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Leonardo Paduras »Anständige Leute«. Oder: Wie sich das Schreiben eines Autors über die Jahre veränderte. Ein Einblick ohne Anspruch auf Vollständigkeiten.

Wer das Havanna Quartett noch nicht kennt, dem sei dringend selbiges zur Lektüre empfohlen – auch Winternächte, deren Kälte man durch imaginierte tropische Hitze fliehen will, sind bestens für solchen Lesegenuss geeignet.

Jene vier aufeinander aufbauenden Kriminalromane erzählen vom kubanischen Alltag und den Herausforderungen einer Gesellschaft, beginnend mit 1989 in »Ein perfektes Leben«, in einem Winter, in dem im Grunde genommen eben nichts perfekt ist, außer die Ironie des Titels (Gleiches gilt übrigens für »Anständige Leute« …). Wir lernen den Polizisten Mario Conde kennen und schätzen, einen der – trotz aller zerstörter Illusionen und Träume seiner Jugend – versucht, als anständiger Mensch weiterzuleben.

Wie in so vielen Krimi-Serien nutzt auch Padura in den aufeinanderfolgenden Romanen die private Geschichte im Hintergrund als bindendes Glied und erzählt uns, Band um Band, von Marios Liebe zu Tamara, von ihrer Annäherung und einer beginnenden Liaison, die dennoch stets Raum lässt, von all den Freunden und Freundinnen rund um das Paar, mögen diese nun auf Kuba oder im Ausland leben; doch Padura wäre nicht, wer er ist, würde ihm das bereits genügen: Sein Weitererzählen geht obendrein in die Tiefe, es widmet sich gesellschaftlichen Themen und Entwicklungen, die mit der vordergründigen Kriminalhandlung und der Suche nach dem Mörder verwoben sind – oft so sehr, dass diese in den Hintergrund treten (Kein Wunder, wenn also Paduras gesellschaftskritische Romane, die keine Krimis sind, zu seinen besten gehören!). Auch das finden wir z. B. Bei Mankell. Aber Padura geht nochmals weiter: Seine Kriminalromane sind außerdem ungemein vergnügliche literarische Spaziergänge, nie vordergründig, aber wer in lateinamerikanischer Literatur im Allgemeinen etwas bewandert ist (Oder gerne Spuren folgt …), der wird an den Zitaten und ironischen Verweisen sein größtes Vergnügen haben. Auch da Paduras Spott dabei vor allem sich selbst gilt – seinen ehemaligen literarischen Erwartungen und Träumereien. Dies macht Conde, dem er sie einschreibt, nicht bloß ungemein sympathisch, es erhöht auch das Lesevergnügen werden wir Zeuge, wie hier die Figur (Conde) mit dem Autor (Padura) in der Erzählhaltung verschwimmt, denn auch Mario Conde, der immer schon Autor werden wollte, hegt ewige Pläne für irgendwann und will danach tun, was er immer schon wollte: Schreiben. Nur die Zeilen am Papier, die lassen auf sich warten. Nicht jedoch die Ausreden. 

Auch literarische Kolleg*innen in persona kehren in Paduras Werk als Figuren wieder; er setzt denjenigen ein Denkmal, deren Existenz die kubanische Politik und die Engstirnigkeit der Menschen vernichtete und zum Schweigen verdammte. Trotz aller Düsternis der Verhältnisse, die sie thematisieren, sind seine Havanna-Romane jedoch von einem beinahe zärtlichen Humor geprägt, der insbesondere im Kontext des literarischen Spiels zum Tragen kommt und der insbesondere die wiederholte Lektüre zum Genuss werden lässt.

In »Anständige Leute« nun kehrt Mario Conde wieder, doch arbeitet er mittlerweile nicht mehr als Polizist, auch die Tätigkeit als Antiquar hat er mehr oder minder aufgegeben. Nur dem Schreiben ist er näher als je zuvor gekommen: Er tut es nämlich – zum ersten Mal, glaube ich. Zumindest wenn Schreiben mehr meint als das Anfertigen einer Skizze, einer Miniatur, das Verfassen einer Kurzgeschichte. Ein historischer Roman über ein gegenwärtiges Thema soll es werden – die Prostitution und die Frage, wie man mitten darin ›anständig‹ bleiben könne, nicht unbedingt nach gängigen Begriffen der Moral, sondern eher nach denjenigen einer inneren Ethik.

Im Gegensatz zu Mario Condes Freunden bleibt seine Partnerin Tamara in diesem Band jedoch auffallend im Hintergrund. Wir erfahren einzig, dass sie in wenigen Tagen nach Italien fliegen wird, um dort ihre Verwandten wiederzusehen – Rückkehr unsicher. Dafür rückt das Unrecht stärker in den Fokus:

Um finanziell zu überleben, nutzt Mario Conde seine Beobachtungsgabe und sein Gespür für kriminelle Aktivitäten und sitzt daher allabendlich bei einem fingierten Glas ›Rum‹ im Lokal eines Freundes und passt auf dessen feiernde Kundinnen und Kunden auf: Weder sollen in jener Bar Drogen konsumiert werden – was auf Kuba die Schließung des Lokals oder Schlimmeres zur Konsequenz hätte –, noch soll das kostbare Mobiliar bei einer Schlägerei zu Bruch gehen, was Condes Kumpel gleichfalls die Konzession kosten könnte. Eine Arbeit des Beobachtens, des Wartens, die wohl auch in Condes Erzählen aus Sicht eines jungen Polizisten einfließt, der vom Land kam und im Gefolge des einflussreichsten Zuhälters (mit entschiedenen politischen Ambitionen!) der Stadt ermittelt und trotzdem noch immer anständig bleiben möchte – ein Balanceakt auf dem Hochseil, bei dem er stürzen muss.

Aber auch Mario Conde selbst ermittelt: An der Seite seines ehemaligen Partners soll er – als Privatmensch nun – seine berühmte Nase für kriminelle Machenschaften in die kubanische Gesellschaft stecken, denn jemand hat eines der größten Arschlöcher (Verzeihung, aber das subsumiert diese sadistische Figur am treffendsten!) der Insel um die Ecke gebracht; und er wurde obendrein postum kastriert. Die Haushälterin meldet der Polizei, dass ihr Arbeitgeber in eigenem Blut am Boden liegt und zahlreiche Gemälde an den Wänden fehlen. Diese Kunstwerke hat der Ermordete jedoch keineswegs rechtmäßig erworben, sondern vielmehr in boshaften Machtspielen ergaunert. Die Leben, die er dabei zerstörte, könnten allein ein Buch füllen. Doch dazu hat Conde keine Zeit, denn bald wird zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein amerikanischer Präsidenten (Obama) die Insel für einen Dialog besuchen  – Und das erste Rolling-Stones-Konzert der Geschichte wird Havanna verändern! –, folglich hat dieser Mord flink gelöst zu werden.

Erinnern wir uns an dieser Stelle nochmals an den jungen Polizisten aus Condes Manuskript, der unbedingt anständig bleiben möchte, ohne zu wissen, was genau dies heißen soll, und dem daher seine welterfahrenere Frau manch unangenehme Wahrheit mitzuteilen hat: Kein Mensch kenne nur ein Gesicht, und es gelte deshalb stets zu prüfen, wie sich jemand anderen Menschen gegenüber verhält, denn dies sage eher aus, wozu jemand – auch in der Enge – fähig sei, es spreche eine deutlichere Wahrheit aus als alle Freundlichkeiten, die einem jemand – vielleicht aus bloßer Laune – erweise. »Oder glaubst du wirklich immer noch, er war dein Freund, weil er so viel von dir gehalten hat? Siehst du nicht, dass er dich ausgenutzt hat? Meinst du wirklich, an seiner Seite hättest du es weit bringen und Dinge verändern können?« (S. 358) Mit diesen Fragen verabschiedet sich der Roman von uns: Wir Lesende werden auf uns selbst zurückgeworfen – bei diesem Mario-Conde-Roman mehr als bei allen andern zuvor: Und es ist unsere Aufgabe nun, uns Gedanken zu machen, wer denn hier anständig war oder ist; und wer nicht. Ein wahrhaft lesenswerter Roman, der weit über gängiges Krimi-Fastfood hinausgeht!

 

Padura, Leonardo: Anständige Leute. Zürich: Unionsverlag 2024.

 

Buchcover – Gestaltung: Peter Löffelholz, unter Verwendung eines Motivs von Werner Pawlok