Zusammengefasst lautet seine These, dass die Antriebsfeder für all unser Weiter-Weiter-Weiter die Angst vor dem Verlust ist. Hinzu kommt als zweite Motivation, die per se positiv wäre, der Wunsch nach mehr Welterreichbarkeit. Diese illustriert er am Exempel des emotionalen Höhenflugs, den wir damals erlebten, als wir unser erstes Fahrrad erhielten und sich der Radius unserer erreichbaren Welt plötzlich dementsprechend vergrößerte. Sie zeigt sich auch in der Sehnsucht nach einem Stadtleben, zu dem uns das Versprechen des Mehr lockt: Theater, Kino, Museen, Zoo, alles in wenigen Minuten denkbar und möglich, macht man sich erst einmal auf den Weg. Was man alsdann gar nicht so oft tut, wie man zuvor meinte. Das Versprechen der Möglichkeit allein genügt hingegen, um diesen Lebensort zu wählen. Und um – in der Mattigkeit des Arbeitslebens – Druck zu erzeugen: Man sollte doch öfters …
Die Angst vor Weltverlust, die Rosa als eine Grundangst der Moderne interpretiert, verbindet sich mit der Erfahrung der Entfremdung – in unseren Arbeitsprozessen, in einer Entfremdung von der Natur in unseren Städten und durch Wettbewerb als Entfremdung von anderen Menschen; letztlich jedoch vor allem als eine Entfremdung von uns selbst, denn darauf laufen obige Prozesse hinaus:
»Wer sich selbst nicht spürt, kann sich die Welt nicht anverwandeln, und wem die Welt stumm und taub geworden ist, dem kommt auch das Selbstgefühl abhanden.« (S. 28)
Weltenfremdung, so Rosa, schlägt aber rasch in depressive Verstimmungen oder in Aggression um. Nicht Burn-Out sei daher an und für sich das Problem unseres Erwachsenenlebens, sondern das Weltverstummen im Hintergrund dieses Phänomens:
»Unverfügbarkeit, die aus Prozessen der Verfügbarmachung hervorgegangen ist, erzeugt radikale Entfremdung. Das moderne Programm der Weltreichweitenvergrößerung, das die Welt in eine Ansammlung von Aggressionspunkten verwandelt hat, erzeugt daher auf gleich doppelte Weise die Furcht vor dem Weltverstummen und dem Weltverlust: Dort, wo ›alles verfügbar‹ ist, hat uns die Welt nichts mehr zu sagen, dort, wo sie auf neue Weise unverfügbar geworden ist, können wir sie nicht mehr hören, weil sie nicht mehr erreichbar ist.« (S. 130)
Eine Zunahme der Erschöpfung ist vorprogrammiert, rückt die Welt in Distanz und dünkt sie uns zugleich ständig in Reichweite, hätten wir bloß die Kraft, uns aufzuraffen.
›Aggressionsmodus‹, so nennt Rosa es, wenn das Weiter-Schneller-Besser uns bewegt, das Optimieren, Berechnen und Beherrschen unseren Alltag bestimmt, angefangen von Schritten und Kilos und Faltenlosigkeit, ist unvereinbar mit Resonanzfähigkeit. Diese bedarf nämlich des Beziehungsmodus: sich im Inneren berühren lassen – sich ›anrufen‹ lassen, heißt es in der sehr bildlichen Sprache dieses Soziologen. Die Resonanzfähigkeit ist konstituitiv ergebnisoffen; deshalb lässt sich das In-Resonanz-Sein auch nicht vorhersehen, kein Glücksgefühl ist zu programmieren – man denke nur an Weihnachten und die vermeintliche Pflicht, glücklich zu sein, die so viele unglücklich macht, sei es am Hochzeitstag oder Geburtstag, bei Abschlüssen.
Resonanz ist unverfügbar. Wir können es nicht planen, dass etwas in uns geschieht, weil uns ein Sonnenuntergang überrascht oder der Inhalt eines Buches, weil der Ausblick von einem Berg etwas in uns anrührt (und kein Foto wird es anderen vermitteln) oder ein Baum, dessen Blätterdach wir im Spiel mit Licht erleben. Doch wenn wir uns darauf einlassen, ist jener Sonnenuntergang, den wir erleben, keiner von vielen mehr, das Buch, das wir an jenem Winterwochenende im Lehnstuhl sitzend lasen, ein besonderes, der Berggipfel, den wir gegen Mittag erklommen, derjenige, von dem wir rundum schauten und der eine Baum, durch dessen Blätterdach wir das Spiel des Lichts wahrnahmen, anders als alle anderen Bäume. Das aber bedarf vor allem eines: der genommenen Zeit, die nichts will. Auch kein Weiter-Mehr-Schneller im Erleben.
Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2020.