Ich hatte die Ehre als Stadtschreiberin a.D. zur Eröffnung der mobilen Bücherei zurückzukehren, und es ist nicht gelogen, wenn ich sage, es fühlt sich wie Heimkommen an, weil ich in den Stunden bis zum nächsten »Zug fährt ab!« viele mir lieb gewordene Menschen treffe, sei es bei der Mahnwache oder im MKH, am Stadtplatz oder im Welios. Dort grüßt mich sogleich der Wissensbus in frühlingshaften Farben. Ich bekomme die einmalige Gelegenheit, ihn gemeinsam mit einem Vater und seinem Nachwuchs zu erkunden: Von Bilder- und Kinderbüchern, über Erstlesewerke bis hin zum Sachbuch für Erwachsene; oder die sogenannten Wissensboxen, die zum Erforschen und Erproben einladen, es ist alles da, um in die Welt des Denkens einzusteigen. Der freundliche junge Herr von der Stadtbücherei erläutert uns sogar das Bilderbuchkino. Dieser Bus ist nämlich nicht nur dazu gedacht, als literarischer Nahversorger eingesetzt zu werden, nein, er steht auch Schulen für Buchparties und Lesenächte zur Verfügung.
Wissen Sie, manchmal beneide ich heute heranwachsende Kids ein klein wenig um diese Abenteuer! Zu meiner Zeit gab es weder Lesenacht noch Bilderbuchkino. Und Buchparties feierte ich höchstens versunken in Lektüre. Dafür saß ein Großvater im Ohrensessel, der beim Erzählen alle drei Sätze einnickte, und öfters im unsanften Erwachen vergessen hatte, in welcher Geschichte wir an jenem Abend unterwegs sein wollten. Aber vielleicht sind sie gar nicht zu beneiden, die heutigen Kinder, denn ich hatte niemanden zu überreden, damit einer mit mir allwöchentlich in die Städtische Bücherei ging, Lektüre war mir wundervoller Alltag. Gegenwärtig jedoch wird in einem Drittel aller Familien nicht mehr vorgelesen. Wer nun glaubt, das sei bloß bei ›den anderen‹ so, der sehe sich einmal wachen Auges um: In wessen Umgebung gehören Bücher noch zum Alltag? Wer liest Kindern, Enkeln vor, erfindet mit ihnen Geschichten? Wer öffnet abends ein Buch zur Entspannung, statt zu streamen oder im Internet zu surfen? Wann haben Sie zuletzt ein Buch – nein, nicht entliehen, nicht gekauft, sondern gelesen? Oder nach der Lektüre Ihrer Familie, Ihrem Freundeskreis empfohlen?
Nicht nur die PISA-Zahlen zur Lese(un)fähigkeit sind erschreckend. Weitaus beängstigender finde ich persönlich die Zahl, dass gegenwärtig eine Million tertiärer Analphabetinnen und Analphabeten in unserem Land leben: Wer nun meint, zu wissen, wer diese Menschen seien, könnte sich gewaltig irren: 60% davon sind in Österreich geboren, haben hier die Schulpflicht absolviert. Dennoch haben sie in den Jahren ihres Erwachsenenlebens die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, wieder verlernt, können nicht sinnerfassend lesen, Textwerk wird rasch als ›zu lang‹, ›zu kompliziert‹ abgewehrt. Deshalb tut es not, dass Bibliothekarinnen, Buchhändler und engagierte Ehrenamtliche als Multiplikatorinnen des Lesegenusses tätig werden und ihr Wirken für eine Gesellschaft bewusster Bürgerinnen und Bürger gesehen und honoriert wird! Ohne sie würde es nichts nutzen, wenn der Wissensbus auffällig durch die Stadt rollt, und Schmökern, Lesen, Lernen, Wissen in den Alltagsblick rückt. Wir sollten ihrem Ruf »Alles einsteigen!« folgen, denn wer Gegenwart und Zukunft begreifen will, tut gut daran, dort Halt zu machen, wo Wissen einen überrascht, inspiriert und stärkt; und andere mit diesem Virus zu infizieren.
Im ehemaligen Vorort Bernhardin oder Bernardin, benannt nach dem Heiligen Bernardino von Siena, steht das Gasthaus zum Schwarzen Rössel, welches heute »Black Horse« heißt und von Roman Seier geführt wird. Im dortigen Gastgarten begann meine Stadtschreiberei, hier soll sie auch enden. Schon allein die Historie dieses Hauses dünkt mich interessant, wurden hier doch zuerst die Dragoner verköstigt, bevor es das Stammlokal der Sektion Bernhardin der Sozialdemokratischen Partei war, bis diese 1934 verboten wurde. Heute kommt ins dezentral gelegene »Black Horse«, in dem ›die Mama‹ in der Küche mit bester Hausfrauenkost regiert, wer mit Romans Team sowie den anderen Gästen einen feinen Abend bei Guiness, exzellentem Whisky und guter Musik verbringen will.
Die Trennung zwischen Gast und Freund sei hier nicht existent, sie fließe, sagt Roman, denn wie ein Abend sich entwickle, das hänge entscheidend davon ab, ob ein Miteinander entstehe, weil sich alle Anwesenden wohlfühlen: »Ich bin überzeugt, dass ich mit meiner Arbeit etwas Sinnvolles tue. Mal ganz davon abgesehen, dass sie Spaß macht und abwechslungsreich ist.«
Zu seinem Beruf kam er über Umwege, damals noch Student der Politikwissenschaft, weil er alleinerziehender Vater wurde und folglich eine Arbeit brauchte, die zeitlich mit der Kindererziehung vereinbar war. Ein Babysitter für Nachtstunden war leichter zu finden als einer für den Tag. Da er klare Vorstellungen davon hatte, wie er eine Bar führen wolle, entschied er sich nach einiger Zeit für die Selbstständigkeit: »Getränke herrichten? Das ist nur die Basis des Jobs, aber nicht, was ihn ausmacht, seine Qualität bestimmt. Dienst nach Vorschrift schieben? Das könnte ich nicht! Nein, mir ist es wichtig, dass ich mich als Wirt auf die Leute einlasse.«
Roman spricht langsam, nachdenklich, pausiert immer wieder dazwischen. Für viele sei das Motiv in ein Lokal zu gehen die Einsamkeit. Gerade weil sich die Menschen in einer Bar öffnen, das Interagieren mit ihnen, sie dazu bringe, dass sie thematisieren, was sie belaste, müsse Erzähltes absoluter Verschwiegenheit unterliegen. Das alte ›sub rosa‹ sei oberstes Prinzip: Was hier gesprochen wird, bleibt in diesen Räumen. »Es gibt tausende Momente, in denen man merkt, wie wichtig das ist: das Ermutigen in schwierigen Zeiten. Einen Ort für Gespräche anbieten, an dem die Einsamkeit des Lebens einmal verschwindet.« Ja, so definiere er sein Tun, das er als seine Form der politischen Arbeit sieht: »Werte vermitteln, grundlegende, die mir wichtig sind, die wir zu leben versuchen: Offenheit, Respekt, Rücksichtnahme!«
Gefährlich sei, dass einem der Job bei dieser Arbeitsauffassung leicht alles werde, worum sich das Leben drehe, er den anderen Bezugspunkten im Leben ihre emotionale Bedeutung rauben könne. Dann tue es dringend not, wieder eine Themenvielfalt ins Leben zu bringen …
Ja, ich weiß, wovon er spricht, kenne die Problematik, die damit einhergeht, wenn man liebt, was man tut. Oder läutet niemand das Ende eines Arbeitstages ein. Auch deshalb ist es für mich an der Zeit, wieder aufzubrechen – einige Tage am Arthof zu weilen, bevor die Reise weitergeht; zu anderen Orten und anderen Menschen, zu einer Preisverleihung für »Kosovarische Korrekturen« gar … Davor aber soll in Wels fein Abschied gefeiert werden: mit drei finalen Veranstaltungen – und am letzten Abend, im Danach, bei Roman, damit ebenda ende, was hier begann …
Nörglerinnen und Nörgler seien die Welser, sagt man mir vielerorts: Nichts und niemand sei vor ihrer Skepsis sicher, allem Neuen werde aus Prinzip nachfolgendes Kontra vor die Nase gesetzt: »Daraus wird sowieso nichts!« Damit danach zufrieden gesagt werden könne: »Ich hab’s doch von Anfang an gewusst!«
Es tut mir wahrlich leid, liebe Welser Bürgerinnen und Bürger, aber ich bin keineswegs überzeugt, dass Sie das exklusive Copyright auf diese Nörgelei haben! Wäre ja noch schöner, höre ich sogleich Wienerinnen, Niederösterreicher und Berlinerinnen schimpfen. Statt ›typisch‹ sollten wir diese Fähigkeit wohl lieber ›unmenschlich zeitgeistig‹ nennen, denn wiewohl sich der Homo sapiens mit ebenjener Namensgebung auf eine Begabung zur Vernunft beruft, gebärdet er sich allzu gern unvernünftig: Weder motivieren noch beglücken oder inspirieren solche Unmutsäußerungen; sie sind bloß zeitgeistig modern – ist ja auch schon etwas, nicht?
Schwierig wird es, wenn Maulen und Klagen Teil des Stücks »Wir wollen scheitern sehen« werden, welches wir, gleichfalls dem heutigen Zeitgeist entsprechend, so häufig in seiner multimedialen Aufführung erleben dürfen. Diese Tragödie, die sich gerne in den Schein einer Volkskomödie kleidet, hat durchaus Potential, unbestritten; und Ambitionen. Diejenigen nämlich, Innovation, Kreativität, Geist und Dialog zu ersticken. »Das wird sowieso nichts« ist schließlich nicht umsonst die jüngste Schwester der Konkurrenz; sitzt gerne am Tisch mit ihren Verwandten, dem Neid und der Häme.
Blickt man hinter die Kulissen, erkennt man: Wem es im eigenen (Er-)Leben und Werken (oder Wirken?) an Anerkennung fehlt, der ist eher geneigt, im »Dir werde ich’s zeigen«-Muskelspiel eine aktive Rolle einzunehmen. Gerade weil wir in einer Gesellschaft leben, die sich ›mehr, größer, höher‹ zum Ziel gesetzt hat, und in der daher ein Status-Denken kursiert: Sag mir welches Auto du fährst, und ich sag dir, welche Chancen du hast …? Na, meines ist schwarz – wie guter Espresso am Arbeitsmorgen. Denn es existieren durchaus auch andere Wege, die man gehen könne! Das zeigen die Welser Hoteliers und Hoteldirektorinnen. Man sei, sagt Sophie Schick, aufgrund der Erkenntnis, dass die Probleme eines Hotels unweigerlich auch in anderen Häusern auftauchen, zu neuen Moden übergegangen: Man setzte sich an einen Tisch, pflege Kommunikation wie Austausch und berate einander. Seither habe sich die Lage geändert, die Zeiten der Väter und Mütter, als Missgunst und Neid wahrlich opulente Blüten trieben, seien Vergangenheit. Natürlich gäbe es in ihrer Branche dennoch Konkurrenz. Sogar Gehässigkeiten ab und an. Die Frage sei jedoch, was man fokussieren wolle; ihr sei der humorvolle Blick, der den Dialog suche, lieber. Ich denke an die Notiz, welche ich jüngst auf einer Lesereise neben meinem Kissen fand: »Bitte reden Sie mit uns, so wie früher, als es noch kein Internet gab!« Ja, seit die schriftliche Rache der Schadenfreude durch neue Technologien um so vieles einfacher wurde, dominiert sie gerne öffentliche Wortmeldungen. Schon ist der Unmut über einen Kellner, dem just wenige Minuten davor eine Laus über die Leber lief, aller Welt kundgetan, die verklemmte Jalousien des Hotelzimmers hinausgepostet und die gedankenverloren allzu ausgiebig gesalzene Suppe unter ›völlig ungenießbar‹ dokumentiert. Irgendwen werden all die Verallgemeinerung schon interessieren. Ich spanne mir lieber den Regenschirm des Humors auf und tanze im November-Schnee.
»Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund«, schrieb Immanuel Kant, und nahm damit vorweg, was die Wissenschaft heute für alle Geister beweist. Nicht unbedingt, weil Leib und Seele zu klaffen begännen, wie das Sprichwort meint, sondern Fakt ist, dass gemeinsames Essen schlicht glücklicher macht als einsames Löffeln vis-à-vis eines Bildschirms, sei es nun derjenige des Laptops oder Fernsehers.
Auch olfaktorische Reize beeinflussen unseren Appetit. Wessen Nase an windigen Tagen von der Bahnhofgasse auf den KJ einbiegt, kann dies im Selbstversuch erleben. Was ehedem ›Wurstinsel‹ hieß, war nicht bloß der Ort, um den kleinen Hunger zu stillen, er war zudem immer Kommunikationszentrum, denn bei Käsekrainer und Bosna ließ es sich mit Standler und nachbarlichem Kostspazierer philosophieren. Wer ernährungsbewusst einwendet, Soulfood, also Seelenkost, sehe anders aus, der rufe – nicht nur im Advent – im Tageszentrum des »Sozialen Wohnservices« an: Einzelpersonen oder Gruppen können sich dort als Freiwillige mit Lebensmittelspenden melden, um gemeinsam zu kochen und miteinander zu essen. Denn sich zu einem gemeinsamen Mahl zu setzen, sei nicht bloß gesünder, es ist auch das Sinnvollste, damit Vorurteile als solche erkannt und Schwellenängste abgebaut werden, begründet Petra Wimmer die Idee des »Social Cooking«.
Alternativ kann man mit Freundinnen oder Familie eine »Suppe mit Sinn« verspeisen: Von November bis Februar währt diese Aktion der »Tafel« in Kooperation mit zahlreichen Welser Gastronomen, bei der eine nahrhafte Wintersuppe auf den Speiseplan gesetzt wird. Der eingenommene Solidaritäts-Euro kommt hilfsbedürftigen Welser und Welserinnen zugute.
In Wels stehen hinter dem »Tafel«-Team als zentrale Figuren Erwin und Petra, die 2008 einen Verein »Essen und Leben« aus »christlichen Motiven« gründeten, wie sie sagen. »Uns hat eben irgendwas geritten.« Damals hätte sich keiner von beiden vorgestellt, dass der Bedarf so groß sei: Nach drei Monaten verköstigten sie bereits bis zu 40 Personen täglich; Anzahl seither und bis heute stetig steigend: Alte und junge, Pensionistinnen sowie Obdachlose, chronisch Kranke, Alleinerzieherinnen und Berufstätige, die so wenig verdienen, dass kaum ein Überleben möglich ist, sind ihre Gäste. Nach den Richtlinien der »Tafel« gilt als armutsgefährdet, wer über weniger als € 1.200 monatlich verfüge; eine etwas höher angesetzte Grenze als die offizielle, weil darunter ihrer Erfahrung nach oft schon eine Kleinigkeit wie eine defekte Waschmaschine genüge, damit der Boden zu wanken beginne.
Auch heute ist die Gaststube der »Tafel« voll. Viele kennen einander. An einem Tisch wird Würfelpoker gespielt, andere begutachten gespendete Brettspiele. Ja, meist gehe es recht lustig bei ihnen zu – so ernst die Lage oft sei, erzählt Erwin, der mir gegenüber sitzt und dennoch stets den gesamten Raum im Blick behält, mal hier grüßt oder dort nach dem Verbleib fragt. Es sei wichtig, sagt er wenig später zu mir, die Geschichten der Leute zu kennen, sie als Individuen wahrzunehmen; selbst wenn Neuankömmlinge oft Zeit zum Auftauen brauchen – und die solle man ihnen tunlichst lassen. Männer hätten weniger Scheu, hierher zu kommen; Frauen hingegen versuchen eher, ihre Armut zu kaschieren. Sie kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. »Gott sei Dank haben wir uns hier herein getraut«, sagt eine Alleinerzieherin. Ihren Kindern habe das Essen heute ausgezeichnet geschmeckt – ob Erwin schon wisse, was morgen am Speiseplan stehe? Nein, bedauert er. Die letzten Spenden des Tages werden gerade erst ausgepackt …
Im Mittelalter wurden bekanntlich alle Berufe, die eine etwaige gesundheitliche Gefährdung braver Bürger sowie betuchter Kaufmannsleute bedeutet hätten, aus dem Inneren der Stadt verbannt. Auch die Fleischhauer*innen zählten zu solch einer bedenklichen Gruppe, weshalb sie am anderen Ufer der Traun angesiedelt waren. Ihre Waren erstand man im sogenannten Schmeißhäusl, welches sich mitten auf der Brücke über den Fluss befand. Seinen Namen verdankte es den biologischen Konsequenzen mangelnder Kühlungsmöglichkeiten jener Zeit, denn wurde das Fleisch durch die nachfolgenden Auswirkungen der Aktivitäten der werten Schmeißfliege, samt ebenda abgelegter Eier und späterer Maden, allzu umtriebig, warf man das zur Gammelware verkommene Nahrungsmittel in den Fluss, der in weiterer Folge zu jener Zeit ein wahrlich fischreiches Gewässer war.
Sagen Sie nicht »Wie ekelig!«, sondern »memento mori«: Sei dir der Sterblichkeit bewusst. Weniger als Mahnung an Lebensführung und Jenseits, wie im Mittelalter gerne und finanzkräftig genutzt, sondern vielmehr im Sinne Michel de Montaignes, der überzeugt war, nur wer die Menschen lehren könnte, zu sterben, der würde sie lehren, zu leben: »Ich habe nichts dagegen, daß der Tod mich bei der Gartenarbeit überrascht, aber er soll mich nicht schrecken; und noch weniger soll es mich traurig machen, daß ich mit dem Garten nicht fertig geworden bin«, schrieb dieser große französische Essayist und Philosoph. Ein Garten wird nämlich nie fertig, ebenso wenig wie ein Haus. Dem ist alle Natur vor.
Wer am 11. November seine Martinigans zum jungen Wein verzehrt, denke daran, dass die Bauern einst oft in Naturalien ihren Zehnten an Steuerabgaben ablieferten. Vor allem, wenn die Getreidekammern schon vor dem Winter eher leer waren: Es sei besser, die Gänse fielen vom Fleisch als man selbst. Wie wohl den meisten bekannt ist, lagen die Kornspeicher in Wels hinter den schönen Hausfassaden des Stadtplatzes. Wenige jedoch werden es präsent haben, dass man jahrhundertelang zwischen Wohnhaus und Speicher Selbstversorgung mit Zwiebel, Kraut und Rüben betrieb; quasi urban gardening. Während Wien und Umgebung dem Verzehr der Weinbergschnecken frönte, wurde an anderen Orten diese Kulinarik eher mit Gesten des Ekels abgewehrt. Dabei boten die Weichtiere einst Mönchen die Lösung ihrer 150 Tage-ohne-Fleisch-und-tierische-Fette, denn der Schneck zählt ihnen nicht zum Fleisch. Schwein gehabt! Die stellten im Mittelalter übrigens die Müllabfuhr dar, denn die Welserinnen und Welser warfen ihren Unrat bei den Fenstern hinaus, und der Schweinebauer trieb sein Gefolge gemächlich von einem Stadttor zum anderen, damit sie die Arbeit erledigten. Mahlzeit! Fisch hingegen, wie heute aus dem nahen Gunskirchen auf ihre Tische kommt, wurde in der Alpenregion erst im hohen Mittelalter serviert. Gegessen wurde mit dem Löffel, zur Not assistierte ein Messer. Das Teufelswerk Gabel mied man lieber, der Zacken wegen. Es dauerte bis ins 16. Jahrhundert bis italienische und französische Damen mit ihrem Wunsch nach sauberen Fingern die heimische Tischkultur eroberten; und noch drei Jahrhunderte länger bis ihr Statussymbol aus Silber oder Gold, reich verziert mit Perlmutt und Edelstein, eine Massenware aus Metall wurde. Ja, solch obskures Wissen sammelt sich als Überbleibsel der Arbeit im Gedächtnis, nachzulesen in den Romanen, Ihnen ein feines Martiniloben!
Wer den Welserinnen und Welsern auf den Mund schaut, stellt bald fest, sie haben eine wahrlich frappierende Vorliebe für ein Adjektiv, dessen Bedeutungsnuancen laut Duden von ›exakt übereinstimmend‹ bis zu ›gewissenhaft‹ reichen. In Wels fügt man ihm eine weitere hinzu: Wird eine Reflexion geäußert, folgt nach einer Denkpause aus dem Mund des Sprechenden das Wort »… – Genau!« Bitte zählen Sie einmal die Sieben auf einen Streich Ihrer Umgebung mit!
Andere hingegen setzen die Zustimmung zu ihrem Denken mittlerweile voraus; eine Mode, die man durchaus mit dem Rest des Landes teilt, ich weiß. Neulich sagte einer zu mir: »Also, dass keiner was tut, für unsere Leut, das ist nicht richtig.«
Sprachwissenschaftlich betrachtet ein schöner Satz, nicht? Ein ›Also!‹ wird als Auftakt für ›jetzt-red-ich‹ genutzt, bevor die Aussage folgt, deren zweiter Teil uns mitten in sprachliche Wirrnis führt, denn – rein vom Satzkonstrukt her – obliegt es Ihrem Ohr, welche Bedeutung ›das-ist-nicht-richtig‹ danach erhält. Die möglichen interpretatorischen Nuancen variieren von ›das-ist-nicht-rechtens‹ bis zu ›das-ist-gelogen‹. Ich blieb schon beim Einschub ›für unsere Leute‹ hängen. Gerne würde ich ulken, gibt es ›unsere› – also ›Menschen‹ – gibt es auch ›nicht-unsere‹, und es sei wahrlich verblüffend, wie viele in dieser Stadt offenbar an Außerirdische glauben, Saturnianer oder Venusiden, Marsianer oder was weiß ich. Wäre das Thema nicht so ernst.
»Wissen Sie, ich arbeite in einer Großküche mit Sozialmenü. Und ich gebe denen auf den Teller, was auch immer die wollen. Die zahlen ja dafür! Und wer hat schon jeden Tag Lust auf das Gleiche? Meine Gäste, die mag ich. Das sind gute Leut. Ich koch’ aus Leidenschaft. Nur dann wird gut, was man tut … genau!« Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteile, es ist der gleiche Herr, der davor minutenlang »Wir : die Anderen« bemühte, weshalb wir in logischer Konsequenz unserer divergierenden Weltanschauung im Dialog immer weiter voneinander abrückten, sodass sich ebenjenes »Wir : die anderen« auch an unserem Tisch ausbreitete – wenn auch nicht wie von jenem Herren gedacht …
Kein Einzelfall in diesen Welser Tagen. Lassen Sie mich ein weiteres Exempel erzählen, einige Wochen später, nochmals eine Großküche: Kein Pessimist sei er, fürwahr, sondern Realist, sagte der ältere Herr, und deshalb solle ich bedenken, was er nun sage: Alles Übel aller Welt samt aller Krankheiten komme aus der Vermischung der Kulturen. Deshalb plane er seinen Wegzug. In die tschechische Republik. Dort sei der Präsident »noch ein Mann«, denn er wage zu sagen: »Wer zu uns kommt, bestimmen wir.« Die ließen nicht alle ins Land …
Ich überlege, ob ich den älteren Herren dezent darauf hinweisen soll, dass sich in all seinem »Wir : die Anderen« samt Umzugsplan ein Denkfehler findet, denn gemäß seiner eigenen Logik sei er in persona ja keiner »von denen«, sei selbst »ein Anderer«: Wieso in aller Welt komme er also auf die absurde Idee, im bewunderten »Slawen-Wir« erwünscht zu sein?
Tagelang gehen mir solche Dialoge nicht aus dem Kopf. Weil sie mir bewusst machen, wie dieses Gedankengut seine Krakenarme ausbreitet, wie jedwede Entgegnung außerdem den Graben vertieft, gegen den man doch Position beziehen möchte. Schon allein die Gegenposition zu jener Haltung schafft erneut ihr Duplikat. Kein Entkommen. Und der Kopfschmerz der Sorge, während man sich im Dialog gegen jene Wörter wappnet, die unweigerlich folgen … – Genau!
Wer sich gerne in der Kulinarik asiatischer Varianten bedient, hat die Wahl zwischen einem Inder, bei dem man gut daran tut, rechtzeitig einen Tisch zu reservieren; oder man besucht seinen neuen nepalesischen Kollegen, der mit seiner Frau im »Mount Everest« aufkocht. 2012 kam Arjun Prasad Sharma nach Österreich. Das Schwierigste sei damals an seinen neuen Lebensumstände gewesen, dass er zur Untätigkeit verdammt war. »Das tut keinem gut«, sagt er und serviert mir mit der Rechnung ein Sammelsurium an Körnern in einem metallenen Kännchen. Wer diese bunte Mischung in Grün-, Orange- und Rottönen nicht kennt, wird wohl zuerst ebenso perplex gucken; wie ich, die keinen blassen Schimmer hatte, was damit getan werde.
Nein, das sei kein Rechnungs-Beschwerer, sondern es heiße ›Pan Mukhwas‹ und diene dem Abschluss des Mahls sowie der Atemfrische, denn ›Mukh‹ bedeutet ›Mund‹ und ›Vas‹ ›Geruch‹. Eine Geste der Höflichkeit gegenüber dem nächsten Gesprächspartner also, welche zudem die eigene Verdauung anrege – und köstlich mundet es obendrein!
Meine Bildungsreise geht jedoch sogleich weiter, da ich, wie es meine Art ist, den freundlichen Besitzer mit Fragen löchere, denn Nepal ist weit und ich immer neugierig: In seiner Heimat, erzählt er, spreche man Nepali und verwende eine dem Sanskrit verwandte Schrift, die Devanagari heiße und um einige Buchstaben mehr kenne als unser lateinisches Alphabet – samt all seinen Um- und Zwielauten. Trotz absolviertem Deutschkurs falle ihm das Erlernen unserer Sprache noch schwer, doch bemerke er, wie sich seine Kompetenz tagtäglich bessere, nun, da er in ihr arbeite und kommuniziere. Er wolle sich kompetent ausdrücken können und sein Restaurant etablieren; den Nachwuchs werde dann die Zukunft bringen, sagt er, hebt beide Hände zum Himmel und blickt nach oben … Wenn Gott will, würden wir wohl diese Geste übersetzen.
So gesprächig der freundliche Arjun Prasad Sharma ist, so wortknausrig gibt man sich hinter den Street Food-Buden, die mit Kulinarik aus Griechenland, Türkei, China und Japan locken. Der Hunger ihrer Kunden will flott gestillt werden und sich nicht nach Zeiten warmer Küche richten. Wie ihre Gäste, die während des Wartens höchstens ein paar Worte untereinander wechseln und – kaum ihr Mahl in Händen – forteilen, sind auch diese Köchinnen schweigsam: »Arbeit ist eben Arbeit. Sie bedeutet nichts anderes, als tagtäglich das Gleiche zu tun. Was solle man darüber reden?«, fragt mich eine, zieht die Brauen hoch, lächelt leise.
Wehmütig denke ich an die Chefin des Hotel Hauser, die davon überzeugt ist, Arbeit müsse Vergnügen bereiten. Ansonsten sei sie für niemanden befriedigend, schaffe Verhältnisse, die auf Dauer krank machen müssten. Es diene also durchaus dem eigenen Betrieb, kümmere man sich darum, dass jedwede Arbeit mit Anerkennung honoriert werde und die Atmosphäre stimmig sei: Nur wer sich wohl fühlt, wird bleiben, wird bis über das Pensionsalter hinaus gesund sein: »Die Menschen sind es wert, dass man in sie investiert!«, resümierte Sophie Schick.
Auch neue Ideen, die eine städtische Landschaft prägen, sind eine lohnende Anlage in die Zukunft: So wollte Alex mit seinem Food Truck »Brahlex« demonstrieren, dass Fast Food nicht Junkfood sei und die Verpackung keineswegs in Alu und Plastik brillieren müsse. Umweltfreundliche Palmblätter boten eine sinnvolle Alternative, die hierzulande jedoch oft unfreundliche Witterung war dem Food Truck-Konzept hinderlich. Um seine hochwertigen Burger auch in Zukunft anbieten zu können, hält er daher die Augen nach einem Lokal offen. Ich ziehe derweilen eine andere Tür auf, neugierig weil der Pfeffer, der aus Indien nach Europa kam, hier in seiner Mühle nunmehr griechisch duftet: Wie schön, lässt es sich kulinarisch reisen!
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das wusste ich schon als kleines Mädchen und ernährte mich hauptsächlich von Geschichten, aus Buchwerk und konstruktiven Tagträumen. So erstaunt es wohl wenig, dass ich als Stadtschreiberin unbedingt zu einem Kindheitsort zurückkehren wollte, in dem vor 47 Jahren eine Passion begann, die seither stetig wuchs: meine leidenschaftliche Liebe zur Literatur, eine Bibliophilie, gekennzeichnet durch Neugierde auf all die Welt, welche zwischen zwei Buchdeckeln Geborgenheit findet! Schon damals war mir die kleine Filiale der Welser Stadtbücherei in der Vogelweide, wohin ich an Mutters Hand jede Woche pilgerte, neben Großvaters Tischlerwerkstatt und Gartenwildnis um sein Haus, der schönste Ort absoluter Glückseligkeit, der nur einen einzigen Tropfen Wehmut kannte: Um neues Lesefutter zu bekommen, hatte ich mich von meinen anderen lieben Freunden zu trennen … Was lag also näher, als die Idee, sich die vorgelesenen Geschichten wieder und wieder zu erzählen, sie weiterzudichten: eine Obsession, die seither nie aufhörte!
Die Bibliothekarinnen und Bibliothekare wissen um den Schatz, den sie hüten: »Wir haben die schönste Arbeit der Welt am tollsten Arbeitsort: Durch die Fenster links ruft der Zoo, durch die Fenster rechts erklingen die Etüden der Musikschule, und wir sind mittendrin, umgeben von tausenden Büchern!«
Zu den geistigen Ernährerinnen und Ernährer einer Stadt gehören neben den Schulen und allen Bildungseinrichtungen für Erwachsene auch der Buchhandel und die Kulturvereine!
»Es ist eine Katastrophe, wie die Kultur ausgehungert wird!«, seufzt Petra Wimmer, die vor ihrem Wechsel in die Politik als Sozialarbeiterin und später als Geschäftsführerin beim Sozialen Wohnservice Wels tätig war. »Wie man kreative Menschen blockiert und ihnen jedwede Möglichkeit nimmt, als Schaffende tätig zu sein. Dabei würde doch gerade ihr Werk unser aller Leben bereichern!« Es sei, als sage man sich, Künstlerinnen und Künstler seien ohnedies leidensfähig und manchmal erhärte sich wahrlich der Verdacht, eine Absicht stecke dahinter: »Weil Künstlerinnen und Künstler kritische Menschen sind, die hinterfragen! Wenn jedoch jemand permanent mit Existenzsicherung beschäftigt ist, wird vor Erschöpfung bald kaum Kraft übrig bleiben, um ein künstlerisches Werk zu gestalten.« Dass sie damit mir und zahllosen Kolleginnen und Kollegen in diesem Land aus der Seele spricht, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Auch deshalb sind solche Posten wie diejenige einer Stadtschreiberin für eine lebendige Kunst so ungemein wichtig. Oder Initiativen wie Hunger auf Kunst und Kultur! Es ist keineswegs eine Schande, den geistigen Hunger stillen zu wollen, wenn das Klimpern im Portemonnaie schweigt. Ganz im Gegenteil! Ein Skandal wäre und ist es hingegen als Gesellschaft zu verdummen und nichts dagegen zu unternehmen!
»Wenn wir nicht wüssten, wieviele Millionen von außerordentlichen Talenten an jedem Tage in aller Welt verkümmern müssen, weil sie von keinem aufgehoben und angepackt und entwickelt und schließlich zu den höchsten Höhen hinauf entwickelt werden!«, schrieb schon Thomas Bernhard über die Bildungsmisere. Über diesen Autorenkollegen sprach ich übrigens jüngst mit Dr. Andreas Rabl: Als Schüler seien ihm die Bernhardschen Sätze ewig lang erschienen. Heute aber genieße er die Lektüre dieses großen Österreichers.
Ja, geistige Nahrung bedarf in der Annäherung der gewährten Zeit; Fast Food funktioniert hier nicht. Es braucht Künstlerinnen, Lehrende und Kulturvermittlerinnen, die für ihren Fachbereich brennen dürfen, statt in Existenzsorgen zu vergehen, und die mit ihrem Feuer andere begeistern können. Nur so wird der Begriff ›lebendige Kunst‹ in einem Land Wirklichkeit. Bitte, liebe Welserinnen und Welser, nehmt euch diese bereichernde Möglichkeit nicht, lasst sie nicht ungenutzt verstreichen!
Seit 25 Jahren ist er Kellner in Wels. An die verschlungenen Wege wie er just hierher kam, mag er sich nicht erinnern. Das sei nicht mehr wichtig, sagt er. Seine Frau arbeite in einer Bäckerei, leider seien ihre und seine Arbeitszeiten kaum kompatibel; doch den Sonntag, den hätten sie wenigstens füreinander. Ihr Sohn, mittlerweile 28 Jahre alt, lebe in Linz. Trotzdem sei es wie eh und je: Komme der Junge nach Hause, werde der Kühlschrank geleert; und jede Menge elterliche Kochkunst vor der Abreise obendrein eingepackt. »Öfters sage ich zu meinen Leuten, es ist notwendig, dass wir noch viel besser sind. Besser als alles, was andere über uns reden.« Irritiert sehe ich ihn an. Feindschaft und Gehässigkeit werden nicht weniger werden, bloß weil man denjenigen diese Ungerechtigkeit mit gleicher Münze zurückzahle, sagt er und fährt fort: »Ich habe schon viel gesehen und erlebt. Es hat Zeiten gegeben, da habe ich jeden Morgen mit ›Bitte, Gott, hilf mir!‹ begonnen. Und mit heftigen Kopfschmerzen.« Natürlich sei es kränkend, wenn manche Gäste so dreist sind und sich nicht von ihm bedienen lassen wollen, sondern ihm befehlen, einen Kollegen zu holen oder seinen Namen ignorieren, weil er ihnen zu fremd klingt. Vor allem in den ersten Jahren sei dies häufig geschehen. Sein Vater, erzählt er, sein Vater habe ihm etwas Wichtiges beigebracht: »Denke nicht daran, wie du mehr Geld verdienst. Denke lieber daran, was du besser machen kannst!«
Mittlerweile habe sich Wels an seinen Anblick gewöhnt, und er eine Anstellung gefunden, bei der ein Morgen nicht mehr mit Elend beginne. Im Küchenteam dieses Lokals ist er der Älteste, und manchmal habe er jungen Lehrlingen, welche ihre Arbeitsatmosphäre hier für normal hielten, den Kopf zurechtzurücken: Der Norm entspreche es nämlich weder, dass die Arbeit in der Gastronomie Spaß mache, dass im Team gelacht und gewitzelt werde, man miteinander befreundet sei. Viel eher seien ein recht rauer Umgangston und wüste Beschimpfungen an der Tagesordnung, denn in einer Küche gelte es immer, Krisen zu bewältigen. Aber: »Welche Chefin wischt die Tomatensuppe auf, die durch ein Unglück auf den Schuhen des Angestellten landet? Putzt dem Küchenhelfer die Schuhe! Welcher ›Chef‹ macht das sonst?«
Derweilen ist einer seiner Kollegen gekommen, nimmt an unserem Tisch Platz. Dieser junge Herr sei die Chronik des Hauses: Kein Datum entfalle ihm je, kein Jahrestag, kein Fest … »Und weißt du noch, wie du geschaut hast, als die Chefs mit einem Päckchen kamen und alle »Happy Birthday« gesungen haben? Solche Augen hast du gemacht! So groß …« Gegenseitig rufen sich die beiden Herren Ausflüge, Weihnachtsfeiern, Jahrestage ihres Lokaleintritts in Erinnerungen – ja, es sind diese Kleinigkeiten, welche den Teamgeist nähren, der im »Würtshaus in der Kohlstatt« zu spüren ist. So hieß das Lokal nämlich bei seiner ersten urkundlichen Erwähnung im staunenswerten Jahr 1788; und der Name hat nichts mit dem Gemüse zu tun, sondern mit den Köhlern, die sich dort trafen.
Als der heutige Küchenchef Franz es übernahm, war er erst 21 Jahre jung. Er und seine Eva leiten bis heute die »Kohlstatt«; ihr Kellner Frances aus Ghana erzählte mir seine Geschichte, Mohammed aus Bagdad ist das Gedächtnis der Truppe: Ändern die Namen, die Herkunftsorte, die Hautfarbe jene Geschichte, die Sie gelesen haben? Sie sollten keine Rolle spielen – und tun es doch … Wenn Sie in die »Kohlstatt« gehen, grüßen Sie mir diese liebenswürdigen Menschen – und werfen Sie unbedingt einen Blick in ihr Küchenballett!
Grau in all seinen Schattierungen ist nur eine Nachtfarbe von vielen. Rot leuchtet es um die Schönhübschlerinnen. Gelb strahlt die Hafergasse in ihrer Vielzahl an Lokalen, Weiß-Pink das »Shot« in der Pfarrgasse … Auf der Straße treffe ich einige jüngere Semester. Ihre Worte lassen Roman, Wirt im »Black Horse«, einen Idealisten erscheinen, denn er meinte, die Studierenden der FH seien zu eifrig ihrer Bildungswahl ergeben, um sich in Lokalen die Nächte um die Ohren zu schlagen. »Wohin solle man denn gehen, in Wels, wo alles so teuer ist wie in Linz? Da fahre man doch lieber gen Osten«, sagen die Studierenden. Nun, was dem einen Oase, ist dem anderen zu wenig Schickeria. So erhält ein jeder seine ›cup of tea‹. Ich jedenfalls genieße meinen Abend im »ReWü«, lausche mich durch die Jahrzehnte, jedes Mal aufs Neue gespannt, was mir als nächstes serviert wird. Und die Kellnerin hat es eilig, springt ohne Weiteres von 1960 zu 2010. Nicht so der Herr an Edi’s Bar im Hotel Hauser: Komme er in die Bäckergasse, bestehe sein Hündchen Julienne darauf, hier eine Pause einzulegen, ziehe und zerre an der Leine, bis er nachgebe, wissend, dass hier ein Leckerli auf sie warte.
Und die Businessgäste? Sie frequentieren nicht mehr so häufig wie früher die Bar. Ein anderer Lebensstil sei Usus geworden: Fitness nach der Arbeit und um zehn ins Bett; statt wie einst fünf Bier allabendlich zu kippen. Auch als Seelendoktor sei der Barkeeper im Hotel selten gefragt – im Gegensatz zu Julia im »Shot«, ein Lokal, welches vor allem von jungen Erwachsenen besucht wird, die sie beim Hereinkommen wie eine Freundin umarmen, durchaus auch Liebeskummer und freundschaftliche Lebensenttäuschungen ausheulen; oder sich über ›die blöde Mama‹ beschweren. Meist rede Julia ihnen dann ins Gewissen, erzähle von ihrer Jugend und betone, dass sie heute eines sicher wisse: »Stänkernde Mütter machen sich bloß Sorgen!«
An ihrer Berufswahl habe Julia eine Weile gezweifelt, sei für einige Monate sogar zu ihrer erlernten Tätigkeit zurückgekehrt. »… aber Zahntechnikerin? Nicht wirklich so cool, oder?« Im Gespräch mit ihr wie auch mit Severin, dem jungen Besitzer des Lokals, bekommt man bald den Eindruck, sie ist die verkappte Sozialarbeiterin und er der Lehrer, für den er einst studierte: »Die Sprache unserer jungen Gäste stimmt mich nachdenklich. Sie verarmt. Einige Ausdrücken, in denen erschöpft sich ihre Kommunikation«, sagt Severin. »Ganz zu schweigen von der Rechtschreibung in den Postings!« Selbst ihr, Julia, falle das auf, und sie sei kein Ass der Orthographie.
Rund um uns wird ›Party gemacht‹, Einzelgänger reihen sich an der Bar auf. »Der Winter ist unsere Hochsaison. Wenn es immer warm wäre, gäbe es uns nicht mehr.« Das bald in Kraft tretende Rauchverbot jedoch liegt Severin schwer im Magen. Ohne einen Türsteher, der sich gut mit den jungen Leuten verstehe, werde die Nachtruhe der Anrainerinnen und Anrainer wohl kaum zu sichern sein. Mittlerweile, merkt Julia begütigend an, genüge es meist, wenn sie böse schaue: »Sie bemühen sich wirklich, brav zu sein«, versichert sie, und da sie ihn an das Zeitalter des Akku-Schraubers erinnert, lacht Severin lauthals: Während der ersten Wochen sei kein Morgen ohne Reparatur vergangen; heutzutage zücke er bloß allmorgendlich die Fundkiste. Seit einiger Zeit ist für ihn nämlich Tagesdienst angesagt. »Du hast ja jetzt das schönste Kind der ganzen Stadt«, grinst Julia schelmisch, »und das Shot, das ist mein Baby, gell?«
Wo immer man sich auf dieser Welt befinden mag: Das Kaffeehaus ist ein guter Ort, um anzukommen. Nirgendwo sonst wird einem das Alleinsein so leicht gemacht wie im Café. Es darf Platz genommen werden, ohne den Vorwurf eines gegenüberliegenden Gedecks. Die Anwesenheit zahlreicher Periodika nährt zusätzlich den Eindruck, es sei in Ordnung, zu bleiben, zu lesen – nur die Qual der Wahl beim Blick in die Karte bleibt nicht erspart. Außer man hat eine dezidierte Vorliebe. Von der wissen Kellnerinnen ihr eigenes Lied zu singen: Es bedürfe geduldigen Charmes, wolle man Stammgästen neue Geschmacksvarianten oder Kaffeekreationen nahebringen. Doch sollte man mit eigener Vermutung richtig gelegen haben, es ihnen folglich munden, ist sogleich alles wieder beim Alten; und das ehedem Gewagte wird ihnen zur neuen Gewohnheit. Ich gestehe: Ich fühle mich ertappt. Die Kellnerin im »Café Mocca« lacht und empfiehlt mir einen Schuss Mandorla-Sirup zum gewohnten Espresso Doppio. Ja, daran könnte ich mich ob leichter Süße und vollem Mandelaroma durchaus gewöhnen!
Seit über einem Jahrhundert beherbergt das »Mocca« an der Ringstraße die Bohne. 1880 ließ Johann Ploberger das Gebäude im Stil der Gründerzeit errichten, er war einst Betreiber eines Kaffeehauses und zudem auch einer ersten Rösterei in Wels. Die Bohne blieb, bloß die Namen änderten sich – so galt es unter »Markut« in den 1920er-Jahren als ›das‹ Café der Stadt … Verglichen mit seiner langer Historie und seinem heute jungen Interieur, erzählt das »Hoffmann« am Stadtplatz die Geschichte von junger Gründung und altem Stil. Der Zufall wollte es, dass die Chefin des Hauses in einem Linzer Lokal die Arbeiten der »id Werkstatt Traun« entdeckte, und diese mit der Umsetzung ihres Interieur-Wunsches beauftragte, sodass seither unter der Gewölbedecke eine Melange aus Alt-Wiener-Café und Wohnzimmeratmosphäre residiert, in welcher man sich auf Anhieb wohl fühlt.
Mit der lustvollen Wissenschaft der anregenden Bohne, beschäftigen sich im heutigen Wels Peter Zechmeister, für den bei »dunkelhell« der Genuss im Vordergrund steht, und das junge Paar der informativen »Kaffeeothek«. Nach Jahren im Ausland kehrten die beiden Gastronomen zurück, um den Variantenreichtum des Kaffees in Wels in Workshops und Beratung zu fördern. Von einem Cold Brew Tonic ist da die Rede, einem Kaltauszug, der keineswegs wie ›kalter Kaffee‹ schmeckt, vielleicht aber trotzdem schön macht? Oder von einem erfrischenden Eistee, der aus Kaffeekirschen gewonnen wird … Auch »dunkelhell« berät bei sogenannten Cuppings, bei denen die Entdeckerlust gleichfalls genährt wird. Zechmeisters Experimentierfreude zeigt sich außerdem darin, dass er seinen Röster selbst baute, überzeugt, es lohne sich eher, in guten Rohkaffee zu investieren statt in ein Ensemble an Maschinen.
Entgegen allen Unkenrufen zu hiesiger Mentalität wird der Mut dieser innovativen Köpfe durch zahlreichen Kundenbesuch belohnt, und wer es – wie jene beiden Damen, die neben mir die Nasen an die Auslage drückten –, bislang nicht wagte, überzeugt, absolut unerschwinglich sei, was sich in solch urbanem Chic präsentiere, empfehle ich einen Besuch, denn Neues kann stets nur wachsen, wird es aktiv rezipiert.
Den Markt muss man leben, will man diese eigene Gemeinschaft in der Gesellschaft begreifen; oder die Menschen eines Ortes kennenlernen. So erstehen die Welser und Welserinnen laut den Standlerinnen kalkuliert ihren Bedarf. Weder liefen sie tagtäglich um Lebensmittel noch sei umfangreiche Vorratshaltung ihr Ding. ›Auf’s Geld‹ hingegen schaue man erst nach dem 20., wenn immer noch ein Drittel des Monats für alle über sei. Ein Faktum, von dem auch zahlreiche Wirte mir berichteten.
Markt ist nicht gleich Markt, doch allen gemein ist das fröhliche Rufen, das Stimmengewirr der Dialoge, die kleinen Erkundigungen über den Alltag. Wer als Standlerin, ihr Leben verdient, brauche ein feines Gespür für Menschen, denn an der ›Budel‹ handle man eben nicht bloß mit Waren, sondern immer auch ein wenig mit sich selbst, meinte Fleischer-Josefs Frau. Wem das nicht liege, der könne auf diesem Pflaster nicht lange überleben. Es ist wie bei uns Künstlerinnen und Künstler, und solange es nicht zur Dominanz der Person über (oder in) einem unwichtig werdenden Werk führt, kann ich dem durchaus etwas abgewinnen …
Die gleiche Geschichte erzählt mir übrigens auch der Bauernmarkt, dessen hölzerne Buden sich heutzutage rund um einen überdachten Sitzplatz gruppieren. Der neue Ort gefällt nicht jedem Kunden; den Bäuerinnen hingegen schon. Früher sei man direkt am Messegelände im sogenannten Grill-Pavillon gestanden – bis es hineinregnete, was schon mal zum Kurzschluss führte, erzählte Vereinsobfrau Sabine Morocutti. Nein, der Umzug hierher sei absolut nötig gewesen, auch wenn manche solchen Veränderungen skeptisch gegenüberstehen. Doch so sei eben das Leben: ein fortwährender Wandel. Den Baumriesen, der Liegewiese rundum trauere man schon leise nach; aber auch dieses Bäumchen-Rondeau werde wachsen, nimmt Morocutti es gelassen. »Früher war der Bauernmarkt eine Gaudi! Und heute? Wo sind alle hin? Können doch nicht alle tot sein?«, echauffiert sich trotzdem ein älterer Stammkunde.
Ein Paar kommt des Weges, trägt einen Tortensturz vor sich her; Mehlspeisen verschiedener Buden sammeln sich darunter. Drei backe sie jedes Mal, erzählt Frau Lehner vom Bienen-Stand, und wie auch die flaumigen Bauernkrapfen der Vereinsobfrau gehen hausgemachte Mehlspeisen wie die warmen Semmeln; auch die Warteschlange vor dem Bäcker erzählt wortreich von der Sehnsucht nach guter Backware: Weil Gäste erwartet werden, weil das Wochenende nach Süße verlangt oder der Einpersonenhaushalt gegen das eigene Backrohr argumentiere: Wer in aller Welt sollte den Kuchen vor dem Austrocknen aufessen?
Neben Herren und Frau Lehner, ›Neulinge‹ trotz hohen Alters, residiert der älteste Standler. Trotz seiner 85 Jahre sitzt er jede Woche hinter seinem Honig am Markt. Wer, so frage ich mich, wird hier in zehn, fünfzehn Jahren in den Buden stehen, wenn es die Begleitumstände des Alters nicht mehr erlauben? Ja, betagt sind viele, wenigen wird vom Nachwuchs assistiert, manche Buden sind geschlossen. »Auch wir sind Späteinsteiger«, erzählt Frau Lehner. Aus Gesundheitsgründen hatte ihr Mann seine Branche zu verlassen und in Invaliditätspension zu gehen, dem Umzug in eine kleine Gemeinde folgten bald schon die Bienen; denn für das Hände-in-den-Schoß fühlte man sich doch wahrlich noch zu jung, und der Markt verschafft soziale Kontakte: »Einer allein würde die Arbeit nicht schaffen, aber gemeinsam sind wir stark.«
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Lesezirkel zu den soeben erschienen »Kosovarischen Korrekturen«: 22.10.2019, 18:30 Uhr, Stadtbücherei, Wels
5 Uhr morgens: Weder Dunkelheit noch Morgenkühle halten sie vom fröhlichen Grüßen ab, denn Markttag ist, und die Ware hat gut gelaunt präsentiert zu werden, um zu Mittag verkauft zu sein. Die Szenerie ist mir seit dem letzten Jahr vertraut, da ich mit meinem Buchkoffer zur literarischen Nahversorgung meinen Mann von Markt zu Markt begleitete; und die Gesellschaft der Standlerinnen und Standler wahrlich schätzen lernte. »Gemütlich« nennt Doris an der Kaffee-Bude ihre Arbeit. Das frühe Aufstehen störe keineswegs, der Tag erhalte bloß einen anderen Rhythmus. »In Pension gehen? – Sicher nicht!«, solange die Gesundheit irgend mitspiele. Das sei Lebensqualität für sie, ergänzt ihre Zwillingsschwester. Aufgewachsen sind die beiden am Markt, Standlerkinder eben. »Wels ist eine liebe, kleine Stadt. Da redet die Kundschaft sich noch die Probleme von der Seele«, sagt die eine und die andere fügt hinzu: »… und sicher auch mal Blödsinn.« Doch selbst wenn, der sei nicht so wichtig. Viel relevanter sei, dass man hier noch miteinander ins Gespräch komme, der familiäre Charakter des Marktes und die Frische der Ware. Auch die Schwestern kaufen bei den Kolleginnen; die wiederum kommen auf ihren Kaffee herüber, sobald ›ausgelegt‹ sei. Es ist offensichtlich: Man kennt einander, weiß um Geburten wie Todesfälle und das ganze Leben dazwischen: »Die sind mit dir schwanger, und bekommen mit dir die Enkel. Das ist Familie«, sind sich die Damen einig.
Von Zeitungen über Brot, zu Fisch, Ziege und Gemüse; an einem Stand schichtet eine ältere Dame Joghurtgläser ins Kühlregal: Ja, sie stehe regelmäßig am Markt. Zu oft, in den Augen ihres Mannes. »Der könnte dafür Monate mit dem Wohnmobil unterwegs sein, aber da spiel ich ihm nicht mit!« Fröhlich lacht sie, bevor sie hinzu fügt, die Arbeit hier mache ihr ungemein Spaß, denn immer Zuhause sitzen? Das sei auch in ihrem Alter sicherlich nichts!
In wenigen Monaten soll die Markthalle saniert wird, ein Unterfangen, das wahrlich nottue, darin ist man sich einig; hoffentlich denke man im Zuge des Umbaus auch an Sitzoasen, ergänzt eine Kollegin: Für diejenigen, die mal rasch die Schnürsenkel eines Kindes zu binden haben; oder für ältere Kundinnen, die auf Rollator oder Stock angewiesen, ihre Einkäufe erledigen. Als Nahversorger sei man ihnen besonders verpflichtet.
Mir fällt ein etwa 12-jähriges Mädchen auf, das ohne je zu zögern, Pflanzentöpfe aufstellt, Schnittblumen arrangiert, mit der Kabeltrommel fort eilt, um den Stand mit Strom zu versorgen. Ich spreche die ältere Gemüsefrau daneben an. Ja, die Kleine sei ihre Enkelin, dort drüben werke ihre Tochter Inge, »die Chefin«, und im roten Shirt der Enkel: »Allen ziehen an einem Strang.« Denn das Leben spiele eben kein Wunschkonzert, und als ihr Partner überraschend starb, stand sie alleine mit drei kleinen Kindern da: Was tun, sichert der Marktverkauf die Existenz? Also entschied sie sich, den Nachwuchs mitzunehmen; außerdem, die Standler stehen einander bei, sagt Inge. Wie zuvor die Zwillinge und der Imbiss-Richard. Oder des Fleischer-Josefs Frau: »Freud und Leid – ist eben alles in einem Häferl beieinander. Der Markt ist Familie. Und dass auch die Kundschaft dir ihr Leben erzählt? Das ist einfach nur schön!«
Als neugieriger Geist wechsle ich meine Behausungen wie andere die Farben ihrer Garderobe, denn die Welt ist groß und lädt zur Entdeckung ein. Wie die Literatur!
So erforschte ich den Bauch von Paris, den literarischen wie den wahrhaftigen, nachdem ich Wels mit 18 Jahren für Wien – via Linz – verließ, um alsdann eine Weile in der französischen Hauptstadt zu leben. Begab ich mich zur Sorbonne, führte mein Weg an einer Bäckerei vorbei, die mit ihren Düften nach Zitronenkuchen, Schokobrötchen und Marzipancroissants lockte, an Cafés, deren Theken zu Espresso-Genuss im Stehen verführten, an einem winzigen Restaurant mit drei Tischen, welches außer den besten Weinbergschnecken der Stadt auch eine famose Quiche Lorraine kredenzte, während der Fischhändler ums Eck die Luft mit seinem Lachen füllte, das Messer schlitzte schon den Bauch. Spätestens nebenan, im Laden der Käsespezialitäten, die sich – abgeschirmt unter gelber Markise – selbstbewusst präsentierten, dachte ich an den »Bauch von Paris«, den Roman wohlgemerkt. Wieso? Na, der Erfindung der Kühlung wegen!
Émile Zolas olfaktorisches Sammelsurium darin führt nämlich die Käse-Charts der Weltliteratur an: Käselaibe müffeln derart penetrant um die Wette, dass sogar die Fliegen in Ohnmacht fallen – wirklich wahr! Lesen Sie es nach. Aus jeder Zeile dringt der Gestank, von Duft und Genuss kann da keine Rede sein. Bitte argumentieren Sie mir auch nicht, Käse sei per se ohnedies nur ein marginal zu nutzender literarischer Protagonist, besser verspeise man ihn genüsslich; außerdem liege der Hauptfokus in Zolas Roman ohnedies auf den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Einzelhändler und Einzelhändlerinnen; und fügen Sie mir obendrein an, jene Werktätigen würden von der Erfindung der Kühlung ungemein profitieren, stimme ich Ihnen doppelt und dreifach zu. Wer dachte diesen Sommer nicht an frische Brisen, als der Juni bereits August sein wollte?
In jenem Monat war ich übrigens zu Besuch in Wels, des Matura-Treffens wegen. Im Gastgarten des Gösserbräus genossen wohl bloß die Gäste den lauen Abend, während die Kellnerinnen und Kellner die Hitze des eben vergangenen Tages noch unwohl im Körper mit sich herumschleppten, hierhin und dahin eilend, um Getränke kalt zu servieren. Dreißig Jahre seit jener gymnasialen Prüfung – das ist fürwahr eine lange Zeit! Da kommt vieles in den Bauch und will verdaut werden. Meine Mutter jedenfalls nutzte meine überraschende Anwesenheit, um mir eine Bewerbung als Stadtschreiberin ins Ohr zu setzen, und das Haus meiner Schwester in Wels tat seines dazu, hatte ich doch einst knapp fünf Jahre meiner Kindheit dort verbracht, sodass sich die Stadt, aus der ich aufgebrochen war, die sich auffallend verändert hatte, während jener Besuchstage nachhaltig in meine Gedanken schlich: Keiner konnte mir sagen, seit wann es die Milchtrinkhalle der Molkerei Schärdinger nicht mehr gab! In ihr hatte ich mehr oder weniger alle Mittagspausen meiner Oberstufenzeit verbracht, um ewig das Gleiche zu bestellen, Buttersemmel zu Himbeerjoghurt; seltener die Erdbeermilch, welche die (in meiner Erinnerung) rosige, wohlgerundete Dame hinter dem Tresen – kaum war der Hebel gezogen – mit Zischen und Fauchen in das bereitgestellte Glas schießen ließ. Wie viele Werke habe ich ihr gegenüber sitzend gelesen! Den »Bauch von Paris« zum Beispiel. Und erste Gehversuche in Prosa und Lyrik unternommen. Ja, dort, in ebenjener Milchtrinkhalle wanderte mir erstmals die Wahrnehmung einer realen Person in mein Gedicht: Jene stets freundliche Kellnerin, die in meinen Zeilen eine rosa-weiße Schürze trägt und deren Lächeln sich manchmal im Blick hinaus verlor … ›Geschichten aus dem Bauch‹ – was liegt also näher, als den Welserinnen und Welsern dieses Projekt vorzuschlagen? Ja, gerne würde ich ihre Gastronomie porträtieren, ihre Wirtinnen und Kellner, ihre Gäste und Marktfahrerinnen. Und die einstige Milchtrinkhalle nicht vergessen, die für mich bis heute zu Wels gehört!