Maria Lazar »Viermal ICH«. Oder: Die Freiheit? Ein ausgemachter Schwindel!

Die sogenannte Freiheit der Frau, nichts als ein aufgelegter Schwindel, so heißt es pointiert in Maria Lazars zweitem Roman »Viermal ICH«, dessen Typoskript sie 1929 verschiedenen Verlagen in der Schweiz sowie in Österreich anbot: erfolglos.

Mag die Ablehnung an der für damalige Verhältnisse sicherlich aufwühlenden Thematik des Romans gelegen haben oder daran, dass man keine jüdische Frau publizieren wollte, die einem mit unangenehmen Wahrheiten kam, es ist jedenfalls Maria Lazars Tochter zu danken, dass sie dieses Manuskript sowie alle weiteren Papiere der grandiosen Wiener Literatin in eine Kiste bannte, deren Verschlossenheit sie befahl, um dennoch diesen Nachlass ihrer eigenen Tochter zu vererben, welche ihn dem Literaturhaus Wien stiftete, sodass Lazars literarische Arbeiten uns erhalten blieben.

In jener Kiste findet sich auch ein Gedicht Lazars, »An meinen unbekannten Leser«, in dem es heißt, wenn eine Leserin, ein Leser sich im geschriebenen Wort wiedererkenne, sich in all dem, was darin gedacht, gesagt, gefühlt, abgebildet finde, dann habe eine Literatin, ein Literat nicht umsonst gelebt. Und wiedererkennen wird man sich in »Viermal ICH«; sei es in der namenlosen Ich-Erzählerin, sei es in einer ihrer drei Freundinnen Grete, Ulla oder Anette. Ihre erzählten Leben gehen uns nahe, auch wenn manche Gegebenheiten mittlerweile der (jüngeren) Vergangenheit angehören.

»Wie es mit Frauen stehe«, das solle im Geschichtsunterricht Thema sein, fordert das erzählende Ich, denn weitaus lohnenswerter als Schlachten, Politik und geografische Lage wäre es, man würde Mädchen beibringen, was sie tun müssen, um einen ›hohen Preis‹ zu haben, auf dass sie nicht in jede Falle tappen:

Die verwegene Anette fliegt aufgrund einer versetzten goldenen Herrenuhr vom Gymnasium und hat daher als Kapital bloß ihr hübsches Gesicht. Zumindest gegenwärtig, denn was später sein wird, wenn ihre schlüpfrigen Chansons in diversen Bars sie nicht mehr begehrenswert für alle Männer machen, daran denkt sie bloß in schlaflosen Stunden, und solche kann sie sich nur selten leisten. Der schönen Grete macht der Selbstmord eines jungen Mannes, den er aus ›Zuneigung‹ zu ihr beging, einen Strich durch die Lebensrechnung. Da ihr ›Marktwert‹ aufgrund des Tratschs ins Bodenlose sank, hat sie dringend zu heiraten – wen auch immer. Danach obliegt es ihr, die Augen davor zu verschließen, dass ihr Ehemann Axel sie bei jeder Schwangerschaft betrügen wird; und dazwischen auch. Um ihr ungelebtes Leben zu ertragen, flieht sie als ewig Kränkelnde in ein Nicht-Sein, Nicht-Fühlen »[…] und lächel[t] dazu«, notiert die Ich-Erzählerin über sie, noch nicht ahnend, wie nahe sie selbst diesem Lebensentwurf kommen wird. Denn das Ich, nach absolviertem Studium als Bibliothekarin tätig, »mit fixem Gehalt, sogar Alterspension«, verliert ihre scheinbar sichere Anstellung, weil sie dem grapschenden Chef an den Kopf wirft, was sie über ihn denkt. Auf ein Einkommen angewiesen, scheitert sie, bevor ihr Leben noch wirklich begonnen hat. Im Gegensatz zu Anette, Tochter einer Friseuse, wirft das Dasein Ulla, der Vierten im Bunde, bereits während der Schulzeit so manchen Knüppel vor die Füße: Als man ihrem Vater, Arzt von Beruf, ein »stille[r] und gütige[r] Vater mit dem sanften Rabbinerbart«, der nie »ein hässliches Wort gesagt« hat, den Prozess wegen 41 illegalen Schwangerschaftsabbrüchen macht, die er vornahm, um Schlimmeres zu verhindern, verliert auch Ulla alles. Sogleich nach der Matura zieht sie nach Berlin, sucht verzweifelt nach Möglichkeiten zu überleben, doch die Verdienstmöglichkeiten sind knapp und für jedes geschenkte Mittagessen wird eine sexuelle Gegenleistung erwartet. Dies ist ihr zu Nahe an der Prostitution, um sie zu erfüllen. Als sie sich sicher wähnt, dass etwas Gras über den Familienskandal gewachsen sei, kehrt sie nach Wien zurück, um trotz allem ihren Lebenstraum umzusetzen und Medizin zu studieren. Es gelingt ihr sogar, eine Anstellung in einem Krankenhaus zu finden. Ulla ist die Einzige in diesem Freundinnen-Quartett, die sich in keinerlei (finanzielle) Abhängigkeit begibt, wohl auch, weil sie den Schwindel um die angebliche Freiheit der Frau erkennt und begreift, dass Wahlrecht und Bildungsmöglichkeit allein keine Gesellschaft zu ändern vermögen. Zumindest nicht in wenigen Jahren. Mittels ihrer akademischen Ausbildung stehen ihr zwar manche Wege offen, doch lähmt Ulla eine emotionale Abhängigkeit: Die unerwiderte Zuneigung zu einem körperlich versehrten Primarius mindert ihre Entschlussfreudigkeit. Oder um es mit den Worten des Ichs zu sagen: »Wir leben ja doch alle von den Männern, jede auf ihre Art. Nur dass Anette sich am wenigsten graust. Sie greift zu […].«

Währenddessen verstrickt sich das Ich in Schuld: Aus Eifersucht ersteht sie einen Pelz, den sie sich in Wahrheit nicht leisten kann, aus Sehnsucht nach Lebensschwung lässt sie sich mit Gretes Mann ein, aus Torheit wird sie von ihm geschwängert, überlebt zwar die Abtreibung, doch verliert sie sich während all dieser Jahre zusehends selbst. Ein innerer Entfremdungsprozess vom jugendlichen Ich mit Hoffnungen, Träumen und Plänen, den Lazar bildlich-real darstellt: In ihrem Spiegelbild taucht eine Fremde auf, kehrt in den Schaufenstern wieder, setzt sich in der Straßenbahn an ihre Seite. Heißt es anfangs noch, dass dem Ich diese Fremde leidtue, wiewohl sie sich gegen solche Empfindungen wehre, ergreift es bald schon Gegenmaßnahmen gegen den Ich-Verlust: Um ersehnte Seins-Gewissheit zu erlangen und festzuhalten, beginnt das Ich ein Tagebuch, worin es sich stets bis zu jenem Punkt schreibt, an dem es sich sicher ist, dass »auch wirklich ich es bin, die da lebt«. Dennoch bekommt der Spiegel im Zimmer des Ichs einen Sprung. Einige Zeit später kann das Ich sich darin nicht mehr sehen, der Spiegel ist leer: Zu oft beging sie Verrat – an Grete, an Anette, an Ulla, an sich selbst.

Als Grete stirbt, bittet Axel das Ich um seine Hand. Sich selbst fremd geworden, willigt sie ein, tauscht verlorenes »fixe[s] Gehalt, sogar Alterspension« gegen »Schlafzimmer, Küche und Telefon«. Die Illusion, es könnte dem Ich in dieser Ehe anders als Grete ergehen, verstört weniger, als die Aussage, dass die Mutter einer Tochter abzutreten habe: Sie hat »ganz still für [s]ich allein im Nebenzimmer zu verschwinden«, heißt es im Roman.

Abtreten – wohin? Denkt man über diese Stelle nach, fällt einem unweigerlich eine relevante Figur, die hier bislang noch nicht thematisiert wurde: Onkel Max, der Bruder des Vaters, ist ein Weltenbummler, der bloß auftaucht, um erneut zu verschwinden. Wohl kaum zufällig erinnert diese Figur an den namenlosen, älteren Mann aus Lazars erstem Roman »Vergiftung«, mit dem die kaum erwachsene Ruth eine Beziehung eingeht. In »Viermal ICH« schleicht sich Onkel Max nachts in das Zimmer der Nichten, verschwindet am nächsten Morgen erneut.

Spätestens an dieser Stelle wird bewusst, dass die Mütter fehlen; als eigenständige Lebewesen kommen sie nicht vor. Sie sind so fremd und gesichtslos wie die Fremde, der sich das Ich Lebensentscheidung um Lebensentscheidung annähert, und der letzte Satz dieses expressionistischen Werks stützt diese Interpretation: Auch »[i]ch werde mich zu beschränken wissen.« – Sagt das Ich über sein Sein, zu dem als Axels Frau werden wird: nicht mehr existent, fremd, ein Wesen mit Funktion. Dafür »Schlafzimmer, Küche und Telefon«. In der Reihenfolge.

Die drohende Auslöschung wird durch die Ausgangslage des Sprechens – den Wunsch, die Zersetzung durch Sprache aufzuhalten – unterstrichen, und der gewählte Erzählton stützt den Eindruck sprunghafter Unruhe: Fahrig, getrieben ist er, ohne jedwede Leichtigkeit, auch da das geschriebene Wort ›Fleisch‹ ist und bleiben soll, es Realität bekommen muss, damit das Ich in seinem Sein den Halt nicht verliert: Sich selbst Wiedererkennen im Notierten, um der tagtäglich erlebten Abhängigkeit von Männern so lange wie möglich zu trotzen, weil einem die Freiheit, das eigene Leben selbst zu bestimmen, als Illusion offenbar wird.

Onkel Max jedenfalls kehrt erst zurück, da die Ich-Erzählerin nach illegal vorgenommener Abtreibung das Bett hütet. Er spricht »mit seiner braunen Stimme, Papas Stimme, so etwas wie ›nicht um sie gekümmert‹«, und findet in dieser Aussage nicht bloß die Zustimmung der Ich-Erzählerin, sie fügt seinen Worten auch eine höchst relevante Ergänzung bei: »Ja, sie hatten sich nicht um mich gekümmert. Und was das Schlimmste war, auch ich hatte mich nicht um mich gekümmert. Onkel Max war der Einzige, der das verstanden hätte. Er wusste ja auch, dass man eine Muschel lieben konnte, eine gewöhnliche Muschel im Sand.«

Ein beunruhigender, höchst lesenswerter Roman einer famosen Literatin, der lange in einem nachhallt!

 

Wer sich über weitere Werke dieser Autorin informieren möchte, wird außerdem hier fündig:

"https://www.marlen-schachinger.com/2019/12/17/weshalb-es-sich-lohnt-maria-lazar-zu-entdecken/"

 

Quelle:

Lazar, Maria: Viermal ICH. Wien: dvb 2023.