
›Überempfindlichkeiten des Nervensystems‹ attestierte man ihm als 23-jährigen Mann und schrieb ihn untauglich für jedweden bürgerlichen Beruf. Dafür saß er als bunter Hund (im wahrsten Sinn des Wortes vom Hemd über den Schlips) im Kaffeehaus und palaverte. Er verabscheute Schuhe, waren sie keine Sandalen, und er etablierte sich auch sonst als gar sonderbarer Kauz. Oder mehr als bloß ein Kauz. Denn nicht immer waren seine Vorlieben so harmlos wie diejenige für bunte englische Stoffe. Zum Beispiel sein Hang zu auffallend jungen Mädchen, gerne auch als Wand(be)spannungsmotiv. Das ist nicht nur erwähnens-, sondern auch diskussionswürdig. Leider nicht für den Wallstein Verlag. Da fehlt in der Neuauflage der Altenbergschen Publikation »Neues Altes« jedes Wort dazu. Schade. Es hätte dem Werk nicht geschadet, hätte man sich zur Offenheit und zur Anregung eines Diskurses entschieden. Ganz im Gegenteil.
Durch die nicht-existente Thematisierung wird einem jedoch die Rezension schwer, und es stellt sich die Frage, können wir diese Publikation, die uns Facetten eines Werks erneut zugänglich macht und somit einen wertvollen Beitrag zu unserer Kulturgeschichte leistet, dennoch würdigen, ist es uns möglich, auf den brillanten Wortwitz dieses Autors trotz allem hinzuweisen und die Lektüre seiner Arbeit trotzdem wertzuschätzen, obgleich er als Mensch höchst fragwürdig agierte?
Eine schwierige Frage, an der ändert es auch nichts, dass er uns (nicht nur) zum Thema Freundschaft eine interessante Denkanregung liefert, wenn er schreibt, dass sie eine »[…] wohlwollend-sentimentale Art von Nervengutmütigkeit […]« sei, jede andere Form der sogenannten Freundschaft hielt Altenberg für »[…] tief verlogen […]« (S. 17), denn Freunde »[…] erläutern uns nach unseren in uns verborgen liegenden Idealen, nicht nach unseren allen augenfällig alltäglichen Schwächen! Sie lauern auf unsere seltenen Höhepunkte, beachten nicht unsere Vergangenheiten. Sie sind noble Ausleger, Ausbeute unseres wirklichen Wesens. Sie begreifen unsere Schwächen, sie achten unsere Stärken!« (S. 17)
Während ich noch überlege, wie diese Rezension gestaltet werden könnte – denn, ja, ich finde den Abschnitt über Ornament und Buchdruck, den Blick Alfred Polgars auf Peter Altenberg (»Die saubere Dreiteilung der Literaten-Existenz – Leben, Reden, Schreiben – schien in dieses Sprechdichters-Person umgestürzt und aufgehoben. Er tote Essays, stegreifte Dramen, lebte Lyrik. Seine Tinte war: Nervensaft.« (S. 83)) durchaus anregend, kommt ein junger Mann in das Zimmer, in dem ich arbeite, erkundigt sich nach meiner gerunzelten Stirn. Ich erläutere ihm mein Problem. »Nicht mehr drucken, unmöglich, dass man das Werk solch eines Mannes heute noch publiziert«, sagt er. Und ich: Und was ist dann mit all denjenigen, die nichts dabei fanden, Hausangestellte zu haben, denen sie einen Hungerlohn zahlten? Was ist mit all jenen, die ihre Frauen schlugen? Was ist mit all jenen, die ihren Kindern gegenüber Bestien waren? Wenn wir alle Werke aus unserer Kulturgeschichte eliminieren, weil ihre Schöpfer nicht ethisch korrekt waren, was nehmen wir uns dann damit auch? Und zu wie viel Prozent müssen sie als Mensch integer sein, damit wir sie rezipieren – genügen 89 oder 101 oder verlangen wir 1000? Und sind wir selbst ›gut genug‹, um das Recht zu haben, zu Gericht zu sitzen? Wer weiß, was spätere Generationen über uns denken werden – vielleicht im Hinblick auf unsere Haltung der Umwelt gegenüber oder weil wir nicht bereit waren, von heute auf morgen auf Autos, LKWs und Flugzeuge zu verzichten? Wir Kobalt weiterhin zum Spottpreis importieren wollen und Ausbeutung dabei durchaus in Kauf nehmen, dafür haben wir ein reines Gewissen und nennen es Vernetzung?
Er schwieg. Schwieg lange.
Bis ich sagte: Auch ich weiß in dieser Frage keine Lösung. Aber darüber nachdenken und darüber reden, das sollten wir.
Er nickte, nickte stumm. Und ging.
Weshalb ich dies zitiere?
Bleiben wir dem Wallstein Verlag, der für diese Publikation verantwortlich zeichnet, trotz des fehlenden Nachworts, freundschaftlich verbunden – im Dank für den Einblick, den sie uns mit dieser Publikation gaben – und vergessen wir dennoch die Anregung nicht, dass solch ein Diskurs dienlich – und auch dem schätzungswerten Werk Altenbergs! – förderlich gewesen wäre.
Altenberg, Peter: Neues Altes. Göttingen: Wallstein Verlag 2024.