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Ian McEwan: Mein parfümierter Roman. Oder: Eine kurze Erzählung mit langem Nachhall

Die Lektüre entwickelt einen erstaunlichen Sog, wiewohl man sich über zwei Drittel der Textlänge keine Gewissheit verschaffen kann, ob man diesen Erzähler überhaupt mag oder ob er einem nicht doch vielleicht widerlich ist. Das ist eine Leistung! Insbesondere wenn man bedenkt, dass sich der Leseeifer im letzten Drittel sogar noch steigert, wiewohl es Klarheit bringt: Der Kerl ist uns ein Grauen.

Dadurch entwickelt er im Grunde genommen keine Fallhöhe. Wir wollen uns nicht mit ihm identifizieren, obgleich die Ingredienzien der Geschichte allesamt dazu einladen: Ein aufsteigender junger Autor stolpert über das Leben – sprich, er hat Frau und Kinder zu versorgen, folglich einen Brotjob als Dozent zu halten, der sein Schreiben behindert. Findet er. Um nicht zu sagen: Der Alltag verunmöglicht es. Offenbar verfügt er bloß überdurchschnittliche Energie und möchte sich außerdem nicht in das langsamere Tempo, das sich durch die Breite seines Lebens und Tuns ergibt, schicken. Womöglich weil er mitansehen muss, wie sein bester Freund, gleichfalls Autor, mit dem er vor Frau und Kinderschar noch über Literatur diskutierte, Karriere macht, ihn eindeutig überholt und dabei auch noch von Presse, Kritik und Leser*innen hofiert wird. Plötzlich sind die Werke, die beide schaffen – der eine langsamer, der andere flinker – kein Thema ihrer Freundschaft mehr. Dafür das komfortable Haus des erfolgreichen Kollegen, in das sich unser Erzähler für einige Wochen zurückziehen darf. Versperrt, das Arbeitszimmer des anderen. Da jedoch die Frau des erfolgreichen Freundes andeutete, ein Roman, soeben erst abgeschlossen, habe den Überflieger in eine Krise gestürzt, er wisse nicht einmal zu sagen, ob dieses Werk etwas tauge und wolle daher während der kommenden Wochen nichts als eigene Erholung, beginnt der Erzähler nach dem Schlüssel zu jenem Arbeitszimmer zu suchen, findet ihn, öffnet die Tür und das Manuskript. Die Lektüre bestätigt, was der Erzähler befürchtet hat: Der Roman ist grandios, ein Meisterwerk.

Statt sich nun jedoch umso mehr eigener Arbeit zu widmen, kopiert er sich den Roman des Freundes, bricht den Aufenthalt unter einem Vorwand ab, verändert zu Hause manche Namen, manche Details und lässt seine eigene Fassung alsdann auf parfümierten Seiten und mit violettem Einband in einem billigen Selfpublishingdruck produzieren. Er sendet das Buch an Hinz und Kunz; und wie zu erwarten, interessiert sich keiner dafür: Man hat ihn ja längst abgeschrieben. Doch just damit hat das von ihm inszenierte Schurkenstück gerechnet. Nun braucht er bloß noch zu warten, bis der erfolgsverwöhnte Freund sein Manuskript bearbeitet hat, sodass es, wiederum einige Monate später, in dessen renommierten Verlag erscheinen kann: Naturgemäß ein fulminanter Erfolg, Jubel, Presse, Kritik, Leser*innen. Nun bedarf es nur noch eines Schrittes: Der Erzähler sendet in aller Ruhe sein parfümiertes Buch anonym an einen »verbitterten, klatschsüchtigen Kritiker des ›Evening Standard‹« mit der Notiz: »Erinnert Sie das nicht an einen höchst erfolgreichen Roman, der letzten Monat erschienen ist?« (S. 37)

Schon taumelt der Freund, stürzt: „Ein wilder Sturm fuhr durch unser beider Leben. Die Story hatte all die richtigen Zutaten.« (S. 37) Und während der eine Autor alles verliert, gewinnt der andere eine Welt. Noch infamer aber wird es, als der Erzähler die Freundschaft aufrechterhält, dem Bestohlenen großmütig alles ›verzeiht‹, während der Bestohlene, der sich noch immer im Straucheln nicht fangen kann, die ganze Zeit darüber grübelt, wie das denn habe geschehen können und dennoch nicht auf den Schlüssel kommt. Ein Detail, in dem der Plot etwas unwahrscheinlich wird, denn schließlich muss er sich doch erinnern, dass er den anderen in sein Haus ließ. Offenbar ist diesem Mann das Infame derartig fremd, dass er sich lieber in die Theorie rettet, es sei deswegen geschehen, weil sie beide seit Jahren die gleichen Bücher gelesen haben, so vieles miteinander erlebt und geteilt hätten, sodass ihre Gedanken und Phantasien regelrecht miteinander verschmolzen wären, weshalb sie am Ende denselben Roman geschrieben hätten. Und der Dieb nickt zu dieser Erklärung, ein wenig reserviert, aber durchaus willens, fünf auch mal gerade sein zu lassen: »[…] nur eine Theorie, […] eine noble Theorie, eine schöne Vorstellung, die die Essenz unserer langen, unverbrüchlichen Freundschaft hochhält. Wir sind wie Brüder.« (S. 43)

Wie schon eingangs angedeutet ist das Erstaunliche an dieser Erzählung, das sie perfekt funktioniert: Sie fesselt, wiewohl man während der Lektüre konstant denkt, dass dies jetzt aber wohl nicht wahr sei, der Erzähler an Boshaftigkeit und Verlogenheit nicht mehr zu überbieten sein könne, der Erzähler einen zornig und in emotionaler Abwehr die Seiten wenden lässt, um danach irritiert das Büchlein zu schließen; und tagelang darüber nachzugrübeln, was diesen massiven Effekt auslöste. Mit Sicherheit nicht die mehrfachen und nervigen Anreden eines fiktiven Lesenden in der Erzählung. Ebenso wenig sprachliche Ausgestaltung, Aufbau, grundsätzliches Konzept – alles gelungen, doch nichts Besonderes. Was mich so nachhaltig beschäftigte, ist meines Erachtens, wirklich nichts als der Ärger darüber, dass dieser Gauner, dieser elende Bastard mit seinen Lügen durchkommt, er sie uns obendrein im aller freundlichsten Ton, völlig entspannt, erzählt, und wir ihm offenbar dafür auch noch applaudieren sollen: Quasi so ist er eben, der Lauf der Welt, keine große Sache. Nur ausgleichende Gerechtigkeit. Ich vermisste ihre erzählerische Schwester! Ihretwegen hätte der Bestohlene zumindest eine winzige Andeutung des Wissens in einer seiner direkten Reden verdient oder ein Sich-Distanzieren danach. Das konnte ich Ian McEwan nicht verzeihen – vielleicht können Sie es ja.

 

PS: Die Reihe der »Minute Books« ist übrigens genial, wunderbar zum Mitnehmen in der Jackentasche, eine herrliche Alternative zum Blick ins Mobiltelephon, mit ausreichend Lesefutter für den Weg von Wien Hütteldorf bis in die Leopoldau.

 

McEwan, Ian: Mein parfümierter Roman. Übersetzt von Matthias Fienbork. O.O.: Diogenes Minute Book 2019.