Neue, die Welt verändernde Entwicklungen ziehen gerne auch Romane nach sich, in denen dieses Novum als Motiv gestaltet wird. Es ist also kaum verwunderlich, dass just in der Literatur der 1890er- bis 1920er-Jahre die Lebens- und Arbeitswelt der Warenhäuser erzählt wird. Zu nennen wären hier so unterschiedliche Werke wie »Das Paradies der Damen« von Émile Zola, »Warenhaus Berlin« von Erich Köhner, »Das Paradies der Frau« von Ola Alsen, »Aufruhr im Warenhaus« von Manfred Georg, »Konfektion« von Werner Türk, »Das große Warenhaus« Sigfried Siwertz sowie zahlreiche Warenhaus-Spielfilme mit eindeutigen Titeln wie »Das Mädel aus dem Warenhaus«, »Die Kleine aus der Konfektion«, »Der Jüngling aus der Konfektion«, »Die Warenhausprinzessin«, »Die kleine Midinette (Erlauschtes aus der Konfektion)«.
Was Maria Gleits Roman »Abteilung Herrenmode«, erschienen im Frühling 1933 im Wiener »Amonest Verlag«, von der Mehrheit der zuvor genannten Warenhausromane unterscheidet, ist einerseits die Gestaltung ihrer zentralen Frauenfigur Lotte Stein als ›Neue Frau‹ und andererseits der Einsatz des Modus einer szenischen Verdichtung an den Höhepunkten emotionaler Handlung, aber zuerst einige Worte zur Story:
Erzählt wird die Geschichte des Berliner Warenhauses A.-G. Schack & Co., in dem die Abteilung Herrenmode seit vielen Jahren schon ein Stiefkind ist. Nach einer Reise des Besitzers in die USA bringt dieser eine Idee aus Übersee mit wie jene Abteilung umzugestalten wäre, sodass sie zum Magneten für Kaufwillige und Neugierige werden müsste. Die Verkäuferinnen, alle jung, hübsch, vorzugsweise offiziell ungebunden, sollen eine eigene Uniform erhalten, durch die sie zu einem »erfreuliche[n], herzerquickende[n] Anblick« (S. 19) werden. Ihr Auftritt soll geschult werden, und eine Stylistin berät sie in Fragen der Frisur und des Make-ups. Hierdurch will man dem männlichen Kaufinteressierten signalisieren, dass er nicht nur den Hemdkragen oder die Krawatte erstehen könne, sondern auch die Verkäuferin. Ein Gedanke, der insbesondere dem Personalchef des Warenhauses nicht besonders fremd ist: Völlig ungeniert profitiert er von der grassierenden Angst der Angestellten vor Arbeitslosigkeit, indem er grapscht, tätschelt, flirtet, sich verabredet oder Nächte einfordert.
Auch für den Chef des Warenhauses geht die Rechnung auf: Das männliche Publikum steht Schlange, zumindest in den ersten Monaten. Die Novität ist Stadtgespräch, und sogar andere Kaufhäuser wollen seine Idee zur Steigerung des Umsatzes übernehmen.
Während der Personalchef eine der jüngsten Verkäuferinnen, die schüchterne Annemie, derartig bedrängt, dass sie mit ihm schläft, versucht die toughe Lotte ihr Leben zu gestalten, sie will – allen Widrigkeiten ihrer Zeit zum Trotz – aus ihren kleinen Verhältnissen aufsteigen, und sie weiß, dass sie sich dabei einzig auf sich selbst verlassen kann. Keineswegs auf die Männer in ihrer Umgebung: »Sie würde keiner aus dem Dreck ziehen, wenn es darauf ankäme. Jeder wollte den doppelten Wert dessen, was er gab.« (S. 230)
Lottes Zukunftsplan beruht einerseits auf Bildung, qualitätsvoller Arbeit, einem wachen Auge, dem keine Möglichkeit entgeht, einem kühlen Kopf, der Chancen abwiegt, um sich nicht zu verkaufen. Im Gegensatz zur entjungferten Annemie, die auch gleich beim ersten Mal schwanger wird, gelingt Lottes Plan – obgleich sie sich verliebt und daran beinahe scheitert.
Lotte lernt jedoch, sich nicht nur für sich selbst starkzumachen. Sie nimmt auch Annemies Leben in die Hand, rächt sich für die Kollegin am übergriffigen Personalchef und nimmt Walther ebenso wie Annemies Partner Kurt unter ihre Fittiche, um für alle in diesem Quartett eine Zukunft zu etablieren. Dass sie auf diesem Weg dennoch manchmal menschlich strauchelt, stärkt eher ihr Profil als dreidimensionale Figur, minimiert aber nicht ihren Status als Heldin des Romans.
Auf die ethische Fragwürdigkeit der Umstrukturierung im Warenhaus und auf die moralische Problematik – Heiligt der Kapitalismus alle Mittel? – geht der Roman nur an einer einzigen Stelle dezent in einem Satz ein, der als Resultat der Reflexionen Lottes präsentiert wird:
»Die Ursache dieses merkwürdigen Zustandes, dass man sich nicht mehr mit der Qualität der Ware begnügt, wenn man verkaufen will, sondern, jawohl, auf die niedrigsten Instinkte der Menschen spekuliert – die Ursache liegt wo anders.« (S. 296)
»Abteilung Herrenmode« ist neben seiner Kritik an der Warenwelt, die vor Menschen nicht haltmacht, auch ein Roman über das neue Frauenbild der 1920er-Jahre: Durch Walter und Kurt wird die Reaktion der Männer auf ihre selbstverständliche Existenz thematisiert und die Frage aufgeworfen, wie Männer ihr dadurch sprießendes Misstrauen und ihre wuchernde Eifersucht bewältigen können, welche Entwicklungsschritte sie setzen müssen, um mit solch toughen Mädels, die ihr Leben in die Hand nehmen, mitzuhalten. Oder wie Lotte es ihnen auf den Kopf zusagt: Die Frau mit den Lebenszielen ›Ehe‹ und ›Stütze für die Karriere des Mannes‹ sei ein für alle Mal Vergangenheit.
Für Literat*innen interessant ist die bereits erwähnte Objekt-Technik, mit der Maria Gleit besonders emotionale Szenen gestaltet: Vorgänge im Inneren werden durch Gegenstände in der Umgebung erzählt, der Wechsel des Fokus wird dabei teilweise vollständig vollzogen, sodass die erzählende Figur (Personale) gänzlich ausgeblendet wird. Maria Gleit nutzt Orchideen in Vasen dazu, um die entstehende Distanz zum eigenen Körper und die Leere nach einem sexuellen Akt darzustellen, den der Partner empathiefrei beendet. Vase, Wasser, Orchidee werden Spiegel eines Geschehens, das sie nicht erzählt (Vergleiche.: S. 257).
In etwas anderer Form findet sich diese Gestaltungstechnik auch in der Darstellung einer Annäherung wieder, die hoffnungsfroh, doch unter falschen Vorzeichen beginnt und abrupt endet: Der von Lotte ersehnte Fabrikantensohn hat für sie zum Ball das Kostüm eines schwarzen Pagen besorgt, während er sich selbst dasjenige eines Granden wählte. Die Szenen Autofahrt, Kostümball, Autofahrt werden durchgängig in der Verkleidung dargestellt. So sitzt der schwarze Page am Beifahrersitz, blickt aus dem Fenster usw. Der Effekt, der hierdurch entsteht, ist neben der Distanzierung auch eine Akzentuierung – so wie sich zeitgleich die Sehnsüchte Lottes als kostümierte Traumgebilde entpuppen, die an der Realität des Grande scheitern, so wird auch die Verkleidung an- und wieder abgelegt.
Dass der Roman »Abteilung Herrenmode« zur Zeit seines Erscheinens nicht das Echo erlebte, welches ihm gebührt hätte, mag seine Ursache auch in dem Faktum haben, dass die weiblichen Figuren dem Frauenbild der Nationalsozialist*innen in keiner Weise entsprachen. Obendrein war Maria Gleit, die mit dem sozialdemokratischen Juden Walther Victor liiert war, die Tochter eines gewerkschaftlich aktiven Arbeiters, die der Sozialdemokratie nahestand. Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Romans dominierte Flucht das Leben des Paares: über den Bodensee in die Schweiz, weiter nach Luxemburg und New York. Dort gelang es Maria Gleit, mehrere Kinderbücher erfolgreich zu publizieren, teilweise mit antifaschistischen Sujets. Nach dem Weltkrieg entschloss sich das Paar zur Scheidung. Maria Gleit heiratete einen Kaufmann aus Zürich und lebte fortan mit ihm in der Schweiz, wo sie sich fürderhin vollkommen in die traditionelle Rolle der Hausfrau, Ehegattin und Mutter einfügte. Warum? Eine Ursache mag – wie im Nachwort von Vojin Saša Vukadinović angedeutet – in der konservativen Welt der Schweiz liegen. Mir persönlich scheint aber außerdem ein Zusammenhang zu den prägenden Erlebnissen während der Kriegsjahre zu bestehen: Man kann am existenziellen Lebenskampf auch derartig müde werden, dass alle Inspiration versiegt und schon ein neuer Tag an und für sich ausreichend Herausforderung darstellt. Doch das ist vorerst eine Vermutung.
Noch eine Anmerkung zur Herausgabe dieses lesenswerten Romanes: Wie in den Ausgaben des Verlags »das vergessene buch« üblich, findet sich ein umfangreicher Anhang, der die Hintergründe der Zeit und der Biographie beleuchtet, dieses Mal aus zwei Blickwinkeln, einem literarhistorischen und einem familiären. Beide liefern zahlreiche gedankliche Anregungen. Möge der Roman Maria Gleits wenigstens 90 Jahre nach seinem Erscheinen seine Leser*innen finden!