Kunst, das wissen wir alle, verlangt Schweiß und Tränen. Und manchmal auch Blut. Vor allem die Bildende, wenn sie die Schutzhandschuhe verlieh und vergaß, diese zurückzufordern. Da steckt dann schon mal eine Messerklinge in der Hand.
Die will herausgezogen werden.
Hi-de-ho.
Und das zerschnittene Fleisch?
Genäht.
Hi-de-ho.
Und die Zeit?
Fordert Geduld. Für die Surrealität dieser Eigenschaft bin ich übrigens Zeugin.
Singing hi-de-hi-de-hi-de-hi-di-ho – das ist übrigens keine neue Variante zum hinlänglich bekannten Ho-ho-ho des amerikanischen Weihnachtsmanns, sondern ein Zitat von Carole King, heutzutage vermutlich vertrauter in der Version von »Blood, Sweat & Tears«:
»Gonna find me a piece of the sky, Gonna find me some of that old sweet roll, Singing hi-de-hi-de-hi-de-hi-di-ho …«, summte ich über dem hochgereckten Finger in Hülle, schmuddelweiß wanderte ich jeden zweiten Morgen vierzig Minuten hin, schneeweiß während der vierzig Minuten zurück: Fußmarsch durch Winterwelt zum Verbandswechsel, da Radtour wegen Schnee, Eis, Finger und Sturzgefahr ausnahmsweise strikt verboten.
Jedenfalls hatte diese nervige Unpässlichkeit zur Konsequenz, dass ich mich von meinem Garten nicht wie gemeinhin üblich für die langen Tage des Winters gebührend verabschieden konnte: Weder wurde der Brunnen gegen Frost gesichert noch alle Regenfässer geleert (Gefahr des Berstens der alten Weinfässer durch die Ausdehnung des Wassers im Gefrieren zum Eisblock.), die Regenrinne und das Kanalbecken nicht vom Blattwerk gesäubert, die Obstbäume und Kräuter, Rosenstöcke und die allerletzt-überlebende Magnolie (Meine Kaninchen, die gerne mal aus dem riesigen Gehege ausbrachen, liebten die anderen jungen Stämme zu Tode.), sie alle wurden nicht vor dem ersten Frost mit Dung, Laub und Stroh wohlbedankt in die Ruhepause entsandt. Hoffentlich werden sie es mir verzeihen, dass ihre schützenden Mäntelchen nicht vor dem ersten Schnee kamen. Mit Männerhandschuh links über dem chirurgischen Handschuh XL und dem fetten Verband.
Womöglich hatte ich dieses hinkenden Abschieds wegen daher bereits im Dezember Lust auf jene Art der Lektüre, welcher die meisten Gartenfreund*innen erst im März frönen, wenn der Winter nicht und nicht weichen will und sie dennoch bis zur Kalten Sophie geduldig ausharren müssen, möchten sie ihre Jungpflanzen nicht gefährden und sich ihre Rücken, ihre Arme nach genossener Ruheperiode wieder bereits auf Schubkarren, Spaten und Spitzhacke freuen.
Dann aber, liebe Gärtner*innen und Balkon*ieren, im Februar, bevor sie beinahe endet, denkt an den »Observer«, an den Weißen Garten, erinnert euch an Vita Sackville-West und an ihre legendäre Gestaltung von Sissinghurst Castle und greift zu den wunderbaren Gartenkolumnen dieser britischen Bestsellerautorin der frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die bis heute sinnvolle Einblicke in die Pflanzenwelt geben, angereichert mit zahllosen praktischen Tipps insbesondere zum Setzen von Anemonen und Clematis, die einem das Vermehren nahebringen und über die unverschämten Scherze manches Februars (vgl.: S. 95) mit wohlgewählten Worten trösten: Durch ihr Charisma und ihren Humor bestechen Vita Sackville-Wests literarische Gartenkolumnen, und dies nicht nur, wenn sie sich über das »perverse Benehmen mancher Pflanzen« (S. 24) auslässt, ihnen Launenhaftigkeit, störrisches Wesen oder eine tief verwurzelte Abneigung gegen jedwede Veränderung attestiert; ganz zu schweigen von der Gier der Primeln oder den Schlampereien der Nachtkerzen – jedem und jeder mit Gartendaumen, mögen sie nun grün, schmuddelweiß oder tödlich-schwarz sein, fielen sicherlich sogleich weitere Pflanzen ein, deren Eigenheiten recht menschlich anmuten, nicht wahr?
Über die Show-Aurikeln jedenfalls lässt sich bis heute sagen, dass ihre Anmut flink molestiert sei: »Mir gefällt dieses obsolete Wort ›molestieren‹, es bedeutet verletzen, beschädigen, verderben oder auch entstellen und verzerren. Ich bringe gern alte Wörter wieder in Umlauf. Und dieses Wort läßt sich vor allem auf die Show-Aurikel anwenden, die recht ausdauernd ist, aber vor dem Regen geschützt werden muß, der aus ihrem mehlig-weißen Puder sonst ein breiiges Chaos machen würde.« (S. 52)
Damit kein Wirrwarr im Garten entstehe, komme es vor allem auf ein gutes Auge an:
»[…] ich versuche wirklich, alle Arten von Gärten zu berücksichtigen und ganz besonders an die Besitzer nagelneuer Gärten zu denken, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Und in diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß sich auch aus dem kleinsten Garten mit Phantasie etwas machen läßt. Das ist keine Frage der Flächen, sondern eine Frage von Geschmack, Vision, Design, Farbsinn und Anordnung.« (S. 108)
Und manchmal auch eine des Gärtners, der Gärtnerin: Wie grün ist der Daumen und wie viel hat er noch zu lernen, wer steht ihm zur Seite? Und während Vita Sackville-West uns davon erzählt, sie sei bei der Lektüre eines Buches aus dem 18. Jahrhundert vor Neid erblasst, der Untergärtner zum Gärtner und des reichlich vorhandenen Pferdedungs wegen, würde mir ein einziger Gärtnersgehilfe schon genügen, von mir aus sogar stündchenweise, bloß zur örtlich begrenzten Zähmung des Wildwuchses um meinen Arthof, dem ich sonst in hundert Jahren wohl nie Landesmutter werden kann; aber meine Daumen üben ja noch, sie sind bestenfalls zartgrün im Ansatz, zehntes Lehrjahr nebenher.
Mir sagte nicht einmal der Name der Billbergia etwas, von der man gemeinhin üblich als »normale Cottage-Fensterpflanze« spricht, doch ich entscheide, dass das keine Tragödie ist, weil auch Vita Sackville-West diese »[…] noch nie auf einer Cottage-Fensterbank gesehen […]« hat (S. 55). Wie die gute Billbergia aussieht? Schwer zu sagen. Die botanische Deskription – zygomorphe Blüten, Staubblätter am Grund der Blütenhülle befestigt – erzeuge nicht wirklich ein Bild, so Vita:
»Nein, da sage ich doch lieber, daß sie eher aussieht wie der Traum eines verrückten Juweliers denn wie eine Blume, nämlich wie ein unendlich langes Ohrgehänge mit einer phantastischen Farbkombination: hellrosa Stengel und Deckblätter, mit einem zwölf Zentimeter langen Gebammel in Grün, Blau, Rosa und Gelb, etwas, das am Kopfputz einer balinesischen Tänzerin oder an den Ohrläppchen einer Schönheit auf einer persischen Miniatur hängen sollte.« (S. 56)
Ah, nun wissen wir, wovon die Rede ist! Bei meiner Mutter steht sie am Fensterbrett, gibt nur zögerlich den Blick frei für den dahinter liegenden »Ruheplatz für Auge und Seele« in grüner »ungestörte[r] Fläche« (S. 110) – vulgo Rasen. Und wer meint, dass ein Gartenschlauch, der tröpfchenweise entlang seines Körpers nährendes Wasser ausschwitzt, eine Erfindung von zeitgenössischen Bewässerungsunternehmen aus der schwedischen Nähmaschinen-Firma sei, der wird während der Lektüre gleichfalls um eine Erkenntnis reicher: Als sogenannten »Schlangen-Irrigator« nutzte ihn nämlich schon Vita Sackville-West (vgl.: S. 90f), die obendrein bereits vor einhundert Jahren vor einem Missverstehen der Natur als menschlichem Nutzraum eindringlich warnte. Sie erkannte die Gefahr der intensiven Landwirtschaft mit ihrem Einsatz von Unkrautvertilgern und Düngemitteln, beklagte die zunehmende Versiegelung der Bodenflächen und sah darin eine Bedrohung der einheimischen Pflanzenwelten (vgl.: S. 84):
»Was können wir dagegen machen? Wie können wir gegen diese chemische Zerstörung angehen? Ich wünschte, irgendwer, vielleicht ein Leser dieses Artikels, schriebe einen praktischen Leitfaden zur Rettung unserer wilden Blumen, sagte uns, wie wir einer Pflanze es ansehen können, daß ihre Samen reif sind, wie wir einer Zwiebel oder einer Wurzel es anmerken können, daß wir sie im richtigen Moment ausgraben, wie wir überhaupt unsere einheimischen Schätze retten können, die das selektive Unkrautvernichtungsmittel in seiner verwerflichen Effektivität einfach nur für Unkraut hält […]« (S. 86), denn Vita Sackville-West war sich, wohl auch aufgrund ihrer Reisen in andere Erdteile, obendrein der Tatsache bewusst, dass »[…] das Unkraut des einen Landes die Blume des anderen sein kann.« (S. 93) Einzig eine Frage des Blicks und der Zeit. Die bleibe uns aber nur, wenn das Gift – statt Mädesüß, Katzenpfötchen und Wiesenschaumkraut – verschwinde, »[…] sie alle sind unschuldig und können sich gegen den entsetzlichen Erfindungsgeist des Menschen nicht wehren.« (S. 86)
Deshalb zog Vita Sackville-West des Öfteren los, mit Schaufel, Eimer und Gartenhandschuhen bewaffnet, um von solch gefährdeten Standorten Pflanzen in ihren Garten zu retten:
»Ich wußte, daß es richtig war, meine rosa Anemone in meinen Garten zu versetzen. Sie war so zahlreich vertreten, daß sie mir eine Kelle voll von ihren Wurzeln durchaus gönnen konnte. Diese Kelle voller Waldboden erteilte mir dann eine Lehre. Sie war vollgestopft mit wachsenden Dingen, die allesamt ums Überleben kämpften.« (S. 118) Eine potenzielle Eiche lugte aus einer Eichel, junge Brombeersträucher, noch im »Stadium der Unschuld«, was keineswegs bedeutet, dass sie nicht, vertraut man ihnen auch nur einige Wochen, mit einer Invasion drohen, wie jede*r Gärtner*in weiß; und ein erst kleinfinger-hohes Geißblatt – ihr Retten der Anemone bedeutete für sie alle den Tod:
»Wie sollte ich diese moralischen Fragen beantworten? Ich wußte wirklich nur, daß ich diesen Maimorgen in einem mit Glockenblumen gefüllten Wald niemals vergessen würde.« (S. 119)
Gegen Jahresende blätterte ich mich nochmals durch das Buch, studierte im Anhang den Register, betrachtete die Illustrationen von Pierre-Joseph Redouté und ließ meine erwachsenen Kinder die nötigsten Arbeiten erledigen, die einhändig unmöglich waren. Während sie hier und dort an den Mausstellen, wie Vita Sackville-West den Fraßschaden nannte, Blumenzwiebeln nachsetzen, erzählte ich ihnen, dass sich Vita Sackville-West in jenem Jahr, als die Welt eine stets bedrohlicher werdende Fratze zeigte und im Herbst 1939 der Zweite Weltkrieg begann, in ihrer Gartenarbeit vergrub und zwölftausend Blumenzwiebel hoffnungsvoll in die Erde wandern ließ: Sie mögen also über die drei Dutzend nicht stöhnen.
Auch für meinen weiß verbundenen Finger samt braun-grün unzähmbarer Wildnis im Hintergrund hat Vita Sackville-West übrigens einen guten Rat, und der geht so: Ungeduld und Garten vertragen sich nicht. (vgl.: S. 33) Also gucke ich lieber in den so frappierend blauen Dezemberhimmel darüber und summe »Hi-di-ho … Gonna find me a piece of the sky«, und spätestens im Frühling, wenn aus all der Erde wieder Lebermäulchen, Lungenkraut, Krokusse, Narzissen, Primeln, Frühlings-Kuhschellen und Kronen-Anemonen, Tulpen, Iris und Lilien sprießen und der Welt, die um uns ist, ihre stoische Art hoffnungsfroh zeigen, sollten auch wir ihnen dafür danken, dass sie uns jedes Jahr an die Existenz der Zukunft farbenfroh erinnern: Möge 2024 für uns alle ein gutes Jahr werden, eines, in dem sich das (Zeitungs-)Blatt, auf dem allzu viel Bedenkliches steht, wendet!
Quelle:
Sackville-West, Vita: Mein Frühlingsgarten. Übersetzt von Gabriele Haefs. Berlin: Insel Verlag 2019.