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Colette: Erwachende Herzen. Oder: Der Übersetzungstitel ist ein Schmarren. Ohne Kaiser und Rosinen.

 1922 hatte dieser Fortsetzungsroman in »Le Matin« wegen entrüsteter Reaktionen abgebrochen zu werden. Das Thema – zwei Familien auf Sommerurlaub, zwei Jugendliche mit 15 beziehungsweise 16 Jahren, die beide  davon ausgehen, dass sie einander später heiraten werden – erfährt seine Einzigartigkeit darin, dass die sexuelle Initiation des Jungen – Phil genannt – durch eine etwas ältere Frau erzählt wird. Für heutige Leser*innen: in Andeutungen und mit klugen Leerstellen, damals jedoch waren diese Passagen offenbar mit zu wenig kaschierenden Blümchen versehen. Doch nicht nur dieses Erzählelement schockierte, sondern auch Colettes Darstellung der jeweiligen Rollenbilder, der Eifersucht und des hierdurch evozierten finalen sexuellen Akts der beiden Jugendlichen.

Dennoch erschien der Roman 1923 in Buchform – und schrieb auch deswegen Literaturgeschichte, da Colette hier erstmals einzig ihren Vornamen zur Kennzeichnung ihrer Autorinnenschaft nutzte, ohne weitere Vor- oder Nachnamen hinzuzufügen.

Lautete der erste Übersetzungstitel noch nach den beiden Hauptfiguren »Phil und Vinca«  (übersetzt von Lissy Radermacher, G. Kiepenheuer, Potsdam 1927), wurde 1952 in der Übersetzung von Stefanie Neumann für den Wiener Zsolnay Verlag der grauenhaft kitschige Titel »Erwachende Herzen« daraus.

Alle, die zumindest radebrechend Französisch palavern können, seien an dieser Stelle jedoch daran erinnert, dass der ursprüngliche Titel »Le blé en herbe« Teil der Redewendung »manger son blé en herbe« ist, was im figurativen Sinn bedeutet, sein Korn verzehren, ehe es reif wurde. Diese Titelfrage ist deswegen nicht irrelevant, da der ursprüngliche Titel dezent und implizit auf mehrere Aspekte der Handlung verwies, die weder in »Phil und Vinca« noch in »Erwachende Herzen« anklingen können: der Plan einer späteren Hochzeit als bereits bekanntes Faktum aller Figuren, die sexuelle Initiation durch eine Außenstehende, die Phil überrascht und die zugleich ein Ereignis darstellt, vor dessen Konsequenzen Madame Dalleray flieht, was in weiterer Folge zu einem ersten Akt zwischen Phil und Vinca führt, von dem Vinca aufsteht und fröhlich singt – ja, sie agiert, zumindest in Phils Augen, als hätte sich nichts in ihrem Leben geändert, als bliebe alles wie gewohnt, was er aufgrund seiner Begegnung mit Madame Dalleray gar nicht fassen kann. Doch weder Phil noch Vinca denken auch nur eine Sekunde lang an eine mögliche Schwangerschaft. Einzig die Erzählinstanz im Hintergrund deutet an, es werde dazu kommen, dass Vinca »verdammt und fassungslos weinend« (S. 320) an diesem Fenster stehen werde, kaum seien zwei Wochen um. Stattdessen beschäftigt sich Phil ausgiebig damit, die beiden Frauen zu vergleichen:

»O du, die ich Gebieterin nannte, wie kommt es, daß du mir manchmal tiefer verwundert und ergriffen schienst als dieses unkundige, unbefangene Kind [Vinca]? Nun bist du fort und hast mir nicht alles gesagt. Vielleicht lag dir nichts an mir, und du warst nur die stolze Spenderin. Dann würdest du dich – sähest du mich heute - zum erstenmal meiner erbarmen … […] Er barg sein Gesicht in den aufgestützten Arm und sann über die eigene Unwesentlichkeit und über seinen Sturz und über seine Harmlosigkeit … Weder Held noch Henker … ein wenig Schmerz, ein wenig Lust … Mehr hab’ ich ihr nicht gegeben … mehr nicht.« (S. 320)

Damit endet der Roman, den ich euch für diese letzten Tage eines auslaufenden Sommers unbedingt zur Lektüre empfehlen möchte: Grandios, die Ausgestaltung komplexer psychologischer Verhaltensmuster in verdichteten Szenen, famos die Atmosphäre von Sommertagen am Meer, die aus den Sätzen aufsteigt, sich abkühlt und danach erneut erhitzt, aufschlussreich, die Darstellung der Rollenbilder; und hinter Unterwürfigkeit, Schmollen und Liebedienerei kann man – dezent, aber dennoch – Colettes gehobene Augenbraue, den spöttische Zug um ihren Mundwinkel in den andeutenden Erzählkommentaren bemerken.

Implizit thematisiert Colette außerdem, wie klar diesen beiden Jugendlichen die Rollenerwartungen sind, die sie weiblich/männlich zu erfüllen haben werden und deren Nuancierungen von unterwürfig zu despotisch, von leidend und spitz bis zu abgelenkt sie bereits jetzt, als Teenager, beherrschen. Und während die beiden viel zu früh dem Haus ihrer Kindheit fliehen (S. 216) und glauben, ihre Eltern hätten niemals begehrt, sicherlich auch nie geliebt – auf jeden Fall nicht in und neben Betten – (S. 170), erinnern wir uns lesend an unsere eigenen ersten Male …

 

Colette: Le Blé en Herbe. Paris: Flammarion 2015.

Erwachende Herzen. Ohne Angabe der Übersetzerin. Wien: Paul Zsolnay Verlag 1980.