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Marianne Fritz »Die Schwerkraft der Verhältnisse«. Oder: Man findet, was man sucht.

Warnschilder wie »Vorsicht schwer!«, »Beunruhigend!«, »Wortreich: Könnte überfordern!« stehen gerne in der literarischen Landschaft herum, oftmals grundlos, einzig, weil irgendjemand sich irgendwann dahingehend geäußert hat. Vielleicht da er oder sie selbst nichts verstand, es ihm oder ihr an Empathie für dieses Werk fehlte oder warum auch immer, Tatsache ist, es hat stets den gleichen Effekt: Jene Autorin – seltener: jener Autor – wird gemieden, weil dieser Nimbus eben keineswegs zu einer Auseinandersetzung ermutigt. Leisten wir ihm dennoch Folge, werden wir nie wissen, ob nicht just jener Autor, jene Autorin für uns die große Entdeckung gewesen wäre.

 

So geht es solch wunderbaren Werken wie »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, so geht es dem »Mann ohne Eigenschaften«, vor »Ulysses« steht ein ganzer Schilderwald, ebenso beim Eintritt zum »Buch der Unruhe«, von Else Lasker-Schüler spricht man lieber, als sie zu lesen, und bei Gertrude Stein schweigt man betreten, nachdem der Spott, den man gewohnheitsgemäß aus dem Hut zog, nicht mehr ankam.

Räumen wir sie doch beiseite, all diese Warnungen und Etiketten, und machen wir lieber Mut, selbstbewusst den einen oder die andere zu entdecken: Lektüre darf dabei gerne auch ein Versuch sein, kann sich seitenweise herantasten oder portionieren, wesentlicher ist: zu beginnen!

Eine, mit der gut hierbei anzufangen ist, könnte Marianne Fritz sein, denn ihre »Schwerkraft der Verhältnisse« ist ein Roman, ausgezeichnet dazu geeignet, einen Fritz-Fan in einem Lesenden keimen zu lassen.

 

Keine Angst vor dem ersten Satz – so sperrig geht nichts weiter, und setzen Sie deshalb bloß nicht die Prämisse, Sie müssten an diesem Roman scheitern, sonst könnte sich Ihre Prophezeiung bereits auf der ersten Buchseite erfüllen. Nicht nur, weil sie das immer gerne tun, sondern auch da manches Werk als erstes zu einem sagt: Ich möchte, dass du dir etwas Zeit für mich nimmst.

Zu Recht. Schließlich wurde es ja auch nicht innert zweier oder dreier Stunden geschrieben, oder? Und Resonanz braucht das langsame Erleben.

Schließlich ist Wilhelmine nicht Berta, und ich bin versucht zu schreiben: allen guten Geistern sei Dank! – Damit beginnt diese Erzählung in Andeutungen, welche sich Szene um Szene entschlüsseln. Man benötigt folglich bloß ein wenig Geduld und das Wissen, dass einem alles Relevante zur rechten Zeit gesagt werden wird: Zur rechten Zeit in den Augen der Autorin, und diese schert sich – ebenfalls zu Recht – keinen Deut um ungeduldige Leser*innen.

Der Inhalt selbst ist flink erzählt; ich bin versucht zu schreiben, er sei sogar sekundär, denn ohne das Klangerlebnis, welches durch die Art des Erzählens entsteht, ist diese Story eher gewöhnlich:

Berta, eine junge Frau, beinahe noch ein Kind, liebt den Donauwalzer und wird, weil sie bei jener Musik die Schwerkraft der Verhältnisse vergisst und hingebungsvoll tanzt, vom Nachbarn entjungfert – irgendwann gegen Mitte der 1940er-Jahre, ein miserabler Zeitpunkt, und es kommt, wie es wohl kommen muss: Sie ist schwanger, und der Musiklehrer Rudolf stirbt im Krieg. Wilhelm, sein Kamerad im Schützengraben, führt den Auftrag des Sterbenden aus: Er solle sich um Berta kümmern und sie heiraten. Doch davon versteht er nicht wirklich etwas. Hängt er ihr eben die Blechmadonna an einer Kette um den Hals. Zu mehr an Hinwendung oder Zuneigung langt es nicht. Kriegsgeschädigt auch er.

Rudolfs Sohn, eine Frühgeburt, wohl ausgelöst durch den Schock jener Nachricht, wird zeitlebens etwas schwächer sein als andere Kinder, weshalb er bald schon als Sonderschüler gebrandmarkt seine Schultasche hinter sich herzieht. Wie der Bruder so auch die Schwester, offenbar denkt sich die Lehrerin dies, und Berta, welche seit der Nachricht von Rudolfs Tod keinem Menschen und keiner Aussage etwas entgegenzusetzen wagt, ist überzeugt, dafür verantwortlich zu sein. Das Einzige, was sie ihren Kindern Gutes tun könne, sei, ihnen Erlösung zu offerieren, damit sie nicht – wie die Mutter – in Ewigkeit unter den Hänseleien aller anderen rundum, ob Kind, ob Erwachsene, zu leiden haben werden. Oder diese verbalen Tritte an einen minimal Schwächeren weitergeben, damit sie einmal nicht die Verachteten, Verlachten und Getretenen sind. Deshalb wird Berta beide Kinder töten und sich danach das Messer in die Brust rammen, zielgerichtet: links; nur – warum auch immer – ihr sitzt das Herz am rechten Fleck, weshalb man sie – die Überlebende einer bloßen Fleischwunde – in die Psychiatrie einweist.

Und Wilhelmine, Bertas Freundin, die der Neid seit Jahrzehnten antreibt, heiratet Wilhelm, der an ihrer Seite vom beruflichen Geh-her-da eines Chauffeurs auch zum privaten Geh-her-da wird.

Kaum wissen wir das – in etwa bei der Hälfte der Seitenanzahl –, sind wir auch an jenem Punkt der Erzählung angelangt, an dem wir begreifen, wie grauenhaft, bösartig und hinterfotzig, wie infam und feige die Menschen in Bertas Umgebung agieren: Darauf liegt das Augenmerk Marianne Fritz’. Nicht auf dem Kindsmord an und für sich!

Es ist das Arrangement des Erzählinhalts, das aus dieser Story einen fantastischen Plot wirkt. Ein Beispiel: Auf die Erzählung einer Bootsfahrt, bei der die Nichtschwimmerin Berta den Sohn rettet, der über Bord geht, während Wilhelm, der Schwimmer, im Boot sitzen bleibt und ins Wasser starrt, folgt der Spott der Kinder über die unfähige Mutter: Kein Wunder, sie sei ja – wie der Sohn – an einem 13. geboren.

Keine Seite später wird der Schmerz über die Gehässigkeiten Thema, die der Sonderschüler tagtäglich hinunterschlucken muss, und wir erleben, wie sie sich in der jüngeren Tochter nun wiederholen: Sieht sie nicht wahrhaftig wie die Madonna auf dem Gemälde über dem Bett aus, nun, da sie schläft, denkt Berta wenige Zeilen nach jenem heftigen und anklagenden Dialog.

Durch Wiederholungen wird die Darstellung der Tat, die selbst bloß in wenigen Sätzen thematisiert wird, vierzig Seiten lang im Inneren der Protagonistin vorbereitet: Die Ermordung der Kinder als medeascher Akt einer Mutter, welche die ihr Schutzbefohlenen nicht anders zu verteidigen weiß, wird keine Leserin und keinen Leser alsdann mehr überraschen, er berührt uns und wird – bei aller innewohnenden Grausamkeit – frappierenderweise beinahe nachvollziehbar.

Im Gegensatz dazu steht die überbordende Boshaftigkeit der Figur der Wilhelmine, die aus Neid von Anfang an intrigiert, ihre Macht spielen lässt und ihr zerstörerisches Werk inszeniert, sei es gegenüber Berta, sei es auf dem Rücken des Sohnes. Ihr ist jedes Mittel recht, um die ›Freundin‹ zu zerstören.

Ein großartiger Roman über die Todsünde des Neids, der einen mit Sicherheit zu weiteren Arbeiten dieser Literatin verführen wird, hat man erst einmal das alberne Etikett »Schwierig« vergessen, denn »Schwierig« ist hier gar nichts, weder die Sprache noch der erzählerische Umgang mit Zeit, lässt man sich erst einmal innerlich auf die Auflösung der Chronologie ein – jede durchschnittliche TV-Serie ist dabei herausfordernder, glauben Sie es mir ruhig. »Schwierig« ist bei Fritz’ einzig die Frage, ob wir an Bertas Stelle und mit ihren Möglichkeiten einen anderen Ausweg gefunden hätten. Diese Selbstbefragung aber hallt noch Wochen nach der Lektüre in einem nach.