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Alba de Céspedes: Das verbotene Notizbuch. Oder: Einblicke, (nicht nur) in das Italien der 1950er-Jahre

»Es war ein Fehler, dieses Heft zu kaufen, ein schlimmer Fehler.« In mir hörte ich sogleich einen zeitgenössischen Lektor dröhnen: Der denkbar schlechteste erste Satz. Wenn schon zu Beginn vom Fehler eines Kaufes die Rede sei, überlege man es sich doch drei Mal, dieses Buch – € 12,40 – zu erstehen.

Wohlfeil, die € 12,40, wie ich einige Kilometer später beim Aussteigen am nächsten Lesungsort dachte, denn auf der Strecke zwischen Schärding und Wels war ich bereits in diesem Erzähluniversum versunken: Wir befinden uns in Italien, es ist ein Sonntag im November 1950. Valeria, die von ihrer Familie nur ›Mama‹ genannt wird, selbst von ihrem Mann Michele, ging los, um für ihn Zigaretten zu kaufen. In der Auslage des Sali e Tabacchi-Ladens sieht sie Notizhefte und beschließt spontan, solch eines besitzen zu wollen. Diese aber dürfen an Sonntagen nicht verkauft werden, wehrt der Ladenbesitzer ab. Sie jedoch bekniet ihn, eine Ausnahme zu machen: Es sei eine Frage von Leben und Tod, sie brauche unbedingt und nicht erst am Montag solch ein Notizheft. Nach einigem Hin und Her gibt er nach, schiebt ihr das verbotene Objekt der Begierde mit dem Kommentar zu, sie solle es bloß bitte schnell in ihrer Tasche verschwinden lassen. Was die beiden aber damit in Gang setzen, hätte sich keiner von ihnen je träumen lassen: Die Notwendigkeit, dieses Tagebuch auch weiterhin – vor der Familie – zu verbergen, weil sie deren Spott fürchtet, macht Valeria zum ersten Mal in ihrem Leben wahrhaftig bewusst, dass ihre Wohnung, in der sie mit ihrem Mann und den erwachsenen Kindern lebt, keinen privaten Raum für ihr Ich kennt, nicht einmal eine einzige Schublade. Letztlich landet das Notizbuch im Flickensack, in den wohl kaum ein anderer als sie selbst hineingreifen wird, um daraus Altkleider für Putzlappen zu entnehmen. Der Flickensack wird so zum symbolträchtigen Raum ihrer zerrissenen Privatheit.

Wenigstens diese will sie für sich haben, obgleich sie sich mehrfach sagt, dass keine einzige ihrer Notizen Geheimhaltung benötigen würden – vorerst schreibt sie ja vor allem Beobachtungen über ihre Umgebung hinein: Geldsorgen, die den anderen sowieso bekannt, familiäre Begebenheiten, die alle anderen auch miterleben. Langsam jedoch wandelt sich der Inhalt, spiegelt zusehends ihre Sehnsucht, auch von den anderen Mitgliedern des Familienverbands als eigenständiges Ich wahrgenommen zu werden. Und die Angst, die Schuldgefühle, die dies in ihr auslöst. 

Ebenso wie die mangelnde Privatsphäre wird ihr bewusst, dass sie über keine Zeit für sich selbst verfügt, außer sie würde Stunden ihres Schlafes opfern, denn Valeria, knapp über vierzig Jahre alt, ist berufstätig aus Notwendigkeit, da ihre Herkunftsfamilie verarmte und ihr Ehemann, ein Bankbeamter, gleichfalls nicht sonderlich viel verdient. Und während alle anderen rundum ihr Bedürfnis nach Erholung mit ihrer Erwerbsarbeit begründen und unter ›Arbeit‹ einzig Lohnarbeit verstehen, enden ihre Arbeitszeiten nie, folgt auf das Büro doch die Hausarbeit und das familiäre Sorgen für andere Menschen. Alles wunderbar legitimiert in den Worten der Mutter: Keine Frau solle je freie Zeit haben und untätig herumsitzen. (Sicherlich findet sich irgendwo eine Handarbeit, ein Strumpf zu stopfen.)

Erst in der Wiederholung folgt diesem sattsam bekannten Beschäftigungsgebot ein Nachsatz: Denn würden ihre Hände erst einmal ruhen, käme sie zum Denken, und bevor sie es bemerke, würde sie über die Liebe nachdenken. (Und diese infrage stellen. Das aber wäre das Ende ihrer Ehe und Ehre.) 

Valeria, untertags ewig beschäftigt, reflektiert in jenen gestohlenen Nachtstunden, wie anders ihr Leben in diesen Erwachsenenjahren verlief als dasjenige ihrer ehemaligen Mitschülerinnen, deren einziger Lebensinhalt der Mann ist und deren Bewusstsein auch bei Mann-und-Kindern endet: Was wird er sagen – zum späten Essen, zur heute gekauften Handtasche, zum neuen Kleid, seit einiger Zeit sei er so angespannt, sie werde ihn schon wieder um den Finger wickeln, auf jeden Fall müsste sie schleunigst nach Hause eilen …

Valeria wird bewusst, wie ungemein patriarchal die bürgerliche Gesellschaft noch immer geprägt ist – wunderbar zu lesen, die Kinoepisode, bei der ein ganzer Saal lacht, weil der amerikanische Held seiner Frau beim Abwasch hilft. Sogar Valeria lacht – freudlos – und denkt im Stillen, wieso eigentlich nicht, gegessen hat er ja auch.

Sie realisiert – spät aber doch – wie sehr gesellschaftliche Maximen – patriarchal, katholisch, auf den Schein fokussiert, stets in Sorge vor Tratsch – noch immer in ihrem Kopf existieren; weniger im Hinblick auf ihr eigenes Sein. Sondern dass sie diese – völlig unreflektiert – zum Maßstab für die Lebensentscheidungen ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter, der Jus-Studentin Mirella, erheben will, für deren höchstes Gut sie die unbefleckte (Familien-)Ehre hält. Diese Haltung kommentiert Mirella höchstens ironisch: Sie habe nicht vor, das Leben ihrer Mutter zu wiederholen, sich aufzureiben, um irgendwie eine Familie über die Runden zu bringen, ohne Freiräume für sich, stets in Sorge, die Concierge könne dies oder das denken, eine Mitfahrgelegenheit im Regen könnte ihr nachteilig ausgelegt werden … Ganz zu schweigen davon, dass sie die Gesellschaft über ihre Beziehungen entscheiden lasse. Sie liebe einen Mann, Anwalt sei er, und dass er verheiratet war und von seiner Frau getrennt lebt, sei ihr bedeutungslos. Wichtiger wäre, dass sie seine Ideale teile und er die ihren, dass sie sich miteinander auch politisch engagieren wollen, etwas bewirken – für diese nach wie vor starre Gesellschaft, für dieses Land in panischer Angst vor einem dritten Weltkrieg, für eine Zukunft.

Schon stecken wir mitten in der Darstellung eines Mutter-Tochter-Konflikts, doch nicht, wie er zu erwarten wäre!

Dass der innere Aufbruch der Mutter gleichfalls zu einer Liebesbeziehung mit einem verheirateten Mann führt, weil dieser sie endlich als menschliches Wesen sieht und nicht als Versorgungsinstanz ›Mama‹, bedingt jedoch keineswegs, dass sie ihre Tochter versteht oder ihr den Weg zu ebnen versucht. Ganz im Gegenteil. Seite um Seite wenden wir in der Hoffnung, dass Valeria endlich den Mut aufbringen möge, auch nach außen zu zeigen, was sich in ihrem Inneren tut, wer sie in Wahrheit ist. Doch jedes Mal wieder zuckt sie zurück, schweigt.

Daraus entwickelt sich ein ungeheures Spannungsfeld in diesem Roman, das bewirkt, dass wir unsere Nachtstunden opfern. Erst nach und nach – die Kriegsangst verdichtet sich, die junge Generation gestaltet dementsprechend und je nach Temperament ihr alltägliches Sein – versteht Valeria (und wir mit ihr), dass sie in Wirklichkeit davon lebt, dass andere sie ausbeuten. Das Begreifen zieht jedoch keine Gegenmaßnahme nach sich, denn was solle sie – in ihrem Alter!, so Valeria – an die dabei entstehende Leerstelle setzen? Und so legt sie, aller Erkenntnisse ungeachtet, die gleichen Fesseln ihrer schwangeren Schwiegertochter an; und empfiehlt ihrer Tochter dennoch den anderen Weg! Ihr, Valeria, bleibe nichts als Scheinheiligkeit, Mirella hingegen solle ihre Zukunft bewusst gestalten. Und Valeria verbrennt das Notizbuch, damit die Schwiegertochter, es niemals finden und ihre Geheimnisse nie verraten könne, denn dieser jungen, auffallend devoten Frau traut sie einzig Niedertracht zu.

Mit dieser – ja: niederschmetternden – Wendung endet der Roman und wirft uns mit seinem Echo, das in uns nachhallt, auf unsere Gedanken zum Thema Arbeit, Care- und Reproduktionsarbeit, Doppelbelastung, Mutterschaft zurück. Und dieser Nachhall, das sei angemerkt, kann Wochen dauern … 

 

Ich hatte mir nichts erwartet, außer ein wenig Unterhaltung während all der Zugstunden, und lernte dabei in der Enkelin des ersten kubanischen Präsidenten Carlos Manuel de Céspedes, der im Jahr 1874 von spanischen Kolonialisten ermordet wurde, eine Literatin kennen, die in ruhigem Ton und mit viel Einfühlungsvermögen weibliches Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts porträtierte. Ich werde mit Sicherheit weitere ihrer Werke lesen, denn diese Literatin sollten wir nicht dem Vergessen überlassen! Daher an dieser Stelle auch noch einige biographische Hinweise: 

Alba de Céspedes wuchs als Tochter des kubanischen Diplomaten Carlos Manuel de Céspedes y Quesada und seiner italienischen Ehefrau in Rom zweisprachig auf. Sie verfasste ihre Werke vor allem auf Italienisch, später, nach ihrem Umzug nach Paris in den frühen 1970er-Jahren auch auf Französisch. Zeit ihres Lebens engagierte sich die Literatin, die gerne unabhängige Frauenfiguren schuf, auch politisch, in den 1930er-Jahren in der Resistenza, in den frühen 1950-er Jahren für Fidel Castro, von dem sie sich jedoch alsbald enttäuscht abwandte.

»Das verbotene Notizbuch«, 1953 auf Italienisch, in deutschsprachiger Übersetzung erstmals 1957 erschienen, liegt nun in einer Neuübersetzung von Verena von Koskull auf, bereit, endlich auch im deutschsprachigen Raum entdeckt und nicht mehr vergessen zu werden: Für mich ist dieser Roman mit Sicherheit das Werk, welches mich in den letzten sechs Monaten am meisten zu berühren verstand, weshalb ich es nicht bloß Töchtern und Müttern, sondern auch Söhnen und Vätern, nicht nur semi-italienischen Familien, sondern auch allen anderen, wärmstens zur Lektüre empfehlen möchte!

 

Céspedes, Alba de: Das verbotene Notizbuch. Berlin: Insel Verlag 2022.