors Misogynie vermitteln.
Nichts von alldem.
Im Gegenteil: Karoline fühlt sich geehrt von seinen fragwürdigen Aussagen; und keine türkische Mama, die dem Deppen mal eins überzieht. Nicht einmal ein Freund, eine Freundin, der oder die skeptisch die Augenbrauen hebt. Bloß man selbst, als Lesende, in Konfrontation mit diesem Antihelden.
Soll das der angekündigte ›hinreißend lakonische Witz‹ sein?
Nein, ist es nicht: witzig. Das geht eher gehörig auf die Nerven, sodass man über die Seite 80 nur mit dem Gedanken kommt, dass € 12,40 durchaus eine Summe darstellen, Essen für zwei, drei Tage oder ein Dreiviertelzugticket (Hin und Retour) nach Wien. Außerdem, es könnte sich ja vielleicht doch noch etwas entpuppen, schließlich verweist das Geburtsjahr des Kollegen nicht auf das letzte Jahrhundert und die gestaltete Denke einer Figur ist nie dem Autor, der Autorin anzulasten, womöglich will Wisser ja auf etwas hinaus. So lässt man sich wegen lächerlicher € 12,40 weiter nerven, ärgert sich zusätzlich über Perspektivenverletzungen und erläuternde Episteln, pure Wiederholungen zuvor bereits vermittelter Erzählinhalte, bis man das Buch nach Seite 478 endlich schließen darf und sich fragt, was nun damit geschehen soll: In das eigene Bücherregal kommt es nicht. In den öffentlichen Bücherschrank soll es nicht – außer man würde am vorderen und hinteren Cover je einen Sticker anbringen: ›Frauenverachtend!‹ Verschenken will man es auch nicht. Dem Luchterhand sowie dem btb-Verlag sollte man mitteilen, dass unreflektiert dargestellte Frauenfeindlichkeit nicht witzig ist: Klappentext überdenken.
Oder ihnen einen Verweis zu #dichterdran & Co senden. Und dem Autor ebenfalls. – Also? Ab ins Altpapier? Oder was denkt ihr?
Nachtrag:
Dieser Essay thematisiert einen Roman. Er tätigt keine Aussage zu einem Autor an und für sich. Er will vielmehr zum Nachdenken anregen, wie Antihelden gestaltet werden können, insbesondere, wenn sie Positionen vertreten, die diskussionswürdig sind. Sei es, weil deren Äußerungen und/oder Verhalten sexistisch, homophob, rassistisch oder antisemitisch sind.
Natürlich ist es legitim, solche Figuren zu gestalten: Kunst darf das.
Meines Erachtens brauchen diese Protagonist*innen jedoch unbedingt ein Gegenüber im Erzähluniversum oder eine implizite Stellungnahme in der Struktur. Man vergleiche z. B. Jeanette Wintersons »Frankisstein« und die Antihelden darin. Ohne solch einen Gegenpol läuft man Gefahr, missverstanden zu werden. Humor kann dies meines Erachtens nicht leisten: Wer Wissers Antihelden ernst nimmt – gerade weil dessen Frustration über unsere Gegenwart, über Brüche, die sich durch Familien ziehen, über den Rechtsruck dieses Ernst-Nehmen verlangen –, hat ein Problem mit dessen frauenverachtenden Aussagen und Haltungen, oder nicht?
Wisser, Daniel: Wir bleiben noch. München: btb 2022.